Urteil vom Finanzgericht Rheinland-Pfalz (4. Senat) - 4 K 1032/21
Tenor
I. Der Beklagte wird verurteilt, den von ihm beim Amtsgericht – Insolvenzgericht – Mainz gestellten Antrag auf Eröffnung des Insolvenzverfahrens über das Vermögen des Klägers vom 5. November 2020 zurückzunehmen.
II. Die Kosten des Verfahrens hat der Beklagte zu tragen.
III. Das Urteil ist wegen der Kosten vorläufig vollstreckbar.
Tatbestand
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Strittig ist, ob ein Antrag des Beklagten auf Eröffnung des Insolvenzverfahrens über das Vermögen des Klägers rechtmäßig war.
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Der Kläger wohnt im Bezirk des Beklagten und war bis März 2013 mit Frau Q.Y. (nachfolgend: Y), einer chinesischen Staatsangehörigen, verheiratet, die seit Juli 2015 nicht mehr in Deutschland gemeldet ist (Bl. 17 d. Rb.-Akte). Beide haben einen gemeinsamen, am xx. Dezember 1993 geborenen Sohn, der bei dem Kläger lebt und für den beide das gemeinsame Sorgerecht haben.
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Der Beklagte führte zunächst eine Steuerfahndungsprüfung bei Y betreffend Einkommen-, Gewerbe- und Umsatzsteuer für 2010 bis 2012 sowie Umsatzsteuervoranmeldungen 2013 und 2014 durch (Bl. 2 f. und 4 ff. Vollstreckungsakten Band I). Im Rahmen einer Durchsuchung der Restaurant-Räume am 1. Oktober 2014 kam der Beklagte zu dem Schluss, dass nicht Y, sondern der Kläger seit 2010 Betreiber des China-Restaurants „…“ gewesen sei, dass Y dem Kläger mit notarieller Urkunde vom 8. Januar 2010 ihr Restaurant mit Wirkung zum 1. Januar 2010 formell übertragen hatte und dessen Gewinnermittlung nach § 4 Abs. 3 Einkommensteuergesetz (EStG) erfolgte. Im Rahmen der Durchsuchung gab der Kläger an, das Restaurant nur während der Abwesenheit seiner Ex-Frau, die zu diesem Zeitpunkt bereits seit mehreren Monaten gedauert habe, zu führen. An diesem Tag wurde ein strafrechtliches Ermittlungsverfahren gegen den Kläger hinsichtlich der Verkürzung der Einkommen-, Gewerbe- und Umsatzsteuer seit 2007 eingeleitet.
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Die im Nachgang zur Steuerfahndungsprüfung gegenüber dem Kläger erstmals erlassenen Einkommen-, Gewerbesteuermess- und Umsatzsteuerbescheide für die Jahre 2010 bis 2012, jeweils vom 9. Februar 2017, wurden vom Kläger nicht angefochten und sind bestandskräftig.
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Die für die Jahre 2013 und 2014 gegenüber dem Kläger als Schätzungsbescheide ergangenen Einkommen-, Gewerbesteuermess- und Umsatzsteuerbescheide vom 21. Februar 2017, die jeweils nach § 164 Abs. 1 AO unter dem Vorbehalt der Nachprüfung erlassen wurden, orientierten sich bei der Schätzung der Einkünfte aus Gewerbebetrieb mit 29.000 Euro im Jahr 2013 bzw. 30.000 Euro im Jahr 2014 an den Beträgen der Vorjahre. Gegen diese Bescheide legte der Kläger am 3. April 2017 Einspruch ein und begehrte Wiedereinsetzung in die versäumte Einspruchsfrist. Zur Begründung trug er vor, er habe die Einspruchsfrist ohne Verschulden versäumt. Die Bescheide seien während seiner vierwöchigen Abwesenheit zugegangen. Er pflege in regelmäßigen Abständen seine Mutter in Wales, zuletzt vom 19. Februar 2017 bis zum 25. März 2017. Der Kläger begründete seinen Einspruch in materieller Hinsicht damit, dass er ungeachtet des notariellen Unternehmensübergabevertrages weder das Unternehmerrisiko des Restaurant-Betriebs getragen noch Unternehmerinitiative entfaltet habe. Er habe nur dann im Restaurant mitgearbeitet, wenn sich seine damalige Ehefrau in China aufgehalten habe. Seine Mitarbeit habe sich auf wenige Wochen im Jahr beschränkt. Eine Vergütung für seine Mitarbeit im Restaurant habe er nicht erhalten. Es habe sich um eine bloße Gefälligkeit zwischen Ehegatten gehandelt. Er habe das Restaurant auch gar nicht auf eigene Rechnung und Gefahr führen können, weil er sich damals im Restschuldbefreiungsverfahren befunden habe. Daher habe eine Umschreibung des Mietverhältnisses oder eine Umschreibung gegenüber Ämtern und Behörden auf den Kläger nicht vorgenommen werden können. Da der Mietvertrag damals eine Dauer von fünf Jahren gehabt habe, habe sich Y entschieden, das Restaurant bis zum Ende der Mietvertragslaufzeit weiterzuführen. Die Gewerbeabmeldung am 7. Juli 2015 sei daher auch durch sie erfolgt. Danach habe sie Deutschland verlassen.
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Ein Pfändungsauftrag gegen den Kläger vom 25. April 2017 (Bl. 1 Lasche VO-Auftrag, Vollstreckungsakten Band I) zur Vollstreckung aus Einkommensteuer, Solidaritätszuschlag und Umsatzsteuer für 2010 bis 2014, Zinsen hieraus, Verspätungszuschlägen und Säumniszuschlägen – zum damaligen Zeitpunkt in Höhe von insgesamt 85.332,41 Euro – konnte nicht ausgeführt werden, da der Kläger nur unter der Anschrift des zu diesem Zeitpunkt nicht mehr bestehenden China-Restaurants aufgesucht worden war. In der Folge betrieb der Beklagte einen Kontoabruf über die deutschen Konten des Klägers. Am 18. Mai 2017 unternahm der Beklagte einen weiteren Pfändungsversuch ohne vorherige Mitteilung an den Kläger unter dessen Wohnanschrift, wo dieser nicht anzutreffen war (jeweils Bl. 3 Lasche VO-Auftrag 25.04.2017 und Lasche VO-Auftrag 18.05.2017, jeweils Vollstreckungsakten Band I).
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Mit Schreiben vom 19. Juli 2017 (Bl. 1 Lasche Schreiben TBZ 19.7.17 (AdV), Vollstreckungsakten Band I) gewährte der Beklagte die Aussetzung der Vollziehung der Einkommen- und Umsatzsteuerbescheide für 2013 und 2014.
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Auf eine Terminankündigung des Vollstreckungsbeamten zur Pfändung vom 21. Juli 2017 hin (Bl. 1 Lasche VZB-Termin (10.08.17) 21.07.17, Vollstreckungsakten Band I) stellte der Kläger am 26. Juli 2017 einen Antrag auf einstweilige Einstellung der Zwangsvollstreckung der Forderungen auch für 2010 bis 2012 gemäß § 258 AO (Bl. 1 f. Lasche Antrag § 258 AO RR 26.7.17, Vollstreckungsakten Band I), auf den er sich auch berief nach erneuter Terminbestimmung des Beklagten zur Pfändung auf den 9. Oktober 2017 zur Vollstreckung eigener Forderungen in Höhe von damals 50.975,08 Euro (Steuerforderungen für die Jahre 2010 bis 2012, Zwangsgeldfestsetzungen für Umsatz- und Gewerbesteuer 2015, Zinsen, Säumniszuschläge und Vollstreckungskosten) sowie – zusätzlich im Wege der Amtshilfe des Finanzamts W II – auch Lohnsteuer und Zwangsgelder in Höhe von 10.969,11 Euro (Bl. 1 Lasche neuer T. VZB an RA 13.9.17“, Vollstreckungsakten Band I).
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Diesen Antrag auf einstweilige Einstellung der Zwangsvollstreckung gemäß § 258 AO lehnte der Beklagte mit Schreiben vom 6. Oktober 2017 ab, da keine unbillige Härte vorliege, zumal der Kläger den erbetenen und übersandten Fragebogen über seine wirtschaftlichen Verhältnisse nicht ausgefüllt habe (Bl. 1 f. Lasche AVA 6/10/17, Vollstreckungsakten Band I).
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Nachdem der Vollstreckungsbeamte des Beklagten den Kläger am Pfändungstermin des 9. Oktober 2017 nicht in seiner Wohnung angetroffen hatte (Bl. 3 Lasche VO, Vollstreckungsakten Band I), beantragte der Beklagte einen vollstreckungsrechtlichen Durchsuchungsbeschluss, den das zuständige Amtsgericht am 25. Oktober 2017 auf sechs Monate befristet anordnete (Lasche Antrag DB 18.10.17, Vollstreckungsakten Band I).
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Auf den Einspruch des Klägers gegen die Ablehnung seines Antrags auf Vollstreckungsaufschub gemäß § 258 AO (Bl. 1 f. Lasche Einspruch gegen AVA 6.10.17, Vollstreckungsakten Band I) gewährte der Beklagte – nach einem beim erkennenden Gericht gestellten Antrag des Klägers auf Erlass einer einstweiligen Anordnung (4 V 2226/17) – dem Kläger mit Schreiben vom 6. Dezember 2017 Vollstreckungsaufschub „bis zur Entscheidung über die Rechtsbehelfe betreffend die Bescheide 2013 und 2014“ (Bl. 38 f. Lasche Einspruch gegen AVA 6.10.17, Vollstreckungsakten Band I). In der Folge beantragte der Klägervertreter die Festsetzung und Erstattung einer Erledigungsgebühr, da ein besonderes Einwirken auf den Kläger erforderlich gewesen sei, um zu einer Erledigung zu kommen (Bl. 51 Lasche Einspruch gegen AVA 6.10.17, Vollstreckungsakten Band I).
