Urteil vom Finanzgericht Münster - 11 K 2270/18 AO
Tenor
Der Bescheid der Beklagten vom 13.03.2018 und die Einspruchsentscheidung vom 14.06.2018 werden aufgehoben.
Im Übrigen wird die Klage abgewiesen.
Die Kosten des Verfahrens tragen der Kläger und die Beklagte zu jeweils 50 %.
Das Urteil ist wegen der Kosten ohne Sicherheitsleistung vorläufig vollstreckbar. Die Beklagte kann die Vollstreckung durch Sicherheitsleistung oder Hinterlegung in Höhe des jeweils zu vollstreckenden Betrages abwenden, soweit nicht der Kläger zuvor Sicherheit in Höhe des vollstreckbaren Betrages leistet.
Die Revision wird zugelassen.
1
Tatbestand
2Die Beteiligten streiten um den Erlass einer Kindergeldrückforderung.
3Der am 15.06.1973 geborene Kläger ist wegen körperlicher, geistiger oder seelischer Behinderung außerstande, sich selbst zu unterhalten, wobei diese Behinderung vor Vollendung seines 25 Lebensjahres eingetreten ist (§ 32 Abs. 4 Nr. 3 des Einkommensteuergesetzes –EStG-). Er bezog (auch) im Zeitraum von September 2013 bis einschließlich Januar 2017 aus dem Kindergeldanspruch seines am 29.08.2013 verstorbenen Vaters im Wege der Abzweigung nach § 74 EStG Kindergeld in Höhe von insgesamt 7.640,00 €.
4Die Abzweigung des Kindergeldes an sich selbst hatte der Kläger durch Antrag vom 10.12.2002 (Bl. 78 der beigezogenen Kindergeldakte) beantragt. In der Folge zweigte die für die Bewilligung von Kindergeld zu diesem Zeitpunkt zuständige Familienkasse C das dem Vater des Klägers zustehende Kindergeld an den Kläger ab und informierte den Kläger durch Schreiben vom 23.12.2002 (Bl. 86 der Kindergeldakte) darüber, dass er verpflichtet sei, etwaige Änderungen der bisherigen Verhältnisse, die für die Auszahlung des Kindergeldes von Bedeutung seien, ihr gegenüber mitzuteilen. In der Folge beantwortete der Kläger die Kindergeldgewährung betreffenden Anfragen der Familienkasse sowohl schriftlich als auch durch persönliche Vorsprache. Eine Mitteilung des Klägers über den Tod seines Vaters ist in der beigezogenen Kindergeldakte nicht aktenkundig.
5Nachdem die inzwischen im Hinblick auf die Kindergeldzahlungen für den Kläger zuständig gewordene Familienkasse Nordrhein-Westfalen A Kenntnis von dem Tod des Vaters des Klägers erlangt hatte, teilte sie dem Kläger durch Bescheid vom 17.05.2017 (Bl. 213 ff. der beigezogenen Kindergeldakte) mit, dass die Zahlung der vorgenannten Beträge aus der Abzweigung von Kindergeld ohne Rechtsgrund erfolgt sei und forderte ihn zur Erstattung des zu viel gezahlten Betrages i.H.v. 7.640,00 € nach § 37 Abs. 2 der Abgabenordnung (AO) auf. Den hiergegen gerichteten Einspruch des Klägers wies die Familienkasse Nordrhein-Westfalen A durch Einspruchsentscheidung vom 25.07.2017 (Bl. 221 der beigezogenen Kindergeldakte) als unbegründet zurück.
6Nachdem der Kläger zur Zahlung von 7.716,00 € (7.640,00 € Rückforderung von Kindergeld und 76,00 € Säumniszuschläge bis zum 06.07.2017) aufgefordert war,stellte der Kläger durch Schriftsatz vom 08.06.2017 einen Antrag auf Erlass aus Billigkeitsgründen nach § 227 AO mit dem Hinweis darauf gestellt, dass er Leistungen nach dem Sozialgesetzbuch Zwölftes Buch (SGB XII) bezogen habe.
