Urteil vom Finanzgericht Münster - 2 K 1155/19 G,F
Tenor
Die Klage wird abgewiesen.
Die Klägerin trägt die Kosten des Verfahrens.
Die Revision wird nicht zugelassen.
1
T a t b e s t a n d
2Die Beteiligten streiten darüber, ob der Beklagte den Bescheid für 2008 über die einheitliche und gesonderte Feststellung von Einkünften 2008 (Feststellungsbescheid) und den Bescheid für 2008 über den Gewerbesteuermessbetrag (Gewerbesteuermessbescheid) 2008 zu Ungunsten der Klägerin nach § 174 Abgabenordnung (AO) ändern durfte.
3Die Klägerin wurde mit Gesellschaftsvertrag vom xx.xx.2007 als Gesellschaft bürgerlichen Rechts (GbR) gegründet und betrieb einen Handel für Kraftfahrzeuge, Ersatzteile und Waren verschiedener Art. Gesellschafter zu je 50% und Geschäftsführer waren die Herren U und S.
4Für das Streitjahr 2008 gab die Klägerin, die ihren Gewinn nach §§ 4, 5 Einkommensteuergesetz (EStG) ermittelte, ihre Feststellungs- und Gewerbesteuererklärung am 15.01.2010 ab und erklärte darin Einkünfte aus Gewerbebetrieb bzw. einen Gewerbeertrag i.H.v. jeweils 95.345 €.
5Die Erklärungen wurden vom Beklagten (zunächst) erklärungsgemäß übernommen und entsprechend veranlagt im Feststellungsbescheid 2008 vom 17.02.2010 und Gewerbesteuermessbescheid 2008.
6Im Jahr 2011 stellte die Klägerin ihren Betrieb ein. Sie befindet sich in Liquidation. Ihr Liquidator ist Herr U .
7In den Jahren 2013 und 2014 führte der Beklagte für die Umsatzsteuer, gesonderte und einheitliche Feststellung der Besteuerungsgrundlagen und Gewerbesteuer jeweils 2008 bis 2011 bei der Klägerin eine Betriebsprüfung durch. Dabei stellte die Prüferin u.a. für das Streitjahr fest, dass das betriebliche Bankkonto der Klägerin bei der Volksbank E (Kontonummer xxx) nicht in der Buchführung erfasst sei. Zudem stellte sie aufgrund einer Bargeldverkehrsrechnung erhebliche Bargeldfehlbeträge fest. Die fehlenden Bargeldbeträge beträfen die Lebensführung der Gesellschafter der Klägerin i.H.v. 12.000 € bzw. 9.200 €, Bareinzahlungen i.H.v. 225.700 € auf das betriebliche Konto der Klägerin bei der Volksbank E (Kontonummer xxx) sowie i.H.v. 22.200 € auf das Girokonto des Gesellschafter-Geschäftsführers U. Ferner hätten die beiden Gesellschafter der Klägerin im Streitjahr einen Bargeldbetrag i.H.v. insgesamt 70.000 € für die Erbringung von Stammeinlagen für die von ihnen im Jahr 2008 gegründete G & G Immobilien GmbH sowie für dieser Gesellschaft gewährte Darlehensbeträge aufgewendet. Diese Feststellungen würden eine Hinzuschätzung rechtfertigen. Im Rahmen der Schlussbesprechung sei eine Einigung erzielt worden, nach der den bisher erklärten Erlösen ein Betrag von insgesamt 150.000 € (brutto) hinzugeschätzt werde. Dieser Betrag sei gleichmäßig auf die Jahre 2008 bis 2010 zu verteilen, d.h. die jährliche Bruttozuschätzung betrage 50.000 €. Wegen der weiteren Einzelheiten wird auf den Inhalt des Betriebsprüfungsberichts vom 08.12.2014 Bezug genommen.