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Mit Einspruchsentscheidung vom 11. April 2018 verwarf der Beklagte den Einspruch des Klägers betreffend die Einkommen-, Gewerbesteuermess- und Umsatzsteuerbescheide für 2013 und 2014 als unzulässig. Die Einsprüche seien erst nach Ablauf der Rechtsbehelfsfrist eingegangen und Wiedereinsetzungsgründe seien nicht in der gebotenen Weise glaubhaft gemacht. Hiergegen erhob der Kläger Klage beim Finanzgericht vom 11. Mai 2018 (4 K 1426/18), über die bislang noch nicht rechtskräftig entschieden ist.
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Mit Schreiben vom 14. Mai 2018 (Bl. 2 Lasche Antrag AdV vom 14.05.19, Vollstreckungsakten Band I) beantragte der Kläger die Aussetzung der Vollziehung der Einkommen-, Gewerbesteuermess- und Umsatzsteuerbescheide für 2013 und 2014, was der Beklagte am 15. Mai 2018 (Bl. 3 Lasche Antrag AdV vom 14.05.19, Vollstreckungsakten Band I) und sodann das Finanzgericht mit Beschlüssen vom 13. Juni 2018 (4 V 1464/18) und 3. September 2018 (3 V 1524/18) ablehnten (Bl. 4 Lasche Gerichtl. AdV-Antrag ESt/GewSt und Bl. 1 Gerichtl. AdV USt, jeweils Vollstreckungsakten Band I).
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In der Folge betrieb der Beklagte einen Kontoabruf über die Konten des Klägers (jeweils Bl. 1 Lasche KA vom 21.11.18, Vollstreckungsakten Band I), der mehrere auf den Kläger als Kontoinhaber lautende aktive Konten (1x bei der I-Bank, 3x bei der N-Bank, 1x W- Bausparkasse, 1x P.C., 1x N-Bank) sowie ein auf den minderjährigen Sohn des Klägers errichtetes Konto bei der Volksbank mit Kontovollmacht des Klägers ergab.
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Sodann betrieb der Beklagte eine Pfändung wegen Umsatzsteuer 2013 und 2014 bei der N-Bank über 26.225,75 Euro, wobei die Pfändung und Überweisung nur mit Kleinbeträgen von insgesamt 655,10 Euro (299,21 Euro + 170,89 Euro + 185 Euro) erfolgreich waren, weil vorrangige Pfändungen in Höhe von 11.310,53 Euro bestanden und ein Sparguthaben des Klägers abgetreten worden war (Bl. 1, 6, 8, 12, 15 Lasche PFolg 4031/18, Vollstreckungsakten Band II).
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Einen erneuten Antrag auf einstweilige Einstellung der Zwangsvollstreckung der Forderungen gemäß § 258 AO vom 13. November 2018 (Bl. 1 Lasche Antrag auf Vo-Aufschub, Vollstreckungsakten Band II) mit der Begründung, dass es dem Kläger durch die Pfändungsmaßnahmen nicht möglich sei, die Lieferanten für ein von ihm betriebenes Steakhouse in W (… Restaurant) zu bezahlen, lehnte der Beklagte mit Schreiben vom 21. November 2018 ab (Bl. 17 Lasche Antrag auf Vo-Aufschub, Vollstreckungsakten Band II), weil der Kläger aufgrund der vorrangigen Pfändungen bei der N-Bank in Höhe von 11.310,53 Euro selbst ohne die betragsmäßig geringen Pfändungen und Überweisungen des Beklagten nicht über sein Kontoguthaben hätte verfügen können, sodass die Pfändung des Beklagten nicht unbillig sei. Hiergegen erhob der Kläger mit Schreiben vom 21. November 2018 Einspruch (Bl. 1 ff. Lasche Einspruch gegen AVA, Vollstreckungsakten Band II).
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Ein spätestens im November 2018 von der Stadt W eingeleitetes Verfahren zur Prüfung der gastgewerblichen Tätigkeit des Klägers hatte im Juli 2019 noch nicht zu einer Gewerbeuntersagung geführt (vgl. Bl. 1 ff. Lasche § 4 (1) HGastG, Vollstreckungsakten Band II).
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Mit strafgerichtlichem Urteil vom 19. Juni 2019 (Bl. 3 ff. Lasche AG Urteil-Steuerhinterziehung, Vollstreckungsakten Band II) wurde der Kläger vom Vorwurf der Hinterziehung von Einkommen-, Gewerbe- und Umsatzsteuer für die Jahre 2010 bis 2012 nach „in dubio pro reo“-Zweifelsgrundsätzen freigesprochen. Der notarielle Übergabevertrag zum 1. Januar 2010 sei „unwiderlegt tatsächlich nicht umgesetzt“ worden. Der Kläger habe in dieser Zeit ein eigenes Insolvenzverfahren durchlaufen, dessen Restschuldbefreiungsfrist bis Ende 2012 gedauert habe. Aus diesem Grund habe er keine Gewerbeerlaubnis zum Betrieb eines Restaurants erhalten. Kontoumschreibungen seien erst zum 16. Juni 2014 und damit erst lange nach der formellen Geschäftsübertragung von Y auf den Kläger erfolgt. Ausreichende Anhaltspunkte für eine faktische Geschäftsführung hätten nicht bestanden.
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Die Klage betreffend die Einkommen- und Gewerbesteuermessbescheide für 2013 und 2014 (4 K 1426/18) wurde durch finanzgerichtliches Urteil vom 17. Oktober 2019 abgewiesen, weil der Kläger die Einspruchsfrist versäumt habe und ihm keine Wiedereinsetzung in den vorigen Stand zu gewähren sei (Bl. 3 ff. Lasche Urteil FG bezügl. ESt/GewSt, Vollstreckungsakten Band II).
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Auf Insolvenzantrag der Krankenkasse über das Vermögen des Klägers beauftragte das zuständige Insolvenzgericht am 11. November 2019 einen Sachverständigen mit der Ermittlung der (drohenden) Zahlungsunfähigkeit des Klägers. Der Antrag auf Eröffnung des Insolvenzverfahrens wurde in der Folge jedoch für erledigt erklärt (Bl. 1 ff. und 16 Lasche Inso-Antragsverfahren, Vollstreckungsakten Band II).
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Mit Vermögensverzeichnis vom 27. Juli 2020 (Bl. 1 ff. Lasche VV vom 27.07.2020, Vollstreckungsakten Band II) erklärte der Kläger, aktuell als „Tenter“ tätig zu sein. Über ein Auto verfüge er nicht; er habe nur Gegenstände bescheidener Lebensführung und geringe Mengen Bargeld (85 Euro). Waren auf Abzahlung unter Eigentumsvorbehalt habe er nur für das tägliche Leben oder für das ehemalige Geschäft ohne pfändbaren Wert bei verschiedenen Lieferanten bezogen. Er beziehe eine Altersrente in Höhe von 1.227,80 Euro sowie Kindergeld für seinen Sohn in Höhe von 204 Euro pro Monat, aber kein Arbeitseinkommen und aus seinem Erwerbsgeschäft im Bereich Hotel- und Tourismusberatung nur einen monatlichen Gewinn (zugleich Umsatz) in Höhe von 0 Euro. Die Frage, ob er im vergangenen Jahr einem Erwerbsgeschäft nachgegangen sei, beantwortete er mit „nein“. Als seine Konten benannte er ein Pfändungsschutzkonto bei P.C. mit einem Guthaben von 2,17 Euro, ein einzelnes Konto bei der N-Bank mit unbekanntem Kontostand und ein Konto bei der N.. Bank mit einem Guthaben von 0 Euro. Nicht angegeben waren hingegen die bei der Bankanfrage vom 21. November 2018 noch vorhandenen anderen beiden Konten des Klägers bei der N-Bank, das Konto der I-Bank und das Konto bei der Bausparkasse. Auch die Angabe zu einem Konto seines minderjährigen Sohnes bei der Volksbank war nicht enthalten; stattdessen enthielt die Vermögensauskunft Informationen zu zwei Konten seines minderjährigen Sohnes bei der U-Bank, deren Kontostand dem Kläger unbekannt sei.
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Mit Einspruchsentscheidung vom 10. September 2020 (Bl. 1 ff. Lasche EE vom 10.09.20, Vollstreckungsakten Band II) wies der Beklagte den Einspruch des Klägers vom 21. November 2018 gegen die Ablehnung seines Antrags auf einstweilige Einstellung der Zwangsvollstreckung der Forderungen gemäß § 258 AO als unbegründet zurück. Aus der maßgeblichen Sicht des Klägers sei das Schreiben des Beklagten vom 6. Dezember 2017, wonach der Beklagte Vollstreckungsaufschub „bis zur Entscheidung über die Rechtsbehelfe betreffend die Bescheide 2013 und 2014“ gewähre, so auszulegen, dass dies nur bis zur verwaltungsseitigen Bearbeitung, d.h. bis zum Abschluss des Einspruchsverfahrens zu diesen Bescheiden gegolten habe, nicht aber für die Vollstreckung in der Zeit danach. Hierfür spreche auch, dass der Klägervertreter im finanzgerichtlichen Eilrechtschutz-Verfahren (4 V 2226/17), in dem der Beklagte diese Erklärung abgegeben habe, bereits eine Erledigungsgebühr beantragt habe. Dies sei jedenfalls mit der Begründung, der Klägervertreter habe auf den Kläger einwirken müssen, „nicht denkbar gewesen“. Daher seien die vorliegenden Vollstreckungsmaßnahmen nach der Einspruchsentscheidung vom 11. April 2018 nicht mehr von dem zuvor gewährten Vollstreckungsaufschub erfasst. Für die (erneute) Prüfung und Annahme der Unbilligkeit lägen keine Anhaltspunkte vor.