7Durch Bescheid vom 13.03.2018 lehnte die Beklagte, die in der Folge die Vollstreckung des Rückforderungsbescheides und Bearbeitung des auf Erlass des Rückforderungsbetrages gerichteten Antrages des Klägers übernommen hatte, den Antrag des Klägers auf Erlass der Forderung i.H.v. 7.716,00 € bezüglich einer Teilforderung i.H.v. 7.532,00 € ab und erließ eine Teilforderung i.H.v. 184,00 € aufgrund sachlicher Unbilligkeit, weil die Überzahlung für den ersten Monat - auch bei rechtzeitiger Mitwirkung des Klägers – nicht vermeidbar gewesen sei.
8Den hiergegen gerichteten Einspruch des Klägers wies die Familienkasse Nordrhein-Westfalen B durch Einspruchsentscheidung vom 14.06.2018 als unbegründet zurück.
9Hiergegen hat der Kläger die vorliegende Klage erhoben, zu deren Begründung er ausführt, die Beklagte habe den Erlassantrag zu Unrecht abgelehnt. Er, der Kläger, leide unter erheblichen intellektuellen und psychischen Einschränkungen, weshalb ihm das Kindergeld über das 25. Lebensjahr hinaus gewährt worden sei. Die mit seiner Erkrankung verbundenen Einschränkungen seien bei der Beurteilung des Vorliegens der Voraussetzungen für einen Erlass aus sachlichen Billigkeitsgründen zu berücksichtigen. Im Übrigen lägen auch die Voraussetzungen für einen Erlass wegen persönlicher Unbilligkeit vor, da er von Grundsicherungsleistungen nach dem SGB XII lebe. Der seitens der Beklagten geforderte Rückzahlungsbetrag könne nicht abbezahlt werden. Eine Rückzahlung in Kleinst-Raten scheide aus, da diese nicht einmal zur Abdeckung der Zinsen bzw. Säumniszuschläge ausreichten. Der Hinweis der Beklagten in der Einspruchsentscheidung auf die Pfändungsfreigrenze könne nicht nachvollzogen werden, da – würde dieser Hinweis verfangen – ein Erlass aus persönlichen und Billigkeitsgründen stets ausscheiden würde. Durch Schriftsatz vom 24.08.2018 (Bl. 39 ff. der Gerichtsakten) hat der Klägereine ärztliche Bescheinigung des ... Klinikums ... vom 16.07.2018 zur Gerichtsakte überreicht, nach welcher er neben einer Suchterkrankung unter einer posttraumatischen Belastungsstörung leidet. Darüber hinaus hat er eine ärztliche Bescheinigung der Fachärztin für Allgemeinmedizin G vom 16.08.2018 zur Gerichtsakte überreicht, nach welcher er u.a. an einer posttraumatischen Belastungsstörung, Opiatabhängigkeit (substituiert), nicht intravenösen Konsum von Heroin, Oligophrenie und einer hirnorganischen Wesensänderung leide. Auf den Inhalt beider Bescheinigungen wird Bezug genommen.
10Der Kläger beantragt (sinngemäß),
11die Beklagte unter Änderung des Bescheids vom 13.03.2018 in der Gestalt der Einspruchsentscheidung vom 14.06.2018 zu verpflichten, die Rückforderung von Kindergeld aus dem Rückforderungsbescheid vom 17.05.2017 einschließlich Säumniszuschlägen in voller Höhe zu erlassen.
12Die Beklagte beantragt,
13die Klage abzuweisen,
14hilfsweise, die Revision zuzulassen.
15Sie vertritt die Auffassung, die Voraussetzungen für einen Erlass lägen nicht vor, und nimmt insoweit Bezug auf die in der Einspruchsentscheidung enthaltenen Erwägungen.
