Beschluss vom Landgericht Hamburg - 609 Vollz 98/15

Tenor

1. Der Sofortvollzug der Disziplinarmaßnahme vom 13.08.2015 wird bis zum Abschluss des Hauptsacheverfahrens vorläufig ausgesetzt.

2. Die Kosten des Verfahrens und die notwendigen Auslagen des Antragstellers trägt die Staatskasse.

3. Der Gegenstandswert wird auf 500,00 € festgesetzt.

Gründe

I.

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Der Antragsteller wendet sich mit seinem Eilantrag gegen die Anordnung einer Disziplinarmaßnahme.

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Am 17.07.2015 wurden im Haftraum des Antragstellers zwei Tabletten „S. ... gefunden. In einer ersten Anhörung am 20.07.2015 äußerte der Gefangene u. a. , zur Sache keine Angaben machen zu können, die Tabletten nicht zu kennen und den Besitz zu bestreiten. Außerdem äußerte er den Wunsch, zur Disziplinarverhandlungen seinen Rechtsanwalt hinzuziehen zu wollen. Am Morgen des 10.08.2015 wurde dem Antragsteller mitgeteilt, dass am 13.08.2015 in der Sache eine Disziplinarverhandlung stattfinden soll. Mit Schreiben vom 11.08.2015, bei der Antragsgegnerin am selben Tag um 11.41 Uhr eingegangen, zeigte der Bevollmächtigte des Antragstellers dessen Vertretung in der Disziplinarsache an. Gleichzeitig bat er wegen urlaubsbedingter Ortsabwesenheit um Verlegung des Anhörungstermins. Eine Reaktion auf den Antrag erfolgte nicht. Die Disziplinarverhandlung wurde am 13.08.2015 in Abwesenheit des Bevollmächtigten und des Antragstellers, der eine Teilnahme ablehnte, durchgeführt.

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Im Anschluss an die Disziplinarverhandlung wurde gegen den Antragsteller der Entzug der Verfügung über das Hausgeld und den Einkauf für einen Monat verhängt.

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Am 28.08.2015 hat der Antragsteller den vorliegenden Antrag gestellt. Zur Begründung trägt er vor, dass seine Rechte auf eine zweckentsprechende Vertretung gänzlich missachtet worden seien. Im Nachhinein habe der Antragsteller sich erinnert, dass er die Tabletten im Spätherbst 2014 wegen Schlafstörungen verschrieben und ausgehändigt bekommen habe. Nachdem er das Schlafmittel nicht mehr benötigt habe, habe er sie vergessen.

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Der Antragsteller beantragt,

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die Vollziehung der Disziplinarmaßnahme bis zur Entscheidung in der Hauptsache auszusetzen.

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Die Antragsgegnerin beantragt,

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den Antrag abzulehnen.

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Zur Begründung ist im Wesentlichen ausgeführt: Der für die Disziplinarverhandlung zuständige Vollzugsleiter habe von dem Schreiben des Rechtsanwalts erst nach der Disziplinarverhandlung am 13.08.2015 Kenntnis erhalten. Aufgrund erheblicher anderweitiger Inanspruchnahme habe er sein Postfach über Tage nicht einsehen können. Jedoch habe sich weder der Antragsteller noch sein Vertreter z. B. telefonisch versichert, ob das Schreiben eingegangen und berücksichtigt worden sei, obwohl ihnen keine Terminsverlegung mitgeteilt worden sei. Darüber hinaus hätte der Antragsteller bereits seit der ersten Anhörung am 20.07.2015 Zeit gehabt, sich auf die Disziplinarverhandlung vorzubereiten und einen Rechtsbeistand beizuziehen. Zudem sei dem Antragsteller der Termin für die mündliche Disziplinarverhandlung am 13.08.2015 bereits am 10.08.2015 mitgeteilt worden. Ein Disziplinarverfahren sei beschleunigt zu betreiben, weshalb eine Terminsverlegung auch nur ausnahmsweise in Betracht komme. Für das Vorliegen eines Ausnahmegrundes gebe es keine Anhaltspunkte. Wegen weiterer Einzelheiten wird auf den Schriftsatz vom 16.09.2015 Bezug genommen (Bl. 14 – 17 der Akte).