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Ein Pfändungs- und Überweisungsversuch des Beklagten vom 28. Oktober 2020 (Bl. 1 ff. Lasche Pf. 2182/20F, Vollstreckungsakten Band II) bei der I-Bank wegen Forderungen in Höhe von 121.912 Euro verlief erfolglos, weil der Kläger gemäß Schreiben der I-Bank vom 2. November 2020 (eingegangen beim Beklagten am 4. November 2020) keine Geschäftsbeziehung mit der I-Bank mehr unterhielt.
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Mit – insoweit verfahrensgegenständlichem – Insolvenzantrag vom 5. November 2020 (Bl. 1 f. Lasche Antrag Insolvenz, Vollstreckungsakten Band II) beantragte der Beklagte die Eröffnung des Insolvenzverfahrens über das Vermögen des Klägers. Als Schuldgrund benannte der Beklagte, dass der Kläger dem Land Rheinland-Pfalz Steuern und Nebenleistungen in Höhe von 127.283,43 Euro schulde, wobei er auf eine anliegende Rückstandsaufstellung verwies, in der neben Einkommen- und Umsatzsteuer sowie Solidaritätszuschlag und Nebenleistungen hierzu für die Jahre 2010 bis 2014 auch Einkommen- und Umsatzsteuer, Zwangsgelder, Verspätungs- und Säumniszuschläge für die Jahre 2015 und 2017 sowie für die Quartale III. Quartal 2018 bis II. Quartal 2020 enthalten waren. Die Vollstreckungsvoraussetzungen nach §§ 251, 254 ff. AO lägen vor. Den Insolvenzgrund benannte der Beklagte damit, dass der Kläger zahlungsunfähig sei. Vollstreckungsmaßnahmen seien fruchtlos und Kontopfändungen nicht erfolgreich verlaufen. Aus dem Vermögensverzeichnis vom 27. Juli 2020 ergäben sich keine verwertbaren Vermögensgegenstände oder Forderungen. Zudem sei bereits Ende 2019 ein Fremdinsolvenzantrag gestellt worden, als bereits erhebliche Steuerforderungen bestanden hätten. Zur Zahlung eines Massekostenvorschusses sei der Beklagte nicht bereit.
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Der Kläger wandte sich hiergegen mit Schreiben an den Beklagten sowie an das Insolvenzgericht jeweils vom 21. November 2020 (Bl. 12 und 16 Lasche Antrag Insolvenz, Vollstreckungsakten Band II) und rügte einerseits die Unbilligkeit der Vollstreckungsmaßnahme, weil der Beklagte im finanzgerichtlichen Eilrechtschutz-Verfahren (4 V 2226/17) die Einstellung der Vollstreckung bis zur Entscheidung über die Rechtsbehelfe betreffend die Bescheide 2013 und 2014 zugesagt habe, aber das für die Einkommen- und Gewerbesteuermessbescheide 2013 und 2014 ergangene finanzgerichtliche Urteil (4 K 1426/18) noch mit der Nichtzulassungsbeschwerde angegriffen werde und daher noch nicht rechtskräftig sei.
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Das zuständige Insolvenzgericht beauftragte mit Beschluss vom 21. Dezember 2020 (Bl. 2 f. Lasche Inso-Antragsverfahren, Vollstreckungsakten Band II) einen Sachverständigen mit der Erstellung eines Gutachtens über die (drohende) Zahlungsunfähigkeit des Klägers. Die hiergegen eingelegte sofortige Beschwerde des Klägers vom 8. Januar 2021 (Bl. 13 ff. Lasche Inso-Antragsverfahren, Vollstreckungsakten Band II) wies das Amtsgericht mit Beschluss vom 3. März 2021 als unbegründet zurück, weil über die Rechtmäßigkeit der Ermessensentscheidung einer Finanzbehörde, einen Insolvenzantrag zu stellen, das Finanzgericht zu entscheiden habe. Die durch das Insolvenzgericht zu prüfenden Voraussetzungen, ob ein Insolvenzgutachten zu erstatten sei, hätten hingegen vorgelegen (Bl. 58 ff. Gerichtsakte).
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Mit seiner im vorliegenden Verfahren erhobenen finanzgerichtlichen Klage (Bl. 3 ff. Gerichtsakte) begehrt der Kläger, dass der Beklagte seinen Insolvenzantrag vom 5. November 2020 zurücknimmt.
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Von den dort benannten Steuerforderungen in Höhe von 127.283,43 Euro entfalle ein Betrag von 108.254,50 Euro auf dem Zeitraum 2010 bis 2014. Für die Jahre 2013 und 2014 sei über die Klage (4 K 1426/18) noch nicht bestandskräftig entschieden, nachdem der BFH das finanzgerichtliche Urteil zwischenzeitlich aufgehoben habe. Zugleich habe der Kläger einen Antrag auf Änderung aller zugrundeliegenden Steuerbescheide für 2010 bis 2014 gestellt, über den ebenfalls noch nicht bestands- bzw. rechtskräftig entschieden worden sei, weil zu der auf eine Verpflichtung des Beklagten zur Änderung der Bescheide gerichtete Klage (4 K 1435/20) noch kein Urteil ergangen sei.
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Soweit der Beklagte sich auf Steuerforderungen ab 2017 aus dem Betrieb eines … Restaurants in Höhe von 19.028,93 Euro berufe, handele es sich nicht um Steuerforderungen des Landes Rheinland-Pfalz, da dieses Restaurant des Klägers in W betrieben worden sei. Im Übrigen habe der Kläger ausweislich einer am 1. Februar 2021 für das Jahr 2017 durch einen Steuerberater erstellten Gewinnermittlung aus dem Betrieb des … Restaurants keinen Gewinn, sondern bei Betriebseinnahmen von 146.900,57 Euro tatsächlich einen Verlust in Höhe von -5.986,74 Euro erzielt, sodass in diesem Jahr keine Steuer anfalle. Auch das Ergebnis für 2018 ergebe bei Betriebseinnahmen vom 153.799,72 Euro einen nur geringen Gewinn in Höhe von 20.959 Euro, sodass nach Verlustvortrag und weiteren Abzügen kein zu versteuerndes Einkommen und damit keine Steuerschuld verbleibe.
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Zudem habe der Beklagte dem Kläger mit Schreiben vom 6. Dezember 2017 Vollstreckungsaufschub „bis zur Entscheidung über die Rechtsbehelfe betreffend die Bescheide 2013 und 2014“ gewährt, nun aber gleichwohl einen Insolvenzantrag gestellt.
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Außerdem sei der Insolvenzantrag ermessensfehlerhaft und unverhältnismäßig, da die Rechtmäßigkeit der hauptsächlichen Forderungen noch nicht abschließend geklärt sei. Auch sei eine Begründung der Ermessensentscheidung, die den Abwägungsgang erkennen lasse, nicht gegeben. So seien insbesondere die Erfolgsaussichten im Klageverfahren 4 K 1426/18 und die zugunsten des Klägers ausgefallene BFH-Entscheidung zur Aufhebung des klageabweisenden Urteils nicht berücksichtigt worden.
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Überdies ergebe sich die Unverhältnismäßigkeit des Insolvenzantrags daraus, dass der Kläger in seinem Vermögensverzeichnis kein verwertbares Vermögen angegeben habe, sodass feststehe, dass sich keine Insolvenzmasse erzielen lasse. Der Insolvenzantrag sei daher allein auf die wirtschaftliche Existenzvernichtung des Klägers gerichtet. Auch zeige die fehlende Bereitschaft des Beklagten, einen Massekostenvorschuss einzuzahlen, dass dieser keinerlei Masseerwartung habe und die Insolvenzantragstellung auch insofern unzulässig gewesen sei. Wenn der Beklagte vortrage, dass eine Vollstreckung erfolglos gewesen sei und andererseits „gewisse Verdachtsmomente“ für vorhandenes Vermögen vorhanden seien, sei dies widersprüchlich und zudem reine Spekulation. Aus der Tatsache, dass der Klägervertreter für den Kläger tätig werde, könne jedenfalls nicht gefolgert werden, dass der Kläger noch über Vermögen verfüge.
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Der Kläger beantragt,
den Beklagten zu verurteilen, den beim Amtsgericht – Insolvenzgericht – Mainz gestellten Antrag auf Eröffnung des Insolvenzverfahrens über das Vermögen des Klägers vom 5. November 2020 zurückzunehmen.
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Der Beklagte beantragt,
die Klage abzuweisen.
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Zur Begründung trägt der Beklagte zunächst vor, den Einspruch des Klägers vom 21. November 2018 gegen die Ablehnung seines Antrags auf einstweilige Einstellung der Zwangsvollstreckung der Forderungen gemäß § 258 AO mit Einspruchsentscheidung vom 10. September 2020 als unbegründet zurückgewiesen zu haben, was der Kläger nicht angegriffen habe. Vollstreckungsmaßnahmen – auch in Form eines Insolvenzantrags – seien daher nicht aus Rechtsgründen ausgeschlossen gewesen.
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Soweit der Kläger vortrage, dass es sich bei den zur Antragsbegründung vorgetragenen Steuerforderungen bereits dem Grunde nach nicht um Forderungen des Landes Rheinland-Pfalz handele, sei dies unzutreffend, da der Kläger stets in M-Stadt gewohnt habe.
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Soweit der Kläger materiell-rechtliche Einwände gegen die Höhe der Steuerforderungen erhebe, seien diese außerhalb des Vollstreckungsverfahrens vorzubringen und für eine Ermessensentscheidung des Beklagten unbeachtlich. Die anhängigen Rechtsbehelfsverfahren habe der Beklagte „selbstverständlich“ zur Kenntnis genommen, und es sei nicht erkennbar, wie der Beklagte diese hätte berücksichtigen sollen. Selbst wenn der Kläger die Rechtsbehelfsverfahren „gewonnen“ hätte, hätten noch genügend andere Steuerforderungen bestanden. Und selbst für das Jahr 2018 ergebe sich entgegen des Klägervortrags noch ein steuerlicher Zahlbetrag. Der Kläger sei auch absolut zahlungsunfähig; dies zeige bereits seine Vermögensauskunft.