16Hinsichtlich der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird auf die gewechselten Schriftsätze der Beteiligten sowie den Inhalt der beigezogenen Verwaltungsvorgänge der Beklagten und der Gerichtsakte Bezug genommen.
17Die Beteiligten haben sich übereinstimmend mit einer Entscheidung des Senats ohne mündliche Verhandlung nach § 90 Abs. 2 der Finanzgerichtsordnung (FGO) einverstanden erklärt.
18Entscheidungsgründe
19I. Der Senat entscheidet im Einverständnis der Beteiligten gemäß § 90 Abs. 2 FGO ohne mündliche Verhandlung.
20II. Die Klage ist dahin auszulegen, dass sie sich gegen die Agentur für Arbeit S Inkasso-Service als Beklagte richtet.
21Dass der Kläger in seiner Klageschrift die Familienkasse Nordrhein-Westfalen B als Beklagte bezeichnet hat, steht dem nicht entgegen, denn die Klageerhebung als Prozesshandlung ist im Zweifel gemäß §§ 133, 157 des Bürgerlichen Gesetzbuches (BGB) auszulegen. Eine solche Auslegung hat im Einklang mit Art. 19 Abs. 4 des Grundgesetzes (GG) rechtsschutzgewährend zu erfolgen. Dabei ist davon auszugehen, dass ein Kläger eine zulässige Klage gegen die richtige Beklagte erheben wollte; dies ist hier die Agentur für Arbeit Inkasso-Service.
22Nach § 63 Abs. 1 Nr. 2 FGO ist die Klage gegen diejenige Behörde zu richten, die – wie vorliegend die Beklagte – den beantragten Verwaltungsakt ursprünglich abgelehnt hat. Aus der Bezugnahme auf den „ursprünglichen“ Verwaltungsakt folgt, dass nur die Ausgangsbehörde und nicht die Rechtsmittelbehörde Beklagte i.S.d. § 63 Abs. 1 Nr. 2 FGO sein soll (BFH-Urteil vom 25.02.2021 III R 36/19, BStBl. II 2021, S. 712, Schallmoser in Hübschmann/Hepp/Spitaler, § 63 FGO Rz. 20). Etwas anderes gilt nach § 63 Abs. 2 Nr. 1 FGO, sofern vor Erlass der Einspruchsentscheidung eine andere als die ursprünglich zuständige Behörde für den Steuerfall örtlich zuständig geworden ist; in diesem Fall ist die Klage gegen die Behörde, die die Einspruchsentscheidung erlassen hat, zu richten
23Hiervon ausgehend ist die Klage gegen die Agentur für Arbeit S – Inkasso-Service – als Beklagte zu richten, da sie diejenige Behörde ist, die den beantragten Verwaltungsakt abgelehnt hat (§ 63 Abs. 1 Nr. 2 FGO). Ein Fall des § 63 Abs. 2 Nr. 1 FGO liegt im Streitfall nicht vor, da ein Wechsel der örtlichen Zuständigkeit vor dem Erlass der Einspruchsentscheidung nicht erfolgt ist. Aber auch ein Wechsel der sachlichen Zuständigkeit hat nach dem Erlass des ablehnenden Bescheides vom 13.03.2018 nicht stattgefunden. Insoweit scheidet auch eine analoge Anwendung des § 63 Abs. 2 Nr. 1 FGO aus. Vielmehr wurden nach den Vorstandsbeschlüssen der Bundesagentur für Arbeit vom 18.04.2013 (21/2013, Amtliche Nachrichten der Bundesagentur für Arbeit, Monatsheft Mai 2013, Tz. 2.3) und vom 14.04.2016 (15/2016, Amtliche Nachrichten der Bundesagentur für Arbeit, Monatsheft Mai 2016, Tz. 2.4) von vornherein die Ausgangsentscheidung und die Einspruchsentscheidung von zwei verschiedenen Behörden getroffen. In einer solchen Konstellation bleibt die Ausgangsbehörde, die den Rechtsbehelf veranlasst hat, (vorliegend die Beklagte) passiv prozessführungsbefugt (vgl. BFH-Urteil vom 25.02.2021 III R 36/19, BStBl. II 2021, S. 712, Schallmoser in Hübschmann/Hepp/Spitaler, § 63 FGO Rz. 20; so auch Finanzgericht (FG) Münster, Urteile vom 21.12.2021 1 K 3188/18 Kg, 1 K 2235/18 Kg, 1 K 194/20 Kg, jeweils juris). Der erkennende Senat folgt insoweit nicht der Gegenansicht des FG Düsseldorf (Urteile vom 14.06.2021 9 K 2976/20 und vom 28.09.2021 9 K 465/21, juris), wonach in Fällen, in denen die Ausgangsentscheidung von der sachlich unzuständigen, die Einspruchsentscheidung dagegen von der sachlich zuständigen Behörde gefällt wird, § 63 Abs. 2 Nr. 1 FGO analog anzuwenden sein soll.