8Der Beklagte folgte den Feststellungen der Prüferin und erließ in Umsetzung der Feststellungen der Betriebsprüfung am 20.01.2015 einen nach § 173 Abs. 1 Nr. 1 Abgabenordnung (AO) geänderten Feststellungsbescheid 2008, mit dem er die Einkünfte aus Gewerbebetrieb i.H.v. 146.932,12 € feststellte, und am 13.02.2015 einen nach § 35b Abs. 1 Gewerbesteuergesetz (GewStG) geänderten Gewerbesteuermessbescheid 2008, in dem er von einem Gewinn aus Gewerbebetrieb i.H.v. 146.932 € ausging. Der Beklagte erließ ebenfalls geänderte Umsatzsteuerbescheid 2008 bis 2010 und geänderte Feststellungs- und Gewerbesteuermessbescheid 2009, 2010.
9Die Klägerin legte gegen sämtliche Änderungsbescheide Einsprüche ein, die sie hinsichtlich der Änderungsbescheide 2008 am 23.10.2015 wieder zurücknahm. Hinsichtlich der Änderungsbescheide 2009, 2010 trug sie zur Begründung u.a. vor, die Hinzuschätzungen von je 50.000 € (brutto) seien zu Unrecht erfolgt. Für das Streitjahr 2008 festgestellte Bargeldfehlbeträge könnten keine Hinzuschätzungen in den Folgejahren rechtfertigen.
10Der Beklagte stimmte der Einschätzung zu, wies jedoch darauf hin, dass eine antragsgemäße Minderung der Hinzuschätzungen in den Jahren 2009 und 2010 im Einspruchsverfahren eine korrespondierende Erhöhung im Jahr 2008 nach § 174 AO zur Folge hätte. Die Klägerin hielt gleichwohl an ihrem Einspruchsbegehren fest.
11Am 08.09.2016 erließ der Beklagte u.a. antragsgemäß geänderte Feststellungs- und Gewerbesteuermessbescheide 2009 und 2010, in denen er u.a. die Hinzuschätzung aufgrund der Bargelddifferenzen i.H.v. jährlich 50.000 € (brutto) rückgängig machte.
12Ebenfalls am 08.09.2016 erließ der Beklagte, gestützt auf § 174 AO, geänderte Feststellungs- und Gewerbesteuermessbescheide 2008, in denen er den bisher berücksichtigten Hinzuschätzungsbetrag von 50.000 € um weitere 100.000 € (brutto) erhöhte und nunmehr Einkünfte aus Gewerbebetrieb i.H.v. 237.261,54 € feststelle bzw. von einem Gewinn aus Gewerbebetrieb i.H.v. 237.261 € ausging.
13Am 04.10.2016 legte die Klägerin u.a. gegen die geänderten Feststellungs- und Gewerbesteuermessbescheide 2008 Einspruch ein. Zur Begründung trug sie im Wesentlichen vor, die Änderung könne nicht auf § 174 AO gestützt werden. Dessen Voraussetzungen seien nicht erfüllt und zudem sei zum Zeitpunkt der Änderung bereits die Festsetzungsfrist des abgelaufen gewesen.
14Mit Einspruchsentscheidungen jeweils vom 20.03.2019 (Feststellungsbescheid 2008 und Gewerbesteuermessbescheid 2008) wies der Beklagte die Einsprüche als unbegründet zurück. Die Änderung der Feststellungs- und Gewerbesteuermessbescheide 2008 sei nach § 174 AO zulässig gewesen. Die Regelung umfasse auch Fallgestaltungen, in denen die Finanzbehörde aus einem bestimmten Sachverhalt die steuerrechtlichen Folgerungen ziehen wolle, sich dabei aber darüber irre, welchen Zeitraum diese Folgerungen betreffe. Die Prüferin habe sich dahingehend geirrt, dass der sich aus den festgestellten Bargelddifferenzen ergebende Hinzuschätzungsbetrag auf die drei Prüfungsjahre 2008 bis 2010 gleichmäßig verteilt werden könnte. Richtigerweise, wie die Klägerin in ihren Einsprüchen gegen die Änderungsbescheide 2009, 2010 auch zutreffend geltend gemacht habe, könne der Hinzuschätzungsbetrag nur im Jahr der festgestellten Bargeldfehlbeträge berücksichtigt werden. Bei dem Hinzuschätzungsbetrag handele es sich um einen bestimmten Sachverhalt i.S.d. § 174 Abs. 4 Satz 1 AO. Es handele sich insbesondere nicht um eine nachträgliche Änderung der Schätzungsmethode. Der Änderung nach § 174 AO stünde auch keine Festsetzungsverjährung entgegen. Die Jahresfrist gemäß § 174 Abs. 4 Satz 3 AO sei eingehalten worden. Die Änderungsbescheide 2008 seien gleichzeitig mit den Änderungsbescheiden 2009, 2010 erlassen worden. Ein Fall des § 174 Abs. 4 Satz 4 AO liege nicht vor, da die Festsetzungsfrist hinsichtlich der auf Antrag der Klägerin geänderten Bescheide 2009, 2010 zum Zeitpunkt ihres Erlasses am 20.01.2015 bzw. 13.02.2015 noch nicht abgelaufen gewesen sei. Der Ablauf der Festsetzungsfrist sei wegen der vom 10.06.2013 bis 26.09.2014 durchgeführten Betriebsprüfung und der daraufhin geänderten Bescheide gehemmt gewesen.