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„Natürlich“ seien Ermessenserwägungen durch den Sachbearbeiter des Beklagten angestellt worden; in keinem Falle sei die Insolvenzantragstellung willkürlich erfolgt. Soweit der Kläger vortrage, dass Ermessenserwägungen nicht erkennbar geworden seien, müssten die Ermessenserwägungen nicht in dem Insolvenzantrag selbst ausgeführt werden. Es gebe sogar eine Anweisung in der internen Vollstreckungskartei des Landesamtes, wonach ausdrücklich von der Aufnahme der Ermessenserwägungen in den Insolvenzantrag abzusehen sei. Nach zunächst vorgetragener Auffassung des Finanzamtes ergäben sich die Ermessungserwägungen aus der Akte; nach dem Vortrag in der mündlichen Verhandlung gab der Beklagte an, es könne sein, dass die Ermessenserwägungen zwar angestellt, aber nur unzureichend in der Akte dokumentiert worden seien. Es genüge auch, wenn die Ermessenserwägungen erst im Klageverfahren dargelegt würden. Hierzu verweise der Beklagte auf zwei finanzgerichtliche Entscheidungen (FG Saarland, Urteil vom 17. März 2004 – 1 K 437/02 –; FG Berlin, Urteil vom 21. September 2004 – 7 K 7182/04 –), in denen die Auffassung vertreten werde, dass § 102 Satz 2 Finanzgerichtsordnung (FGO) auf allgemeine Leistungsklagen nicht anwendbar sei.
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Der Insolvenzantrag sei auch verhältnismäßig, da er als rückstandsunterbindende Maßnahme der Vermeidung weiterer Steuerrückstände gedient habe, nachdem weitere Vollstreckungsmaßnahmen nicht erfolgversprechend erschienen, eine Befriedigung auf andere Weise nicht zu erreichen gewesen und die Rückstände kontinuierlich angestiegen seien. Für die Befriedigung im Rahmen eines Insolvenzverfahrens habe es „gewisse Verdachtsmomente“ gegeben, die eine Insolvenzmasse wahrscheinlich werden ließen. So sei ein Fremdinsolvenzantrag der Krankenkasse später „zurückgenommen“ worden, was nahelege, dass der Kläger die zugrundeliegenden Forderungen bezahlt habe. Auch dass der Kläger seinen Klägervertreter in den andauernden Rechtsstreiten bezahle, lasse darauf schließen, dass er ggf. andere Gläubiger – insbesondere das Land Rheinland-Pfalz – benachteilige. Aus der fehlenden Bereitschaft des Beklagten, einen Massekostenvorschuss zu zahlen, könne hingegen nicht auf die fehlende Masseerwartung geschlossen werden, da umgekehrt auch die Übernahme eines solchen Vorschusses signalisieren könne, dass der Antragsteller (sonst) keine Insolvenzmasse erwarte.
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Auf Hinweisschreiben des Gerichts vom 21. April 2021 (Bl. 66 f. Gerichtsakte) hat der Beklagte mit Schreiben vom 6. Mai 2021 (Bl. 69 ff. Gerichtsakte) ausgeführt, es werde „die Ermessensentscheidung (soweit dies noch nicht erfolgt ist) nun ausführlich begründet“, und auf weiteren gerichtlichen Hinweis (Bl. 76 f. Gerichtsakte) ein weiteres Schreiben vom 8. Juni 2021 mit Ausführungen übersandt (Bl. 98 f. Gerichtsakte) Auf beide Schreiben, die Ausführungen zum Stand des Vollstreckungsverfahrens, zum Entschließungs- und zum Auswahlermessen enthalten, wird umfassend Bezug genommen.
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Wegen der weiteren Einzelheiten im Rahmen der mündlichen Verhandlung wird auf das Protokoll der Verhandlung (Bl. 109 ff. Gerichtsakte) Bezug genommen.
Entscheidungsgründe
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I.
Das Gericht konnte nach seinem Hinweis an den Klägervertreter mit der Ladung zur mündlichen Verhandlung, dass gemäß § 91 Abs. 2 FGO auch ohne Erscheinen des Klägers oder des Klägervertreters verhandelt werden könne (Bl. 77 f. Gerichtsakte), trotz des angekündigten (Bl. 108 Gerichtsakte) Nichterscheinens des Klägers und des Klägervertreters über die vorliegende Klage verhandeln.
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Die Klage ist als allgemeine Leistungsklage zulässig.
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Die Frage, unter welchen Voraussetzungen eine Finanzbehörde aufgrund von Steuerforderungen im Rahmen der Vollstreckung einen Insolvenzantrag stellen darf, richtet sich grundsätzlich nach den steuerlichen Vorschriften der AO (vgl. § 251 Abs. 1 AO) und ist daher durch das Finanzgericht überprüfbar, während für die Entscheidung über die Eröffnung eines Insolvenzverfahrens sowie im Rahmen eines eröffneten Verfahrens die Vorschriften der Insolvenzordnung (InsO), die den Maßstab für den Prüfungsumfang bilden und die Prüfung durch das Insolvenzgericht eröffnen, nach § 251 Abs. 2 AO „unberührt bleiben“ (BFH, Beschluss vom 12. Dezember 2003 – VII B 265/01 –, BFH/NV 2004, 464).
- 45
Für den begehrten Rechtschutz gegen den vom Beklagten gestellten Insolvenzantrag ist der Rechtsweg zum Finanzgericht gemäß § 33 Abs. 1 Nr. 1 i.V.m. Abs. 2 FGO eröffnet. Trotz seiner Rechtsnatur als Vollstreckungsmaßnahme bedarf es hierbei vor der Erhebung einer finanzgerichtlichen Klage gegen einen finanzbehördlichen Insolvenzantrag keines Verwaltungsvorverfahrens nach § 44 FGO, weil dem Antrag der verbindliche Regelungscharakter eines Verwaltungsakts fehlt. Vielmehr handelt es sich insofern um ein schlicht hoheitliches Handeln, weil das Insolvenzverfahren durch einen solchen Antrag nicht unmittelbar selbst eröffnet, sondern lediglich dessen Einleitung angestrebt wird. Finanzgerichtlicher Rechtsschutz gegen einen finanzbehördlichen Insolvenzantrag kann deshalb nur durch Erhebung einer Leistungsklage nach § 40 Abs. 1 FGO auf Verurteilung des Finanzamtes zur Antragsrücknahme erreicht werden. Das Rechtsschutzbedürfnis für ein solches finanzgerichtliches Verfahren besteht solange, bis das Insolvenzgericht die Eröffnung des Insolvenzverfahrens beschlossen oder den Eröffnungsantrag des Finanzamtes mangels einer die Kosten des Verfahrens deckenden Masse rechtskräftig abgelehnt hat (ständige Rechtsprechung, vgl. BFH, Beschluss vom 11. Dezember 1990 – VII B 94/90 –, BFH/NV 1991, 787; BFH, Beschluss vom 15. Februar 2002 – XI S 32/01 –, BFH/NV 2002, 940; BFH, Beschluss vom 25. Februar 2011 – VII B 226/10 –, BFH/NV 2011, 1017; BFH, Beschluss vom 28. Februar 2011 – VII B 224/10 –, BFH/NV 2011, 763; FG Münster, Beschluss vom 15. März 2000 – 12 V 1054/00 AO –, EFG 2000, 634; FG Hamburg, Beschluss vom 27. Juni 2003 – VII 113/03 –, juris; FG Saarland, Urteil vom 17. März 2004 – 1 K 437/02 –, EFG 2004, 1021; FG Berlin, Urteil vom 21. September 2004 – 7 K 7182/04 –, EFG 2005, 11; FG Köln, Urteil vom 9. November 2004 – 15 K 4934/04 –, EFG 2005, 372; FG Hamburg, Beschluss vom 18. Mai 2017 – 2 V 117/17 –, EFG 2017, 1364).
- 46
Deshalb besteht vorliegend das Rechtschutzbedürfnis des Klägers im Streitfall noch, weil eine derartige Entscheidung im Zeitpunkt der gerichtlichen Entscheidung noch nicht durch das zuständige Amtsgericht – Insolvenzgericht – getroffen wurde.
- 47
II.
Die Klage ist auch begründet, da der Antrag des Beklagten auf Eröffnung des Insolvenzverfahrens über das Vermögen des Klägers vom 5. November 2020 ermessensfehlerhaft und somit rechtswidrig war.
- 48
1.
Die Entscheidung einer Finanzbehörde, die Eröffnung des Insolvenzverfahrens über das Vermögen eines Steuerschuldners zu beantragen, ist eine komplexe Ermessensentscheidung, in die Belange des Steuerpflichtigen ebenso einzustellen sind wie solche der Allgemeinheit. Die Entscheidung ist in der Regel auch zu begründen. Gründe dafür, dass vorliegend eine Ermessensreduktion auf Null dahingehend vorliegt, dass der Beklagte als (letzte) Vollstreckungsmaßnahme (nur noch) einen Insolvenzantrag stellen konnte und musste, waren weder vorgetragen noch für das Gericht erkennbar.
- 49
a)
Der Antrag auf Eröffnung des Insolvenzverfahrens kann gestellt werden, wenn dem Finanzamt ein Anspruch zusteht, der ihm im Insolvenzverfahren die Stellung eines Insolvenzgläubigers vermittelt, und wenn ein Insolvenzgrund vorliegt (BFH, Beschluss vom 12. Dezember 2005 – VII R 63/04 –, BFH/NV 2006, 900; BFH, Beschluss vom 28. Februar 2011 – VII B 224/10 –, BFH/NV 2011, 763; FG Köln, Beschluss vom 19. März 2009 – 15 V 111/09 –, EFG 2009, 1128).