24III. Die Klage ist zulässig, aber nur teilweise begründet. Der Ablehnungsbescheid vom 13.03.2018 und die Einspruchsentscheidung vom 14.06.2018 sind rechtswidrig und verletzen den Kläger in seinen Rechten (§ 101 Satz 1 FGO), soweit der Ablehnungsbescheid von einer sachlich unzuständigen Behörde erlassen wurde - hierzu 1.-. Soweit der Kläger beantragt, die Beklagte zu verpflichten, die Rückforderung von Kindergeld aus dem Rückforderungsbescheid vom 17.05.2017 einschließlich Säumniszuschlägen in voller Höhe zu erlassen, ist die Klage jedoch unbegründet - hierzu 2.-.
251. Die Rechtswidrigkeit des Ablehnungsbescheids vom 13.03.2018 folgt bereits daraus, dass dieser Bescheid von einer sachlich unzuständigen Behörde erlassen –hierzu a)-, dieser Mangel der sachlichen Zuständigkeit nicht geheilt worden und auch nicht unbeachtlich ist –hierzu b)-.
26a) Die Beklagte (die Agentur für Arbeit S - Inkasso-Service -) war für die Entscheidung über den streitbefangenen Erlassantrag sachlich nicht zuständig. Die sachliche Zuständigkeit richtet sich gemäß § 16 AO nach dem Gesetz über die Finanzverwaltung (FVG). Gemäß § 5 Abs. 1 Satz 1 Nr. 11 Satz 1 FVG ist für die Durchführung des Familienleistungsausgleichs, zu dem das Erhebungsverfahren in Kindergeldsachen gehört, das Bundeszentralamt für Steuern (BZSt) zuständig. Nach § 5 Abs. 1 Satz 1 Nr. 11 Satz 2 FVG stellt die Bundesagentur für Arbeit diesem zur Durchführung dieser Aufgaben ihre Dienststellen als Familienkassen zur Verfügung. Insoweit gelten die Familienkassen nach § 5 Abs. 1 Satz 1 Nr. 11 Satz 11 FVG als (eigenständige) Bundesfinanzbehörden. § 5 Abs. 1 Satz 1 Nr. 11 Satz 4 FVG sieht vor, dass der Vorstand der Bundesagentur für Arbeit innerhalb seines Zuständigkeitsbereichs von den Vorschriften der AO über die örtliche Zuständigkeit von Finanzbehörden die Entscheidung über den Anspruch auf Kindergeld für bestimmte Bezirke oder Gruppen von Berechtigten einer anderen Familienkasse übertragen kann. Da die Übertragung bestimmter Sachaufgaben - vorliegend der Inkasso-Angelegenheiten - auf eine Familienkasse jedoch nicht die örtliche, sondern vielmehr eine sachliche Zuständigkeit betrifft, ist die Übertragung des Bereichs „Inkasso“ auf die Beklagte nicht von § 5 Abs. 1 Satz 1 Nr. 11 Satz 4 FVG gedeckt. Für diesen Bereich verbleibt es nach der Rechtsprechung des Bundesfinanzhofes (BFH), der sich der Senat insoweit anschließt, bei der sachlichen Zuständigkeit der örtlichen Familienkasse (BFH-Urteile vom 25.02.2021 III R 36/19, BStBl II 2021, S. 712, III R 28/20, BFH/NV 2021, S. 1100; vom 07.07.2021 III R 21/18, BFH/NV 2021, S. 1457).