15Hiergegen hat die Klägerin am 12.04.2019 jeweils Klage (Feststellungsbescheid 2008 = 2 K 1155/19 F; Gewerbesteuermessbescheid = 2 K 1156/19 G) erhoben, mit denen sie ihr Begehren weiter verfolgt.
16Gegen die geänderten Umsatzsteuerbescheide hat die Klägerin ebenfalls ein Klageverfahren geführt (5 K 1160/19 U), in dem die Klage mit Urteil vom 17.06.2021 abgewiesen worden ist. Gegen das Urteil ist Nichtzulassungsbeschwerde eingelegt worden (XI B 67/21).
17Zur Begründung trägt die Klägerin im Wesentlichen vor, die Änderung der Feststellungs- und Gewerbesteuermessbescheide 2008 könne nicht auf § 174 AO gestützt werden. Es fehle bereits an einer irrigen Beurteilung eines bestimmten Sachverhaltes. Der maßgebliche Sachverhalt seien die im Rahmen des Handelsunternehmens erzielten Gewinne, nicht die von der Prüferin geschätzten Gewinne. Insoweit habe die Prüferin nicht geirrt, sondern nur über eine Schätzung auf der Grundlage einer Geldverkehrsrechnung entschieden. Über die der Geldverkehrsrechnung zugrunde gelegten Umstände habe sich die Prüferin auch nicht geirrt. Der Beklagte habe sich auch nicht geirrt, sondern die getroffenen Feststellungen den geänderten Bescheide vom 20.01.2015 bzw. 13.02.2015 zugrunde gelegt. Dem Beklagten sei schlicht ein Rechtsanwendungsfehler unterlaufen. Diese Rechtsauffassung werde auch durch das BFH-Urteil vom 26.02.2002, X R 59/98, bestätigt. Wenn überhaupt, dann habe sich der Beklagte nur im Hinblick auf die Bescheide 2009, 2010 in einem Irrtum befunden, nicht aber bei Erlass des vom Beklagten mit dem angefochtenen Änderungsbescheiden geänderten Feststellungsbescheid 2008 und Gewerbesteuermessbescheid 2008.
18Der Senat hat mit Beschluss vom 02.06.2021 die Verfahren 2 K 1155/19 F und 2 K 1156/19 G zur gemeinsamen Verhandlung und Entscheidung verbunden.
19Die Klägerin beantragt,
20den geänderten Bescheid für 2008 über die einheitliche und gesonderte Feststellung von Einkünften 2008 und den geänderten Bescheid für 2008 über den Gewerbesteuermessbetrag jeweils vom 08.09.2016 und jeweils in Gestalt der Einspruchsentscheidung vom 20.03.2019 aufzuheben,
21hilfsweise, die Revision zuzulassen.
22Der Beklagte beantragt,
23die Klage abzuweisen.
24Er nimmt zur Begründung Bezug auf den Inhalt seiner Einspruchsentscheidung.
25Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird auf die zwischen den Beteiligten gewechselten Schriftsätze und die Verwaltungsvorgänge des Beklagten Bezug genommen.
26Der Senat hat am 14.09.2021 eine mündliche Verhandlung durchgeführt, auf deren Protokoll Bezug genommen wird.
27Die Gerichtsakten in den Verfahren 5 K 1160/19 U und 2 K 1156/19 G sind beigezogen worden.