- 50
Prüfungsmaßstab des Finanzgerichts ist dabei nicht die Zulässigkeit und Begründetheit des Insolvenzantrags nach den spezialgesetzlichen Regelungen in der InsO; diese Prüfung obliegt nach § 2 Abs. 1 InsO allein dem Insolvenzgericht. Ein Insolvenzantrag der Finanzbehörde ist vielmehr aus finanzverfahrensrechtlicher Sicht rechtswidrig, wenn die allgemeinen Vollstreckungsvoraussetzungen nicht vorliegen (§ 249 Abs. 1, § 251 Abs. 1, § 254 AO), ein Eröffnungsgrund nicht glaubhaft gemacht ist (§ 16 InsO) oder der Antrag trotz des Bestehens eines Eröffnungsgrundes ermessensfehlerhaft ist (vgl. FG Köln, Urteil vom 9. November 2004 – 15 K 4934/04 –, EFG 2005, 372; FG Sachsen, Beschluss vom 1. Juni 2007 – 1 V 990/07 –, Rn. 5, juris; FG Hessen, Beschluss vom 25. April 2013 – 1 V 495/13 –, juris; FG München, Beschluss vom 23. Juli 2009 – 14 V 1869/09 –, juris).
- 51
b)
Die Ermessensentscheidung des Finanzamts, einen Antrag auf Eröffnung des Insolvenzverfahrens über das Vermögen eines Steuerschuldners zu stellen, kann in jedenfalls analoger Anwendung des § 102 FGO (vgl. FG Hamburg, Beschluss vom 27. Juni 2003 – VII 113/03 –, juris; FG Sachsen-Anhalt, Beschluss vom 24. September 2015 – 3 V 916/15 –, EFG 2015, 2194; vertiefend dazu unter Gliederungspunkt c); sogar ohne den Zusatz einer analogen Anwendbarkeit: BFH, Beschluss vom 1. Februar 2005 – VII B 180/04 –, BFH/NV 2005, 1002; BFH, Beschluss vom 28. Februar 2011 – VII B 224/10 –, BFH/NV 2011, 763) von den Finanzgerichten nur daraufhin überprüft werden, ob die Grenzen des Ermessens überschritten sind, ob von dem Ermessen in einer dem Zweck der Ermächtigung nicht entsprechenden Weise Gebrauch gemacht worden ist oder ob eine Ermessensunterschreitung bzw. ein Ermessensmissbrauch vorliegen (BFH, Beschluss vom 12. Dezember 2003 – VII B 265/01 –, BFH/NV 2004, 464; BFH, Beschluss vom 12. Dezember 2005 – VII R 63/04 –, BFH/NV 2006, 900; BFH, Beschluss vom 28. Februar 2011 – VII B 224/10 –, BFH/NV 2011, 763; FG Hessen, Beschluss vom 25. April 2013 – 1 V 495/13 –, juris; FG Sachsen-Anhalt, Beschluss vom 24. September 2015 – 3 V 916/15 –, EFG 2015, 2194).
- 52
Entscheidend für die Beurteilung der Rechtmäßigkeit eines vom Finanzamt gestellten Insolvenzantrags ist der Zeitpunkt der abschließenden Beratung des Gerichts, nicht etwa der Zeitpunkt der letzten Behördenentscheidung (FG München, Beschluss vom 9. November 2012 – 7 V 3251/12 –, juris; FG Sachsen-Anhalt, Beschluss vom 24. September 2015 – 3 V 916/15 –, EFG 2015, 2194; FG Hamburg, Beschluss vom 18. Mai 2017 – 2 V 117/17 –, EFG 2017, 1364; FG München, Beschluss vom 24. Juli 2018 – 7 V 1728/18 –, juris; offen lassend: BFH, Beschluss vom 28. Februar 2011 – VII B 224/10 –, BFH/NV 2011, 763).
- 53
c)
Nach den Rechtsmaßstäben zur finanzbehördlichen Insolvenzantragstellung ist wegen der Befugnis und Verpflichtung des Gerichts zur Überprüfung behördlicher Ermessensentscheidungen, die dem Gericht keinen Raum für eigene Ermessenserwägungen lassen (§ 102 Satz 1 FGO), grundsätzlich eine Begründung von Ermessensentscheidungen über die Stellung eines Insolvenzantrags durch eine Finanzbehörde zu verlangen, in der die angestellten Überlegungen und der Gang des Abwägungsprozesses erkennbar werden. Nur in Ausnahmefällen kann von einer Begründung abgesehen werden, wenn dem Betroffenen die Auffassung des Finanzamts über die Sach- und Rechtslage bereits bekannt oder auch ohne schriftliche Begründung für ihn ohne Weiteres erkennbar ist (BFH, Beschluss vom 26. Februar 2007 – VII B 98/06 –, BFH/NV 2007, 1270 mit weiteren Nachweisen; FG München, Beschluss vom 29. August 2013 – 5 V 2425/13 –, juris; FG Sachsen-Anhalt, Beschluss vom 24. September 2015 – 3 V 916/15 –, EFG 2015, 2194).
- 54
Dabei müssen aus der Entscheidung die bei der Ausübung des Verwaltungsermessens angestellten Erwägungen – die Abwägung des Für und Wider (BFH, Urteil vom 11. März 2004 – VII R 52/02 –, BFHE 205, 14, BStBl II 2004, 579) – in Form einer Abwägung der Belange des Schuldners einschließlich der wirtschaftlichen Auswirkungen einerseits mit dem Prinzip der Gleichmäßigkeit der Besteuerung andererseits (FG Sachsen-Anhalt, Beschluss vom 24. September 2015 – 3 V 916/15 –, EFG 2015, 2194) erkennbar sein.
- 55
Gemäß § 102 Satz 2 FGO in der Fassung des Gesetzes zur Änderung steuerlicher Vorschriften (Steueränderungsgesetz 2001 – StÄndG 2001 –) vom 20. Dezember 2001 (BGBl I 2001, 3794) kann die Finanzbehörde ihre Ermessenserwägungen hinsichtlich des Verwaltungsaktes bis zum Abschluss der Tatsacheninstanz eines finanzgerichtlichen Verfahrens ergänzen. Allerdings gestattet § 102 Satz 2 FGO es der Finanzbehörde nur, bereits an- oder dargestellte Ermessenserwägungen zu vertiefen, zu verbreitern oder zu verdeutlichen. Nicht befugt ist sie hingegen, Ermessenerwägungen im finanzgerichtlichen Verfahren erstmals anzustellen, die Ermessensgründe auszuwechseln oder vollständig nachzuholen. Eine Heilung der behördlichen Entscheidung bei fehlerhaftem Entschließungs- oder Auswahlermessen, Über- oder Unterschreitung des Ermessens sowie bei erheblichen Mängeln in der Sachverhaltsermittlung ist im Wege einer Ergänzung nach § 102 Satz 2 FGO nicht möglich (ständige Rechtsprechung, statt vieler: BFH, Urteil vom 11. März 2004 – VII R 52/02 –, BFHE 205, 14, BStBl II 2004, 579; BFH, Beschluss vom 9. November 2004 – VI B 39/02 –, BFH/NV 2005, 378; BFH, Urteil vom 1. Juli 2008 – II R 2/07 –, BFHE 222, 68, BStBl II 2008, 897; BFH, Urteil vom 24. April 2014 – IV R 25/11 –, BFHE 245, 499, BStBl II 2014, 819; BFH, Urteil vom 27. November 2019 – XI R 56/17 –, BFH/NV 2020, 775).
- 56
Soweit der Beklagte vorträgt, dass zumindest § 102 Satz 2 FGO auf allgemeine Leistungsklagen nicht anwendbar sei, sodass die Finanzbehörden auch noch nach Stellung des Insolvenzantrags erstmalige Ermessenserwägungen anstellen dürften, und sich hierbei auf Entscheidungen der Finanzgerichte Saarland und Berlin beruft (FG Saarland, Urteil vom 17. März 2004 – 1 K 437/02 –, EFG 2004, 1021; FG Berlin, Urteil vom 21. September 2004 – 7 K 7182/04 –, EFG 2005, 11), teilt das Gericht diese Auffassung nicht. Einerseits hat der BFH mit Beschluss vom 28. Februar 2011 (BFH, Beschluss vom 28. Februar 2011 – VII B 224/10 –, BFH/NV 2011, 763) in Kenntnis beider Entscheidungen, die er – wenn auch hinsichtlich des relevanten Zeitpunkts, auf den zur Prüfung der Rechtmäßigkeit der Insolvenzantragstellung abzustellen sei – zitierte, ohne weitere Problematisierung „§ 102 FGO“ als Prüfungsmaßstab der gerichtlichen Überprüfung auch im Rahmen der Prüfung der allgemeinen Leistungsklage gegen Insolvenzanträge von Finanzbehörden benannt. Eine Einschränkung dahingehend, dass nur § 102 Satz 1 FGO, nicht aber auch § 102 Satz 2 FGO anzuwenden wäre, nahm der BFH gerade nicht vor (ebenso auch: BFH, Beschluss vom 1. Februar 2005 – VII B 180/04 –, BFH/NV 2005, 1002).