27b) Der unter III.1.a) dargestellte Zuständigkeitsmangel wurde weder durch den Erlass der Einspruchsentscheidung durch die Familienkasse Nordrhein-Westfalen B geheilt, noch ist er unbeachtlich.
28aa) Der Umstand, dass die Einspruchsentscheidung durch die Familienkasse Nordrhein-Westfalen B erlassen wurde, führt im Streitfall nicht zu einer Heilung der sachlichen Unzuständigkeit der Beklagten (die Agentur für Arbeit S - Inkasso-Service -) für den Erlass des Ablehnungsbescheides. Dabei kommt es nicht darauf an, ob es sich bei der Familienkasse Nordrhein-Westfalen B um die für den Erlass des Ausgangsbescheides örtlich zuständige Behörde gehandelt hat, was aus Sicht des Senats angesichts des Wohnsitzes des Klägers zweifelhaft ist. Denn selbst wenn dem so wäre, käme eine Heilung aus den folgenden Gründen nicht in Betracht: Die Frage, ob dann, wenn ein Ausgangsbescheid durch eine sachlich unzuständige Behörde erlassen worden ist, der hierdurch bewirkte Verfahrensmangel dadurch geheilt wird, dass im Einspruchsverfahren die sachlich zuständige Behörde über den eingelegten Einspruch entscheidet, wird in Rechtsprechung und Literatur nicht einheitlich beurteilt (für eine Heilung: FG Berlin-Brandenburg Urteil vom 17.06.2020 7 K 14045/18, EFG 2020,1284; FG Münster Urteil vom 03.12.2020 3 K 2344/20, juris; FG Düsseldorf Urteil vom 14.06.2021 9 K 2976/20 AO, juris; FG Düsseldorf Urteil vom 28.09.2021 9 K 465/21 AO, juris; Wackerbeck in Hübschmann/Hepp/Spitaler, AO/FGO § 16 AO Rz. 55; Schmieszek in Gosch AO/FGO § 16 Rz. 17; gegen eine Heilung: FG Düsseldorf Urteil vom 14.05.2019 10 K 3317/18 AO, juris; FG Düsseldorf Urteil vom 08.12.2020 10 K 2769/19, EFG 2021, 513; FG Münster, Urteile vom 21.12.2021 1 K 3188/18 Kg; 1 K 2235/18 Kg; 1 K 194/20 Kg, jeweils juris). Nach Ansicht des Senats kommt eine derartige Heilung aber nicht in Betracht.
29(1) Die wegen des Verstoßes gegen die sachliche Zuständigkeit rechtswidrige Ablehnungsentscheidung der Beklagten wurde nicht gemäß § 126 Abs. 2 AO durch Erlass der Einspruchsentscheidung geheilt.
30§ 126 AO enthält eine Aufzählung von Verstößen gegen Verfahrens- oder Formvorschriften, die, soweit sie nicht bereits zur Nichtigkeit (§ 125 AO) geführt haben, durch Nachholung der erforderlichen Handlungen – vereinzelt sogar bis zum Abschluss der Tatsacheninstanz eines finanzgerichtlichen Verfahrens – geheilt werden können.