28E n t s c h e i d u n g s g r ü n d e
29I. Die Klage hat keinen Erfolg.
30Der geänderte Bescheid über die einheitliche und gesonderte Feststellung von Einkünften 2008 und der geänderte Bescheid über den Gewerbesteuermessbetrag 2008 jeweils vom 08.09.2016 und jeweils in Gestalt der Einspruchsentscheidung vom 20.03.2019 sind rechtmäßig und verletzen die Klägerin nicht in ihren Rechten (§ 100 Abs. 1 Satz 1 Finanzgerichtsordnung, FGO). Der Beklagte hat diese Bescheide zu Recht gemäß § 174 Abs. 4 AO geändert.
311. Ist auf Grund irriger Beurteilung eines bestimmten Sachverhalts ein Steuerbescheid ergangen, der auf Grund eines Rechtsbehelfs oder sonst auf Antrag des Steuerpflichtigen durch die Finanzbehörde zu seinen Gunsten geändert wird, können gemäß § 174 Abs. 4 Satz 1 AO aus dem Sachverhalt nachträglich durch Erlass oder Änderung eines Steuerbescheids die richtigen steuerlichen Folgerungen gezogen werden.
322. Die Voraussetzungen des § 174 Abs. 4 Satz 1 AO liegen im Hinblick auf die streitgegenständlichen geänderten Feststellungs- und Gewerbesteuermessbescheide 2008 vor.
33a. Sowohl den Feststellungs- und Gewerbesteuermessbescheiden 2009, 2010 als auch den Feststellungs- und Gewerbesteuermessbescheiden 2008 lag derselbe bestimmte Sachverhalt i.S.d. § 174 Abs. 4 Satz 1 AO zugrunde. Die vom Beklagten hinzugeschätzten (Bar-)Einnahmen stellen einen Sachverhalt i.S.d. § 174 AO dar.
34aa. Ein bestimmter Sachverhalt in diesem Sinne ist jeder einzelne Lebensvorgang, an den das Gesetz steuerliche Folgen knüpft (vgl. Loose, in Tipke/Kruse, AO/FGO, § 174 AO Rn. 5 m.w.N.; von Wedelstädt, in Gosch, AO/FGO, § 174 AO Rn. 15). Erfasst werden nicht nur einzelne steuererhebliche Tatsachen, sondern der einheitliche, für die Besteuerung maßgebliche Sachverhaltskomplex (vgl. BFH, Urteil vom 21.09.2016 V R 24/15, juris, Rn. 23, m.w.N.). Der dem geänderten sowie der dem zu ändernden Steuerbescheid zugrunde liegende Sachverhalt muss übereinstimmen. Eine vollständige Identität ist jedoch nicht erforderlich (vgl. BFH, Beschluss vom 19.11.2003 I R 41/02, juris, Rn. 15; Urteil vom 25.01.2017 X R 45/14, juris, Rn. 34). Je nach den Erfordernissen des jeweiligen steuerlichen Tatbestandes kann eine teilweise Deckungsgleichheit genügen (vgl. BFH, Urteil vom 19.08.2015 X R 50/13, juris, Rn. 21, m.w.N.).
35Voraussetzung für eine Änderung nach § 174 Abs. 4 AO ist, dass der Gegenstand der irrigen Beurteilung ausschließlich der Seinswelt angehört, d.h. es muss sich um einen Zustand, einen Vorgang, eine Beziehung, bzw. eine Eigenschaft materieller oder immaterieller Art handeln, der seinerseits Merkmal oder Teilstück eines gesetzlichen Tatbestandes ist (vgl. BFH, Urteil vom 26.02.2002 X R 59/98, juris, Rn. 27). Es können danach auch Schätzungsbescheide unter § 174 AO fallen, wenn bei Schätzungen die ihnen zu Grunde gelegten Schätzungsgrundlagen den Sachverhaltsbegriff erfüllen, d.h. konkrete Einzelsachverhalte enthalten (Senatsurteil vom 28.05.2019, 2 K 2271/17 juris, Rn. 51; von Wedelstädt, in Gosch, AO/FGO, § 174 AO Rn. 20).