- 57
Eine derartige Einschränkung erscheint dem Gericht auch als dogmatisch nicht begründbar, da § 102 FGO in beiden Sätzen von Ermessensentscheidungen im Rahmen von „Verwaltungsakten“ spricht. Da ein Insolvenzantrag einer Finanzbehörde aus den vorgenannten Gründen gerade kein Verwaltungsakt ist, kommt § 102 FGO entweder – mit dem BFH – unmittelbar zur Anwendung, weil es sich hierbei um einen allgemeinen Rechtsgedanken zur gerichtlichen Überprüfung von Ermessensentscheidungen handelt, oder die nach ihrem Wortlaut auf „Verwaltungsakte“ beschränkte Vorschrift ist zumindest analog anzuwenden. Die Analogie folgt hierbei aus einer Regelungslücke, da die FGO für allgemeine Leistungsklagen keinen ausdrücklichen Prüfungsmaßstab für Ermessensentscheidungen zu schlicht hoheitlichem Handeln enthält. Die Planwidrigkeit dieser Lücke folgt insbesondere aus § 5 AO und Art. 19 Abs. 4 GG, wonach die Finanzbehörde bei Ermessensentscheidungen verpflichtet ist, ihr Ermessen entsprechend dem Zweck der Ermächtigung auszuüben und die gesetzlichen Grenzen des Ermessens einzuhalten. Dürfte das Gericht Ermessensentscheidungen, die nicht zu Verwaltungsakten führen, nicht überprüfen, so wäre der Steuerpflichtige insoweit schutzlos gestellt, als er die Einhaltung der Vorgaben des § 5 AO effektiv nicht überprüfen lassen könnte. Dürfte das Gericht umgekehrt eine vollständige Überprüfung von Ermessensentscheidungen auch auf ihre Zweckmäßigkeit hin vornehmen, wäre dies eine Beeinträchtigung des durch § 5 AO eingeräumten behördlichen Ermessensspielraums, der lediglich Raum lässt für eine beschränkte Überprüfung von Ermessensentscheidungen durch das Gericht. Schließlich besteht für die Bestimmung des gerichtlichen Kontrollmaßstabs für Ermessensentscheidungen im Rahmen allgemeiner Leistungsklagen ein umfassendes, gleichgerichtetes Regelungsinteresse sowohl zu § 102 Satz 1 FGO, der diesen Kontrollmaßstab bei Anfechtungs- oder Verpflichtungsklagen benennt, also auch zu § 102 Satz 2 FGO, der die Überprüfbarkeit dieses Kontrollmaßstabs dadurch absichert, dass Ermessenserwägungen nur eingeschränkt nachgeholt werden können. Warum eine Analogie sich trotz dieses gleichgerichteten Regelungsinteresses nur auf § 102 Satz 1 FGO, nicht aber auch auf § 102 Satz 2 FGO erstrecken soll, wie der Beklagte dies fordert, ist für das Gericht nicht erkennbar. Insbesondere besteht auch bei Ermessensentscheidungen zur Vornahme schlicht hoheitlichen Handelns aufgrund der gebotenen Prüfung der Rechtmäßigkeit von Ermessensentscheidungen nach § 102 Satz 1 FGO die Notwendigkeit, dass Gerichte erkennen können, ob unter Ermessensvorbehalt stehendes Verwaltungshandeln überhaupt – und damit bereits von Anfang an – als Ermessensentscheidung getroffen wurde.
- 58
Die in § 102 Satz 2 FGO enthaltene Einschränkung kann – soweit die Ermessensentscheidung einen Verwaltungsakt betrifft – nicht auf den Anwendungsbereich des § 68 Satz 1 FGO übertragen. Vielmehr stehen beide Regelungen gleichrangig nebeneinander mit der Folge, dass die Ersetzung eines Verwaltungsakts auch dann unter § 68 Satz 1 FGO fällt, wenn aus Rechtsgründen Ausführungen zur Ermessensausübung notwendig sind und der ersetzende Verwaltungsakt erstmals solche Ausführungen enthält (BFH, Urteil vom 16. Dezember 2008 – I R 29/08 –, BFHE 224, 195, BStBl II 2009, 539; BFH, Urteil vom 15. Mai 2013 – VI R 28/12 –, BFHE 241, 200, BStBl II 2013, 737; BFH, Urteil vom 12. Mai 2016 – II R 17/14 –, BFHE 253, 505, BStBl II 2016, 822).
- 59
d)
Der sich aus den Bestimmungen der InsO ergebende Prüfauftrag an die Insolvenzgerichte ist nicht deckungsgleich mit demjenigen der Ermessenskontrolle an die Finanzgerichte nach § 102 FGO i.V.m. den Vollstreckungsvorschriften der AO. Im Rahmen seiner Ermessensausübung hat die Finanzbehörde das rechtliche Interesse des privatrechtlichen Gläubigers an der Insolvenzeröffnung nach §§ 13, 14 InsO und die Beachtung des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes, vor allem aber die sich aus dem jeweiligen konkreten Steuerrechtsverhältnis ergebenden Besonderheiten umfassend zu würdigen. Hierbei gilt es insbesondere, sicherzustellen, dass die Finanzbehörde alle entscheidungserheblichen Umstände gesehen und ermessensgerecht gewürdigt hat, woraus sich das Rechtsschutzbedürfnis an einer finanzgerichtlichen Überprüfung eines vom Finanzamt gestellten Insolvenzantrags ergibt. So hat das Finanzgericht im Rahmen seiner Prüfung insbesondere die Prognose über eine für den Vollstreckungsschuldner günstige Änderung eines Grundlagenbescheids, die Erfolgsaussichten eines noch offenen Erlass- oder Stundungsantrags, die bisherige Mitwirkung des Vollstreckungsschuldners, die Aussicht, dass die Abgabenschuld von einem weiteren Gesamtschuldner beglichen wird, die Aussicht auf eine – ggf. ratenweise – Tilgung der Abgabenrückstände sowie die Berücksichtigung der steuerlichen Auswirkungen eines Insolvenzantrags, z.B. bei einer bestehenden Organschaft, in den Blick zu nehmen (BFH, Beschluss vom 25. Februar 2011 – VII B 226/10 –, BFH/NV 2011, 1017; BFH, Beschluss vom 31. August 2011 – VII B 59/11 –, BFH/NV 2011, 2105; FG Sachsen-Anhalt, Beschluss vom 24. September 2015 – 3 V 916/15 –, EFG 2015, 2194).
- 60
e)
Die in die Ermessensentscheidung grundsätzlich einstellbaren Abwägungsbelange sind vielfältig und hätten, wenn sie im vorliegenden Fall erkennbar vor der Insolvenzantragstellung vom 5. November 2020 angestellt und – beispielsweise durch Niederlegung eines dem Insolvenzantrag vorangestellten umfassenden Aktenvermerks in der Vollstreckungsakte oder spätestens im Insolvenzantrag vom 5. November 2020 selbst – justiziabel dokumentiert worden wären, als einzelne Abwägungsbelange auch in der Entscheidungsfindung des Beklagten berücksichtigt werden können.
- 61
So zeigt beispielsweise das Zusammenspiel von § 251 Abs. 1 und Abs. 2 AO, dass die Beantragung eines Insolvenzverfahrens aufgrund vollziehbarer, aber noch nicht bestandskräftiger Steuerforderungen nicht grundsätzlich als ermessensfehlerhaft beanstandet werden könnte, wenn die Finanzbehörde als einziger Gläubiger, gestützt auf vollziehbare Steuerforderungen, die Vollstreckung durch Stellen eines Insolvenzantrags betreiben würde. Die Annahme, dass im Betrieb des Steuerpflichtigen bewegliches Vermögen nicht mehr zu pfänden ist, ist nicht gleichzusetzen mit der Kenntnis oder einer zu unterstellenden Kenntnis des Finanzamts, dass eine die Kosten des Verfahrens deckende Insolvenzmasse nicht mehr vorhanden ist. Denn im Insolvenzverfahren sind umfänglich alle Vermögenswerte aufzudecken, also auch Grundvermögen und beiseite geschafftes oder ins Ausland gebrachtes bewegliches Vermögen, das dem Schuldner zur Zeit der Insolvenzeröffnung gehört, sowie solches Vermögen, das er während des Verfahrens erlangt (§ 35 InsO). Wer davon ausgeht oder davon ausgehen darf, dass der Schuldner pfändbares bewegliches Vermögen nicht mehr besitzt, muss nicht zwangsläufig die genauen Gesamtvermögensverhältnisse des Schuldners kennen oder kennen müssen (BFH, Beschluss vom 12. Dezember 2003 – VII B 265/01 –, BFH/NV 2004, 464; BFH, Beschluss vom 1. Februar 2005 – VII B 180/04 –, BFH/NV 2005, 1002; BFH, Beschluss vom 12. Dezember 2005 – VII R 63/04 –, BFH/NV 2006, 900; FG Sachsen, Beschluss vom 2. Juli 2013 – 6 K 813/13 –, juris).
- 62
Dem Finanzamt wäre es auch nicht grundsätzlich verwehrt, den Antrag auf Eröffnung des Insolvenzverfahrens vor der endgültigen Bescheidung eines schriftlich gestellten Antrags auf Gewährung von Vollstreckungsaufschub zu stellen (BFH, Beschluss vom 12. Dezember 2005 – VII R 63/04 –, BFH/NV 2006, 900).
- 63
Ein Ermessensfehler wäre auch nicht darin zu sehen, dass die den Steuerforderungen zugrundeliegenden Steuerfestsetzungen teilweise auf Schätzungen nach § 162 AO beruhen (FG Köln, Urteil vom 9. November 2004 – 15 K 4934/04 –, EFG 2005, 372; FG München, Beschluss vom 9. November 2012 – 7 V 3251/12 –, juris) oder unter Vorbehalt der Nachprüfung nach § 164 AO stehen (BFH, Beschluss vom 11. Dezember 1990 – VII B 94/90 –, BFH/NV 1991, 787; FG Köln, Urteil vom 9. November 2004 – 15 K 4934/04 –, EFG 2005, 372).
- 64
f)
Die Frage, ob nach einer ergebnislos verlaufenen Forderungspfändung vor der Stellung des Antrags auf Eröffnung des Insolvenzverfahrens noch weitere Vollstreckungsmaßnahmen ergriffen werden müssen, hängt von den Umständen des Einzelfalls ab.