31Der Katalog des § 126 Abs. 1 AO enthält jedoch eine enumerative Aufzählung möglicher Heilungstatbestände, die der Senat in Anbetracht des Ausnahmecharakters der Vorschrift als abschließend ansieht. Andere als die in § 126 Abs. 1 AO genannten Verfahrens- und Formfehler sind von einer Nachholung mit Heilungswirkung i.S.d. § 126 AO ausgeschlossen (vgl. Rozek in Hübschmann/Hepp/Spitaler, AO/FGO § 126 AO Rz. 16; von Wedelstädt in Gosch AO/FGO § 126 AO Rz. 1, 5; Seer in Tipke/Kruse AO/FGO § 126 AO Rz. 3; FG Münster, Urteile vom 21.12.2021 1 K 3188/18 Kg; 1 K 2235/18 Kg; 1 K 194/20 Kg, jeweils juris).
32Einen Verstoß gegen die Vorschriften der sachlichen Zuständigkeit führt § 126 AO dabei ausdrücklich nicht auf. Für eine über den Wortlaut hinausgehende Erweiterung der Vorschrift auf zusätzliche Verfahrens- oder Formfehler im Wege der Analogie ist grundsätzlich kein Raum. Denn da der Gesetzgeber sich zur enumerativen Aufzählung von Heilungsmöglichkeiten in § 126 AO entschieden und diese Regelung durch § 127 AO flankiert hat, kann insoweit nicht vom Bestehen einer planwidrigen Regelungslücke ausgegangen werden, die Voraussetzung für eine analoge Anwendung wäre (FG Münster, Urteile vom 21.12.2021 1 K 3188/18 Kg; 1 K 2235/18 Kg; 1 K 194/20 Kg, jeweils juris; Rozek in Hübschmann/Hepp/Spitaler, AO/FGO § 126 AO Rz. 16).
33(2) Auch die Gesamtüberprüfung des angefochtenen Verwaltungsakts im Einspruchsverfahren durch die sachlich für den Erlass des Ausgangsbescheides eigentlich zuständige Behörde führt nicht zu einer Heilung. Denn anders als bei einer Abhilfeentscheidung oder einer verbösernden Entscheidung (vgl. § 367 Abs. 2 Sätze 2 und 3 AO) trifft die Behörde, die über den Einspruch entscheidet, durch die Zurückweisung des Einspruchs als unbegründet keine Sachentscheidung, die – anders als ein ändernder oder ersetzender Verwaltungsakt nach § 365 Abs. 3 AO – an die Stelle des angefochtenen Verwaltungsaktes tritt (FG Düsseldorf, Urteil vom 08.12.2020 10 K 2769/19 AO, EFG 2021, S. 513; FG Münster, Urteile vom 21.12.2021 1 K 3188/18 Kg; 1 K 2235/18 Kg; 1 K 194/20 Kg, jeweils juris). Aus § 367 AO lässt sich nicht herleiten, dass einer einen Einspruch lediglich zurückweisenden Entscheidung eine solche rechtliche Bedeutung zukäme. Aus Sicht des erkennenden Senats hätte eine hiervon abweichende Sichtweise überdies zur Folge, dass die sachliche Unzuständigkeit der den ursprünglichen Verwaltungsakt erlassenden Behörde – abgesehen von Fällen der Verwerfung eines Einspruchs als unzulässig (§ 358 Satz 2 AO) – nie mit Erfolg angegriffen werden könnte (FG Düsseldorf, Urteil vom 08.12.2020 10 K 2769/19 AO, EFG 2021, S. 513; FG Münster, Urteile vom 21.12.2021 1 K 3188/18 Kg; 1 K 2235/18 Kg; 1 K 194/20 Kg, jeweils juris). Die sich daraus ergebende Folge, dass ein solcher Zuständigkeitsmangel im Einspruchsverfahren ohne weiteres und insbesondere ohne ausdrückliche gesetzliche Regelung geheilt werden könnte und die sachliche Unzuständigkeit der Ausgangsbehörde grundsätzlich bis zum Einspruchsverfahren unbeachtlich wäre, kann aus Sicht des Senats vom Gesetzgeber nicht gewollt sein.