36bb. Grundlage der geänderten Feststellungs- und Gewerbesteuermessbescheide 2009, 2010 ist der sich auf der Grundlage der festgestellten Bargeldfehlbeträge ergebende Hinzuschätzungsbetrag gewesen. Im Wege der Hinzuschätzung wurden von der Klägerin erzielte, aber nicht erklärte steuerpflichtige (Bar-)Einnahmen nachträglich berücksichtigt.
37Bei den Feststellungs- und Gewerbesteuermessbescheiden 2008, 2009 2010 handelt es sich bereits nicht um Schätzungsbescheide. Die Hinzuschätzung bezieht sich auf die nicht mehr mit der nötigen Gewissheit (§ 162 Abs. 1 AO) zu ermittelnde Höhe der (Bar)-Einnahmen, die die Klägerin erzielt hat, ohne sie gegenüber dem beklagten Finanzamt zu erklären. Die hinzugeschätzten (Bar)-Einnahmen betreffen konkrete Einzelsachverhalte, nämlich die jeweilige Erwirtschaftung einkommensteuerpflichtiger Einnahmen.
38c) Die Feststellungs- und Gewerbesteuermessbescheide 2009, 2010 ergingen auch aufgrund einer irrigen Beurteilung der hinzugeschätzten (Bar)-Einnahmen.
39Eine irrige Beurteilung eines bestimmten Sachverhalts liegt vor, wenn die Finanzbehörde aus einem bestimmten Sachverhalt steuerrechtliche Folgerungen gezogen hat, die sich nachträglich als unzutreffend erweisen (vgl. von Wedelstädt, in Gosch, AO/FGO, § 174 AO Rn. 95). Ob der für die irrige Beurteilung ursächliche Fehler im Tatsächlichen oder im Rechtlichen liegt, ob es sich um Rechts- oder Tatsachenfehler handelt oder ob eine mögliche Rechtsfolge übersehen wurde, ist unerheblich (Senatsurteil vom 28.05.2019, 2 K 2271/17 juris, Rn. 55; von Wedelstädt, a.a.O.).
40Die Prüferin und ihm folgend der Beklagte gingen bei Erlass der Feststellungs- und Gewerbesteuermessbescheiden 2009, 2010 davon aus, dass zwei Drittel (100.000 €) der nicht erklärten und hinzuzuschätzenden (Bar)-Einnahmen steuerlich je zur Hälfte (je 50.000 €) den Veranlagungszeiträumen 2009 und 2010 zuzurechnen seien. Allerdings betraf der Hinzuschätzungsbetrag ausschließlich (Bar)-Einnahmen, die bereits in 2008 erwirtschaftet worden waren. Allein in diesem Jahr konnten entsprechende Bargeldfehlbeträge im Hinblick auf die von der Klägerin erzielten Einnahmen festgestellt werden.
41Diese irrige zeitliche Zuordnung erwirtschafteter (Bar)-Einnahmen in geschätzter Höhe war Grundlage für die geänderten Feststellungs- und Gewerbesteuermessbescheide 2009, 2010 vom 20.01.2015 bzw. 13.02.2015. Die irrige Beurteilung betraf hingegen nicht, wie die Klägerin meint, die Höhe der Schätzung der nicht erklärten (Bar)-Einnahmen. Diese blieb mit einer Gesamthöhe aufgrund der festgestellten Bargeldfehlbeträge von 150.000 € unverändert.