- 65
Kommt eine Finanzbehörde etwa zu dem Ergebnis, dass weitere Erfolg versprechende Maßnahmen der Zwangsvollstreckung, insbesondere eine Sachpfändung, nicht in Betracht kommen, weil der Steuerpflichtige seinen Geschäftsbetrieb eingestellt und sämtliches Inventar veräußert hatte, und scheidet ferner die Inanspruchnahme eines Haftungsschuldners aus, stellt es keinen Ermessensfehler dar, wenn das Finanzamt vor Stellung des Insolvenzantrags auf eine weitere „fruchtlose“ Pfändung beim Schuldner verzichtet (BFH, Beschluss vom 12. Dezember 2003 – VII B 265/01 –, BFH/NV 2004, 464, vgl. auch BFH, Beschluss vom 12. Dezember 2005 – VII R 63/04 –, BFH/NV 2006, 900; FG München, Beschluss vom 9. November 2012 – 7 V 3251/12 –, juris).
- 66
Einem Antrag auf Eröffnung des Insolvenzverfahrens liegt zudem nicht von vornherein ein Ermessensfehler zugrunde, wenn die Finanzbehörde zuvor an den Steuerschuldner keine Aufforderung zur Abgabe der eidesstattlichen Versicherung gerichtet hat. Vielmehr kommt es auf die Umstände des jeweiligen Einzelfalls an, ob eine Vorgehensweise nach § 284 Abs. 1 i.V.m. Abs. 2 AO vor Antragstellung erforderlich ist und ob sich ein Absehen von der Durchführung solcher Vollstreckungsmaßnahmen als ermessensfehlerhaft darstellen würde (BFH, Beschluss vom 12. Dezember 2005 – VII R 63/04 –, BFH/NV 2006, 900; BFH, Beschluss vom 26. Februar 2007 – VII B 98/06 –, BFH/NV 2007, 1270; FG München, Beschluss vom 9. November 2012 – 7 V 3251/12 –, juris).
- 67
Im Übrigen wäre die Stellung eines Insolvenzantrags nach höchstrichterlicher Rechtsprechung auch dann verhältnismäßig und ermessensgerecht, wenn er – als so genannte rückstandsunterbindende Maßnahme – die Vermeidung weiterer Steuerrückstände bezwecken würde, da die Einleitung eines Insolvenzverfahrens auch dazu dient, den Schuldner vor einer weiteren Verschuldung zu bewahren und bei einem für ihn günstigen Verlauf die Existenz zu sichern (BFH, Beschluss vom 26. Februar 2007 – VII B 98/06 –, BFH/NV 2007, 1270; FG München, Beschluss vom 23. Juli 2009 – 14 V 1869/09 –, juris). Daher könnte eine Ermessensentscheidung des Finanzamtes, einen Insolvenzantrag insbesondere trotz Begleichung der Steuerschulden aufrecht zu erhalten, im Einzelfall nicht zu beanstanden sein. Denn die Insolvenzantragsmöglichkeit des Finanzamts hat gerade den Zweck, insbesondere für den Fiskus und die Sozialversicherungsträger die Möglichkeit zu schaffen, die wirtschaftliche Tätigkeit insolventer Unternehmen einzuschränken und die Zahlungsfähigkeit des Schuldners möglichst frühzeitig abzuklären, da diese Gläubiger im Gegensatz zu privaten Gläubigern nicht die Möglichkeit haben, nach Begleichung der Forderung die Verbindung zum Schuldner einseitig zu beenden (FG Sachsen, Beschluss vom 28. März 2013 – 3 V 271/13 –, juris).
- 68
g)
Ein Verstoß gegen den bei der Ermessensausübung zu beachtenden Grundsatz der Verhältnismäßigkeit und damit ein Ermessensfehler läge hingegen vor, wenn sich das Finanzamt vor der Antragstellung nicht davon hinreichend überzeugt hat, dass die Voraussetzungen für einen solchen Antrag vorlagen und dass keine im Rahmen des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes zu beachtenden weniger einschneidenden Einzelvollstreckungsmaßnahmen zur Verfügung standen. Gerade Letzteres ist Ausdruck dessen, dass der Antrag auf Eröffnung des Insolvenzantrags wegen seiner extrem einschneidenden Wirkung gegenüber dem Vollstreckungsschuldner bis hin zu dessen Existenzvernichtung als ultima ratio anzusehen ist und als die einschneidendste und gefährlichste Maßnahme der Vollstreckung erst dann in Betracht kommt, wenn weniger belastende Maßnahmen der Einzelzwangsvollstreckung ausgeschöpft sind oder keine Aussicht auf Erfolg versprechen (FG Köln, Beschluss vom 19. März 2009 – 15 V 111/09 –, EFG 2009, 1128; FG Hessen, Beschluss vom 25. April 2013 – 1 V 495/13 –, juris; FG Sachsen, Beschluss vom 2. Juli 2013 – 6 K 813/13 –, juris). Hierbei könnten zugunsten der Insolvenzantragstellung auch Gemeinwohlaspekte und das Verhältnis zwischen der Höhe und Zunahme der zu vollstreckenden Steueransprüche zu den wirtschaftlichen Folgen der Eröffnung des Insolvenzverfahrens (FG Köln, Urteil vom 9. November 2004 – 15 K 4934/04 –, EFG 2005, 372), zugunsten des Steuerpflichtigen aber auch außersteuerliche Folgen der Insolvenz für den Steuerpflichtigen zu berücksichtigen sein (vgl. zum Verlust der Steuerberaterzulassung im Insolvenzfall etwa: BFH, Beschluss vom 1. Februar 2005 – VII B 180/04 –, BFH/NV 2005, 1002).
- 69
Positiver Anhaltspunkte für das Vorhandensein einer die Kosten des Verfahrens deckenden Masse bedarf es jedenfalls nicht. Es dürfte (als negatives Merkmal) für die Finanzbehörde lediglich nicht feststehen, dass eine die Kosten des Verfahrens deckende Insolvenzmasse nicht vorhanden ist, da der Antrag auf Eröffnung des Insolvenzverfahrens sonst nur der Existenzvernichtung des Steuerpflichtigen oder lediglich als „Druckmittel“ für die Abgabe von Steuererklärungen bzw. Steueranmeldungen dienen würde (BFH, Beschluss vom 12. Dezember 2003 – VII B 265/01 –, BFH/NV 2004, 464; BFH, Beschluss vom 1. Februar 2005 – VII B 180/04 –, BFH/NV 2005, 1002; BFH, Beschluss vom 12. Dezember 2005 – VII R 63/04 –, BFH/NV 2006, 900; BFH, Beschluss vom 28. Februar 2011 – VII B 224/10 –, BFH/NV 2011, 763; BFH, Beschluss vom 31. August 2011 – VII B 59/11 –, BFH/NV 2011, 2105; FG Köln, Urteil vom 9. November 2004 – 15 K 4934/04 –, EFG 2005, 372; FG München, Beschluss vom 9. November 2012 – 7 V 3251/12 –, juris; FG Sachsen, Beschluss vom 2. Juli 2013 – 6 K 813/13 –, juris; FG Sachsen-Anhalt, Beschluss vom 24. September 2015 – 3 V 916/15 –, EFG 2015, 2194; FG München, Beschluss vom 24. Juli 2018 – 7 V 1728/18 –, juris).
- 70
2.
Diesen Rechtsmaßstäben genügt der Insolvenzantrag des Beklagten vom 5. November 2020 bereits aus formalen, jedenfalls aber aus materiell-rechtlichen Gründen nicht.
- 71
a)
Zwar ist es – entgegen dem Klägervortrag – aus den vorgenannten Gründen nicht grundsätzlich zu beanstanden, dass sich der Beklagte zur Begründung seiner geltend gemachten Steuerforderungen auch auf solche Ansprüche aus dem Besteuerungsverhältnis bezog, denen weitgehend Schätzungsbescheide nach § 162 AO sowie – jedenfalls hinsichtlich der Einkommen-, Gewerbesteuermess- und Umsatzsteuerbescheide für 2013 und 2014 – solche unter dem Vorbehalt der Nachprüfung zugrunde lagen. Auch dass der Kläger Änderungsanträge für die Bescheide für 2010 bis 2014 gestellt und die Ablehnung der Änderung gerichtlich angefochten hatte, machte den Antrag des Beklagten nicht grundsätzlich ermessensfehlerhaft.
- 72
b)
Auch erscheint der vom Beklagten erhobene Vorwurf, dass eine mögliche Gläubigerbenachteiligung der Finanzbehörden erfolge, als nicht derart offensichtlich ausgeschlossen, dass die Insolvenzantragstellung trotz geringer Erlöse im Rahmen der Einzelvollstreckung als missbräuchlich angesehen werden könnte, selbst wenn der Beklagte selbst nicht zur Zahlung eines Massekostenvorschusses bereit gewesen war.
- 73
So ist die fehlende Bereitschaft des Beklagten, einen solchen Vorschuss zu zahlen, nicht per se dahin zu deuten, dass er von einer generell nicht zu erwartenden Masse ausging; vielmehr könnte dies auch ein Beleg dafür sein, dass der Beklagte eine entsprechende Masse erwartete, sodass er nicht selbst und einseitig eine weitere Zahlung auf eigenes Risikos leisten musste. Dies erschien auch nicht abwegig, da es dem Kläger im Vollstreckungszeitraum zumindest in den Jahren 2017 und 2018 ausweislich der vorgelegten Einnahmen-Überschuss-Rechnungen nach § 4 Abs. 3 i.V.m. § 11 EStG noch gelang, erhebliche Betriebseinnahmen in Höhe von jeweils ca. 150.000 Euro zu generieren und hiervon die für den Betrieb relevanten Gläubiger (Vermieter, Lieferanten, Vermieter, Energieversorger) sowie im Jahr 2019 auch noch die Krankenkasse als Sozialversicherungsträger zu befriedigen, während er an den Beklagten keinerlei freiwilligen Zahlungen leistete und von ihm im Wege der Einzelvollstreckung lediglich geringe Beträge in Höhe von 655,10 Euro erlangt werden konnten. Dies legt eine mindestens disquotale Befriedigung nahe und hätte ggf. Anlass zu möglichen Anfechtungsansprüchen geben können.