34Zu keinem anderen Ergebnis führt die Tatsache, dass im Einspruchsverfahren auch die sachliche und örtliche Zuständigkeit erneut zu prüfen ist und als Ergebnis dieser Überprüfung nach der Rechtsprechung des BFH die Entscheidung über den Einspruch auch der tatsächlich zuständigen Behörde überlassen werden kann (vgl. BFH, Urteil vom 19.01.2017 III R 31/15, BStBl II 2017, S. 642). Im Streitfall hat zwar die Familienkasse Nordrhein-Westfalen B die Einspruchsentscheidung vom 14.06.2018 erlassen. Dies beruhte aber - deren örtliche Zuständigkeit vorausgesetzt - nicht auf einer Überprüfung und Erkenntnis der fehlenden sachlichen Zuständigkeit der Beklagten im Einspruchsverfahren, sondern vielmehr darauf, dass der Vorstand der Bundesagentur für Arbeit mit seinen Beschlüssen vom 18.04.2013 (21/2013, Amtliche Nachrichten der Bundesagentur für Arbeit, Monatsheft Mai 2013, Tz. 2.3) und vom 14.04.2016 (15/2016, Amtliche Nachrichten der Bundesagentur für Arbeit, Monatsheft Mai 2016, Tz. 2.4) der Familienkasse ausdrücklich die „Zuständigkeit für die Bearbeitung von Rechtsbehelfen gegen Entscheidungen des Inkasso-Service im Bereich des steuerlichen Kindergeldes“ zugewiesen hat. Unabhängig davon, ob es an einer gesetzlichen Ermächtigungsgrundlage für eine derartige Regelung fehlte (so der 10. Senat des Finanzgerichts Düsseldorf in dessen Urteil vom 08.12.2020 10 K 2769/19 AO, EFG 2021, 513), kann dies auch unter Berücksichtigung der vorgenannten BFH-Rechtsprechung nicht zu einer Heilung führen. Denn würde eine Heilung angenommen, würde dies zu einer Rechtsschutzverkürzung für all diejenigen potentiell Erlassberechtigten führen, die – wie vorliegend der Kläger - „zufällig“ im Bezirk der Familienkasse wohnhaft sind. Demgegenüber könnte gegenüber potentiell Erlassberechtigten, die im Bezirk einer anderen Familienkasse wohnen, eine Heilung nicht eintreten, mit der Folge, dass in diesen Fällen der Weg für eine erneute Sachentscheidung der sachlich zuständigen Behörde eröffnet wäre. Haltbare Gründe für eine derartige Ungleichbehandlung einen Erlass oder eine Stundung begehrender Personen vermag der Senat nicht zu erkennen. Darüber hinaus versteht der erkennende Senat die Rechtsprechung des BFH dahingehend, dass nur die Überlassung der Entscheidung an die sachlich und örtlich zuständige Behörde im „Bewusstsein“ der eigenen sachlichen bzw. örtlichen Unzuständigkeit zu einer Heilung führen kann (FG Münster, Urteile vom 21.12.2021 1 K 3188/18 Kg; 1 K 2235/18 Kg; 1 K 194/20 Kg, jeweils juris).
35bb) Der Fehler, dass der Ablehnungsbescheid von der sachlich unzuständigen Behörde erlassen wurde, ist auch nicht gemäß § 127 AO unbeachtlich.
36§ 127 AO erfasst nach seinem eindeutigen Wortlaut nur Verstöße gegen Vorschriften über das Verfahren, die Form oder die örtliche Zuständigkeit. Auch diese Aufzählung ist enumerativ und aufgrund ihres Ausnahmecharakters nicht im Wege der Analogie auf andere Fehler entsprechend übertragbar, weshalb eine Erstreckung des § 127 AO auf nicht genannte formelle Mängel, wie hier die Verletzungen der sachlichen Zuständigkeit, nicht in Betracht kommt (BFH-Urteil vom 21.04.1993 X R 112/91 Rz. 52 m.w.N., BStBl. II 1993, 649; Rozek in Hübschmann/Hepp/Spitaler, AO/FGO § 127 AO Rz. 13; Seer in Tipke/Kruse AO/FGO § 127 AO Rz. 11; Drüen in Tipke/Kruse AO/FGO § 16 AO Rz. 15).