42Der Vortrag des Gesellschafters und Liquidators der Klägerin, Herr U , in der mündlichen Verhandlung in dem abgeschlossenen Klageverfahren 5 K 1160/19 U führt zu keinem abweichenden Ergebnis. Danach habe der an der Schlussbesprechung teilnehmende Sachgebietsleiter des Beklagten den Vorschlag gemacht, den von der Prüferin für 2008 festgestellten Betrag an nicht erklärten Umsätzen (hier: Bareinnahmen) i.H.v. 150.000 € zur Minderung der Steuer- bzw. Zinsbelastung der Klägerin bzw. ihrer Gesellschafter dahingehend aufzuteilen, dass in den Jahren 2008 bis 2010 jeweils ein Betrag von 50.000 € umsatzerhöhend (hier: einkünfteerhöhend) berücksichtigt wird. Der Irrtum, dem danach sowohl der Sachgebietsleiter, die Prüferin und der Beklagte gemeinsam unterlagen, war, wie oben ausgeführt, die Annahme, diese Aufteilung sei zulässig. Denn die tatsächlich unzulässige teilweise Verschiebung von nicht erklärten, im Besteuerungsjahr 2008 erzielten (Bar-)Einnahmen in die nachfolgenden Besteuerungsjahre 2009, 2010 hat aber gerade zur Rechtswidrigkeit der Feststellungs- und Gewerbesteuermessbescheide 2009, 2010 vom 20.01.2015 bzw. 13.02.2015 und zur späteren Aufhebung infolge des von der Klägerin erhobenen Einspruchs geführt. Der den Anwendungsbereich des § 174 AO eröffnende Irrtum hat daher nicht darin bestanden, dass die Prüferin die Aufteilung unbewusst oder nur versehentlich vorgenommen hat. Vor diesem Hintergrund hat der Klägervortrag als wahr unterstellt werden können und es hat keiner Vernehmung der von der Klägerin für die Richtigkeit des Vortrags benannten Zeugen bedurft.
43Umstände, aus denen sich ein vorsätzlich, d.h. nicht irriges Verhalten der Prüferin oder des Beklagten ergibt sind weder hinreichend qualifiziert vorgetragen worden noch aus den dem Gericht vorliegenden Akten ersichtlich. Es sind keine Anhaltspunkte dafür ersichtlich, dass die Prüferin oder der Beklagte vorsätzlich gegen Rechtsvorschriften verstoßen hat oder wollte, indem die (Bar-)Einnahmen anteilig auf die Jahre 2008 bis 2010 verteilt worden sind.
44d) Die irrige Zuordnung von 2/3 der hinzugeschätzten (Bar)-Einnahmen zu den Besteuerungszeiträumen 2009 und 2010 wurde im Hinblick auf den von der Klägerin gegen die nach der Betriebsprüfung erlassenen Feststellungs- und Gewerbesteuermessbescheiden vom 20.01.2015 bzw. 13.02.2015 eingelegten Einspruch geändert, wie es § 174 Abs. 4 Satz 1 AO erfordert.
45Die Klägerin hat ihren Einspruch mit Hinweis auf die irrige Zuordnung begründet, indem sie zutreffend meinte, dass die Hinzuschätzung von in 2008 nicht erklärten (Bar)-Einnahmen nicht einfach anteilig in die Folgejahre 2009 und 2010 verschoben werden könne. Der Beklagte folgte dieser Argumentation und minderte jeweils hinzugeschätzten (Bar)-Einnahmen um Bruttobeträge i.H.v. jeweils 50.000 € mit Änderungsbescheiden vom 08.09.2016.
46Anders als in dem von der Klägerin angeführten BFH-Urteil vom 26.02.2002 (X R 59/98, BStBl II 2002, 450) erfolgte die Änderung der Feststellungs- und Gewerbesteuermessbescheide 2009 und 2010 im Einspruchsverfahren nicht, weil der Beklagte seine Schätzungsmethode geändert hat. Grundlage der Schätzung der insgesamt nicht erklärten (Bar)-Einnahmen waren weiterhin die in 2008 festgestellten Bargeldfehlbeträge. Nur die sich an die Schätzung anschließende Zuordnung zu den verschiedenen Besteuerungszeiträumen wurde wegen der zuvor irrigen Beurteilung geändert.
472. Zwar war bei Erlass der angefochtenen geänderten Feststellungs- und Gewerbesteuermessbescheide 2008 am 08.09.2016 für diese die reguläre Festsetzungsfrist nach § 169 Abs. 2 Nr. 2 AO von vier Jahren auch unter Berücksichtigung der Hemmung nach § 171 Abs. 4 AO aufgrund der durchgeführten Betriebsprüfung mitsamt der Rücknahme der Einsprüche gegen die Feststellungs- und Gewerbesteuermessbescheide 2008 am 23.10.2015 bereits abgelaufen.
48Jedoch ist der Ablauf der Festsetzungsfrist nach § 174 Abs. 4 Satz 3 AO unbeachtlich, wenn die steuerlichen Folgerungen innerhalb eines Jahres nach Aufhebung oder Änderung des fehlerhaften Steuerbescheids gezogen werden. Die Jahresfrist wurde vom Beklagten gewahrt, indem er am 08.09.2016 sowohl die fehlerhaften Feststellungs- und Gewerbesteuermessbescheide 2009, 2010 als auch die Feststellungs- und Gewerbesteuermessbescheide 2008 geändert hat.