- 74
c)
Allerdings lassen weder der Insolvenzantrag des Beklagten vom 5. November 2020 selbst noch etwaige zu dessen Vorbereitung ergangene Aktenbestandteile – etwa entsprechende Vermerke zu den Überlegungen der zuständigen Sachbearbeiter des Beklagten zur Stellung eines Insolvenzantrags – irgendeine Abwägung zwischen dem – berechtigten – Belangen des Beklagten an der Beitreibung der offenen Steuerbeträge einerseits und den Belangen des Klägers erkennen.
- 75
aa)
Insbesondere warum sich der Beklagte nach Eingang der Mitteilung der I-Bank vom 4. November 2020, dass sie dem Ersuchen des Beklagten auf Einzelzwangsvollstreckung mangels bestehender Geschäftsbeziehung mit dem Kläger nicht entsprechen könne, bereits am unmittelbar darauf folgenden Tag (5. November 2020) zur Stellung eines Insolvenzantrags entschied, obwohl er sich zu keinem Zeitpunkt einen persönlichen Eindruck von den wirtschaftlichen und Lebensverhältnissen des Klägers, etwa durch Betretung der Wohn- und Geschäftsräume des Klägers durch Vollstreckungsbeamten des Beklagten, verschafft hatte und obwohl Divergenzen zwischen der amtlichen Kontoauskunft und den Angaben des Klägers zu seinen Konten bestanden, bleibt dadurch letztlich ungeklärt. Der bloße, unbelegt gebliebene Vortrag der Beklagtenvertreterin im Rahmen der mündlichen Verhandlung, dass eine solche Abwägung erfolgt sei, genügt aufgrund der fehlenden Dokumentation der Entscheidung nicht.
- 76
bb)
Auch lässt sich dem Antrag bereits in keiner Weise – weder ausdrücklich noch im Wege der Auslegung – entnehmen, dass dem Beklagten grundsätzlich bewusst war, dass es sich bei der Insolvenzantragstellung um eine Ermessensentscheidung handelt; jedenfalls aus der Antragstellung erst nach der Ergreifung von Maßnahmen der Einzelzwangsvollstreckung lässt sich dies nicht ableiten. Eine Unterscheidung in verschiedene Formen und Gründe des Ermessens (Entschließungs- und Auswahlermessen) ist in keiner Weise erkennbar.
- 77
cc)
In die Entscheidung wird auch kein einziger der verschiedenen Belange des Klägers, die durch eine solche Insolvenzantragstellung betroffen waren, eingestellt oder auch nur angesprochen. Weder werden die Auswirkungen auf die erwerbswirtschaftliche Tätigkeit des Klägers im Allgemeinen noch auf die gewerbeerlaubnisrechtliche Problematik des drohenden Verlusts der Gaststättenerlaubnis des Klägers, der ein Restaurant betrieb, im Besonderen beleuchtet, obwohl die Insolvenzeröffnung mit hoher Wahrscheinlich eine Gewerbeuntersagung und damit ein faktisches Berufsverbot für den Kläger zur Folge gehabt hätte. Die hierdurch ausgelösten wirtschaftlichen Folgen – auch für die Fähigkeit des Klägers, künftig Steuerzahlungen zu leisten – werden nicht beleuchtet. Vielmehr führt der Beklagte allein Aspekte an, die aus seiner Sicht für einen Insolvenzantrag sprechen; die gebotene Abwägung mit den Belangen des Klägers, die dagegen sprechen könnten, fehlt hingegen.
- 78
dd)
Außerdem wird den Besonderheiten des Einzelfalls nur unzureichend Rechnung getragen.
- 79
So berücksichtigte der Beklagte in keiner Weise, dass er dem Kläger in dem finanzgerichtlichen Eilrechtschutz-Verfahren 4 V 2226/17 bereits mit Schreiben vom 6. Dezember 2017 Vollstreckungsaufschub „bis zur Entscheidung über die Rechtsbehelfe betreffend die Bescheide 2013 und 2014“ gewährt hatte. Hier hätte sich der Beklagte mindestens mit der Reichweite dieser Zusage, der Auslegung dieser Erklärung aus Sicht eines objektiven Dritten und folglich mit der Frage seiner etwaigen Bindung an diese Zusage auseinandersetzen müssen. Die Auslegung der Erklärung dahingehend, dass der Beklagte sich durch die Formulierung „Rechtsbehelfe“ nicht auf das Einspruchs-, sondern auch auf das nachfolgende Klage- und ggf. Rechtsmittelverfahren bezog, ist jedenfalls nicht fernliegend oder offensichtlich ausgeschlossen. Der bloße – und zudem erst nach Stellung des Insolvenzantrags vom 5. November 2020 ergangene – Verweis des Beklagten, dass der Kläger gegen die Einspruchsentscheidung betreffend die Ablehnung der einstweiligen Einstellung der Zwangsvollstreckung nach § 258 AO nicht vorgegangen sei, genügt hierfür nicht.
- 80
Nicht berücksichtigt wurde auch, dass der Kläger zwar bei drei Pfändungsversuchen nicht anzutreffen war, von denen aber ein Pfändungsversuch unter einer nicht mehr existenten Geschäftsanschrift des Klägers und ein weiterer Pfändungsversuch unangekündigt unter seiner Wohnanschrift erfolgt waren. Somit wurde der Kläger lediglich bei einem Pfändungsversuch, von dem er Kenntnis erlangt haben könnte, nicht angetroffen, ohne dass die Gründe hierfür durch den Beklagten ermittelt oder erörtert wurden. Eine tatsächliche Überprüfung des Klägers und seiner Räume auf pfändbare Wertsachen hatte indes gerade nicht stattgefunden, da ein beantragter und erlassener Durchsuchungsbeschluss gerade nicht vollzogen worden war.
- 81
Auch inwiefern eine Einzelvollstreckung in die durch den Kläger erzielten erheblichen Betriebseinnahmen aus dem Betrieb seines Restaurants zur Erreichung einer jedenfalls quotalen Befriedigung aller Gläubiger des Klägers möglich gewesen wäre, ist nicht erörtert. Schließlich fehlten Ermittlungen zu den divergierenden Bankkonten des Klägers (und ggf. auch seines noch minderjährigen Sohnes), die sich zwischen der Bankanfrage vom 21. November 2018 und der Vermögensauskunft vom 27. Juli 2020 ergeben (zwei Konten bei der N-Bank und eines bei der Bausparkasse; Schicksal etwaiger Guthaben auf zwischenzeitlich aufgelöstem I-Bank-Konto; keine Konten seines minderjährigen Sohnes bei der Volksbank und nunmehr Konten bei der U-Bank) und ggf. Anfechtungsansprüche begründen könnten. Dies waren jedoch Aspekte, die jedenfalls im Rahmen der erforderlichen Verhältnismäßigkeitsaspekte einzustellen gewesen und daher auch im Rahmen einer begründeten Ermessensentscheidung darzustellen gewesen wären.
- 82
Unabhängig davon hatte sich der Beklagte in dem Antrag vom 5. November 2020 in keiner Weise mit den Erfolgsaussichten der diversen Rechtsbehelfe des Klägers gegen die den Steuerforderungen zugrundeliegenden Bescheide (z.B. Nichtzulassungsbeschwerde betreffend Einkommensteuer- und Gewerbesteuermessbescheide für 2013 und 2014; ausdrücklich gestellte Änderungsanträge für Bescheide, die jedenfalls teilweise noch unter dem Vorbehalt der Nachprüfung standen) auseinandergesetzt.
- 83
3.
Dieser faktische Ermessensausfall bewirkt, dass es keine Ermessenserwägungen gibt, die durch den Beklagten in der Folge dann ggf. noch zu vertiefen, zu verbreitern oder zu verdeutlichen gewesen wären. Vielmehr war der Beklagte aus den vorgenannten Rechtsgründen nicht befugt, Ermessenerwägungen im finanzgerichtlichen Verfahren erstmals anzustellen bzw. oder vollständig nachzuholen.
- 84
Eine Heilung der behördlichen Entscheidung vom 5. November 2020 war daher nicht möglich, sodass es auf die im Klageverfahren angestellten Ermessenserwägungen des Beklagten, insbesondere mit Schreiben vom 6. Mai 2021, nicht mehr ankommt. Inwiefern der Regelungsgedanke des § 68 Satz 1 FGO aufgrund der finanzbehördlichen Schreiben vom 6. Mai 2021 und 8. Juni 2021 auch im Rahmen der allgemeinen Leistungsklage (analog) anzuwenden war, bedurfte vorliegend keiner Entscheidung mehr, da dies nach Auffassung des Gerichts jedenfalls erfordert hätte, dass ein geänderter Insolvenzantrag an das zuständige Amtsgericht – Insolvenzgericht – gestellt würde. Dies ist indes nicht erfolgt.
- 85
4.
Ob die weiteren Voraussetzungen für die Rechtmäßigkeit des Antrags einer Finanzbehörde auf Eröffnung des Insolvenzverfahrens über das Vermögen des Steuerschuldners vorlagen, bedurfte somit keiner Entscheidung mehr.
- 86
III.
Die Kostenentscheidung folgt aus § 135 Abs. 1 FGO. Gründe für eine Zulassung der Revision bestanden aufgrund der einzelfallbezogenen Anwendung höchstrichterlich geklärter Rechtsmaßstäbe nicht. Der Ausspruch über die vorläufige Vollstreckbarkeit ohne Abwendungsbefugnis beruht auf §§ 151 Abs. 3, 155 FGO i.V.m. §§ 708 Nr. 10 i.V.m. § 713 ZPO, weil die Revision nicht zuzulassen war.
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