37Zudem ist die Vorschrift des § 127 AO bereits deshalb nicht auf Ermessensentscheidungen, wie die Entscheidung über einen Erlassantrag, anwendbar, weil bei eingeräumtem Ermessen grundsätzlich (soweit nicht ein Ausnahmefall der Ermessensreduzierung auf Null vorliegt) mehrere rechtmäßige Entscheidungen in der Sache getroffen werden können.
38cc) Eine Heilung des hier in Rede stehenden Verfahrensfehlers ist auch nicht im Hinblick auf den der Vorschrift des § 130 Abs. 2 AO zugrunde liegenden Rechtsgedanken eingetreten. Die Rücknahme eines begünstigenden rechtswidrigen Verwaltungsakts ist nach Maßgabe der §§ 130 Abs. 2 und Abs. 3 AO (nur) unter den dort normierten Einschränkungen möglich. Nach § 130 Abs. 2 Nr. 1 AO darf ein begünstigender Verwaltungsakt auch dann zurückgenommen werden, wenn er von einer sachlich unzuständigen Behörde erlassen worden ist. Im Streitfall hat die sachlich zuständige Familienkasse Nordrhein-Westfalen B aber mit dem Erlass der Einspruchsentscheidung vom 14.06.2018 jedoch nicht den ursprünglichen Ablehnungsbescheid aufgehoben und zugleich stattdessen einen neuen Bescheid erlassen, sondern vielmehr durch die Zurückweisung des Einspruchs gerade den durch die sachlich unzuständige Behörde erlassenen Bescheid vom 13.03.2018 bestätigt. Eine mit § 130 Abs. 2 AO vergleichbare Konstellation liegt mithin nicht vor.
392. Der Umstand, dass die Beklagte für die Entscheidung über den Erlassantrag des Klägers sachlich unzuständig war, vermag allerdings nur dazu zu führen, dass die Ablehnungsentscheidung und die Einspruchsentscheidung aufgehoben werden (vgl. FG Düsseldorf, Gerichtsbescheid vom 14.05.2019 10 K 3317/18 AO, juris, i. Erg. bestätigt durch BFH-Urteil vom 25.02.2021 III R 36/19, BStBl. II 2021, 712; FG Münster, Urteile vom 21.12.2021 1 K 3188/18 Kg; 1 K 2235/18 Kg; 1 K 194/20 Kg, jeweils juris). Eine Verpflichtung der Beklagten (der Agentur für Arbeit S - Inkasso-Service -) als sachlich unzuständiger Behörde, den begehrten Erlass zu bewilligen, kann im vorliegenden Klageverfahren aus verfahrensrechtlichen Gründen nicht ausgesprochen werden.
40IV. Die Kostenentscheidung beruht auf § 136 Abs. 1 Satz 1 FGO und richtet sich nach dem Verhältnis von Obsiegen und Unterliegen. Die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit beruht auf §§ 151 Abs. 3, 155 FGO i. V. m. §§ 708 Nr. 10, 711 der Zivilprozessordnung.
41V. Die Revision wird gemäß § 115 Abs. 2 Nr. 1 und Nr. 2 FGO wegen grundsätzlicher Bedeutung und zur Sicherung einer einheitlichen Rechtsprechung zugelassen. Die Rechtsfrage, ob die sachliche Unzuständigkeit der Ausgangsbehörde im Rechtsbehelfsverfahren durch eine Entscheidung der sachlich zuständigen Behörde geheilt werden kann, ist in der finanzgerichtlichen Rechtsprechung und der Literatur umstritten; sie ist Gegenstand des bereits beim BFH unter dem Aktenzeichen III R 1/21 anhängigen Revisionsverfahrens.
42... ... ...
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