493. Auf das Vorliegen der engeren Voraussetzungen des § 174 Abs. 4 Satz 4 i.V.m. Abs. 3 Satz 1 AO kommt es nicht an, denn im Zeitpunkt des Erlasses der Bescheide für 2009 und 2010 am 20.01.2015 bzw. 13.02.2015 ist die Festsetzungsfrist für die Feststellungs- und Gewerbesteuermessbescheide 2008 noch nicht abgelaufen gewesen.
50§ 174 Abs. 3 Satz 1 AO ist nur dann abwendbar, wenn die Festsetzungsfrist für den Erlass oder die Änderung des Steuerbescheides (für 2008) bereits abgelaufen gewesen ist, als der später aufgehobene oder geänderte Steuerbescheid (für 2009 und 2010) erlassen wurde.
51Wie der Beklagte in seiner Einspruchsentscheidung zutreffend ausführt, ist bei Erlass der später auf Antrag der Klägerin wieder geänderten Feststellungs- und Gewerbesteuermessbescheide 2009, 2010 vom 20.01.2015 bzw. 13.02.2015 für die Feststellungs- und Gewerbesteuermessbescheide 2008 die Festsetzungsfrist noch nicht abgelaufen gewesen.
52Zwar endete die reguläre Festsetzungsfrist mit Ablauf des 31.12.2014, da die Klägerin ihre Steuererklärungen für 2008 im Kalenderjahr 2010 beim Beklagten eingereicht hatte (§ 169 Abs. 2 Nr. 2, § 170 Abs. 2 Nr. 1 AO). Jedoch war der Ablauf der Festsetzungsfrist wegen der u.a. für die gesonderte und einheitliche Feststellung von Besteuerungsgrundlagen und den Gewerbesteuermessbetrag 2008 durchgeführten Betriebsprüfung nach § 171 Abs. 4 AO gehemmt. Wird vor Ablauf der Festsetzungsfrist mit einer Außenprüfung begonnen, so läuft danach die Festsetzungsfrist für die Steuern, auf die sich die Außenprüfung erstreckt, nicht ab, bevor die auf Grund der Außenprüfung zu erlassenden Steuerbescheide unanfechtbar geworden sind.
53Mit der Betriebsprüfung, die sich nach der Prüfungsankündigung vom 17.05.2013 auch auf die gesonderte und einheitliche Feststellung von Besteuerungsgrundlagen und den Gewerbesteuermessbetrag 2008 erstreckte, wurde vor Ablauf der Festsetzungsverjährung am 10.06.2013 begonnen. Aufgrund der Außenprüfung hat der Beklagte für die gesonderte und einheitliche Feststellung von Besteuerungsgrundlagen und Gewerbesteuermessbetrag 2008 am 20.01.2015 bzw. 13.02.2015 einen Änderungsbescheid erlassen, welcher zunächst von der Klägerin mit Einspruch vom 12.02.2015 bzw. 25.02.2015 angefochten wurde. Erst mit Rücknahme ihres Einspruchs am 23.10.2015 ist der Feststellungs- und Gewerbesteuermessbescheide 2008 vom 20.01.2015 bzw. 13.02.2015 unanfechtbar geworden. Zu diesem Zeitpunkt hatte der Beklagte jedoch die später auf Antrag der Klägerin wieder geänderten Feststellungs- und Gewerbesteuermessbescheide 2009, 2010 bereits erlassen, und zwar am 20.01.2015.
544. Einwendungen gegen die Höhe der ermittelten hinzugeschätzten Mehreinnahmen sind von den Kläger nicht vorgetragen worden. Jedenfalls sind die Einnahmen der Klägerin im Streitjahr zu Recht im Wege der Schätzung um einen Betrag i.H.v. 150.000 € erhöht worden. Die Voraussetzungen des § 162 Abs. 1 AO i.V.m. § 96 Abs. 1 FGO liegen vor.
55Unter Bezugnahme auf die Feststellungen der Betriebsprüfung, die das Gericht teilt und gegen die keine Einwendungen erhoben worden sind, kann die Buchführung des Klägers im Streitzeitraum nicht nach § 158 AO der Besteuerung zugrunde gelegt werden. Die Buchführung erfüllt nicht die Anforderungen der §§ 145 ff. AO, zu deren Einhaltung der Kläger als Gewerbetreibender verpflichtet gewesen ist, weist mithin erhebliche formelle Mängel auf, die ihre sachliche Richtigkeit infrage stellen. Das betriebliche Bankkonto der Klägerin bei der Volksbank E (Kontonummer xxx) ist nicht in der Buchführung erfasst. Allein dieser Mängel, aufgrund dem es systembedingt keine Gewähr mehr für die Vollständigkeit der Erfassung der Betriebseinnahmen gibt, erschwert die Nachprüfbarkeit der Buchführung erheblich und geben Anlass, die sachliche Richtigkeit des Buchführungsergebnisses anzuzweifeln.
56Der Höhe nach übernimmt der erkennende Senat im Rahmen seiner eigenen Schätzungsbefugnis (§ 96 Abs. 1 FGO i.V.m. § 162 AO) die seitens des Beklagten durchgeführte Schätzung anhand einer Bargeldverkehrsrechnung, gegen die keine durchgreifenden Einwendungen vorgetragen worden sind, als eigene. Allein auf dem betrieblichen Bankkonto der Klägerin bei der Volksbank E (Kontonummer xxx) sind ungeklärte Bargeldzugänge i.H.v. 225.000 € € zu verzeichnen. Bei solchen ungeklärten Vermögenszuwächsen aus dem Privatvermögen in das Betriebsvermögen ist der Rückschluss zulässig, dass diese auf nicht versteuerten Einnahmen beruhen.
57II. Die Kostenentscheidung beruht auf § 135 Abs. 1 FGO.
58III. Die Revision war mangels Zulassungsgründe nach § 115 Abs. 2 FGO nicht zuzulassen. Es handelt sich um die Anwendung feststehender Rechtsgrundsätze auf den Einzelfall und die Bedeutung der Rechtssache erschöpft sich in der Entscheidung des vorliegenden Einzelfalls.
59… … …
Verwandte Urteile
Keine verwandten Inhalte vorhanden.
Referenzen
- § 174 Abs. 4 Satz 3 AO 1x (nicht zugeordnet)
- 2015 X R 50/13 1x (nicht zugeordnet)
- § 170 Abs. 2 Nr. 1 AO 1x (nicht zugeordnet)
- X R 59/98 2x (nicht zugeordnet)
- 5 K 1160/19 3x (nicht zugeordnet)
- 2 K 2271/17 2x (nicht zugeordnet)
- § 158 AO 1x (nicht zugeordnet)
- FGO § 115 1x
- § 162 AO 1x (nicht zugeordnet)
- § 174 Abs. 3 Satz 1 AO 1x (nicht zugeordnet)
- § 174 AO 9x (nicht zugeordnet)
- 2 K 1156/19 3x (nicht zugeordnet)
- FGO § 96 2x
- 2017 X R 45/14 1x (nicht zugeordnet)
- XI B 67/21 1x (nicht zugeordnet)
- § 174 Abs. 4 Satz 4 i.V.m. Abs. 3 Satz 1 AO 1x (nicht zugeordnet)
- § 162 Abs. 1 AO 2x (nicht zugeordnet)
- § 171 Abs. 4 AO 2x (nicht zugeordnet)
- 2003 I R 41/02 1x (nicht zugeordnet)
- 2016 V R 24/15 1x (nicht zugeordnet)
- § 174 Abs. 4 Satz 1 AO 1x (nicht zugeordnet)
- 2 K 1155/19 2x (nicht zugeordnet)
- § 169 Abs. 2 Nr. 2 AO 1x (nicht zugeordnet)
- § 174 Abs. 4 Satz 1 AO 4x (nicht zugeordnet)
- 2002 X R 59/98 1x (nicht zugeordnet)
- FGO § 135 1x
- § 174 Abs. 4 AO 2x (nicht zugeordnet)
- § 174 Abs. 4 Satz 4 AO 1x (nicht zugeordnet)