II.

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Der zulässige Eilantrag ist begründet.

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Im Rahmen der nach § 114 Abs. 2 Satz 1 StVollzG gebotenen summarischen Prüfung hat das Gericht das Interesse am sofortigen Vollzug einer Maßnahme der Gefahr gegenüberzustellen, dass die Verwirklichung eines Rechts des Antragstellers vereitelt oder wesentlich erschwert wird. Dabei sind die Erfolgsaussichten des Rechtsbehelfs in der Hauptsache maßgeblich. Ergibt die summarische Prüfung, dass der zugrunde liegende Bescheid offensichtlich rechtmäßig ist, ein Rechtsbehelf in der Hauptsache also voraussichtlich erfolglos wäre, so überwiegt das Interesse am Sofortvollzug. Ergibt die Prüfung umgekehrt, dass die angefochtene Maßnahme offensichtliche Rechtsmängel aufweist und der Rechtsbehelf in der Hauptsache damit voraussichtlich Erfolgsaussichten hätte, so überwiegt regelmäßig das Interesse des Betroffenen, von der sofortigen Vollstreckung bis zur Entscheidung in der Hauptsache verschont zu bleiben. Lassen sich die Erfolgsaussichten in der Hauptsache im Rahmen der im Eilverfahren allein möglichen summarischen Prüfung nicht ohne weiteres feststellen, hat das Gericht eine Interessenabwägung zu treffen. Bei dieser Abwägung fällt der Rechtsschutzanspruch des Rechtsschutzsuchenden umso stärker ins Gewicht, je schwerer die ihm auferlegte Belastung ist und je mehr die Maßnahme Unabänderliches bewirkt (std. Rspr. des BVerfG, vgl. zuletzt BVerfG, B. v. 24.03.2009, 2 BvR 2347/08, zit. nach juris).

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In Vollzugsstreitigkeiten hat der Gesetzgeber diese Abwägung durch § 114 Abs. 1 Satz 1 StVollzG zwar dahin vorgeprägt, dass ernstliche Zweifel an der Rechtmäßigkeit des angefochtenen Bescheids vorliegen müssen, um eine Anordnung der aufschiebenden Wirkung zu rechtfertigen. Ernstliche Zweifel liegen vor, wenn die Bedenken gegen die Rechtmäßigkeit des Bescheids derart überwiegen, dass ein Obsiegen des Antragstellers in der Hauptsache wahrscheinlicher ist als sein Unterliegen. Dem gegenüber steht die Wirkung einer Disziplinarmaßnahme, deren Vollzug regelmäßig Unabänderliches bewirkt, und das Verfassungsgebot, soweit wie möglich zu verhindern, dass durch die sofortige Vollziehung einer hoheitlichen Maßnahme Tatsachen geschaffen werden, die auch dann nicht mehr rückgängig gemacht werden können, wenn sich die Maßnahme bei richterlicher Prüfung als rechtswidrig erweist (vgl. BVerfG, B. v. 24.03.09 – 2 BvR 2347/08 – zit. nach juris, Rn. 8 m. w. N.).

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Aus der sich im Rahmen des Eilverfahrens allein möglichen summarischen Prüfung des Sachverhaltes ergeben sich vorliegend erhebliche Bedenken an der Rechtmäßigkeit der nach § 86 Abs. 1 Nr. 2 HmbStVollzG verhängten Disziplinarmaßnahmen.

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Vorliegend spricht alles dafür, dass die angegriffene Disziplinarentscheidung verfahrensfehlerhaft zustande gekommen ist. Zu den elementaren Verfahrensprinzipien gehören auch der Grundsatz des rechtlichen Gehörs und das Rechtsstaatsprinzip. Dem rechtlichen Gehör wird im strafvollzuglichen Disziplinarverfahren durch § 89 Absatz 1, hier insbesondere Satz 2 HmbStVollzG genügt. Danach bedarf es vor einer Disziplinaranordnung der Anhörung des Strafgefangenen. Um dem Inhaftierten die Möglichkeit zu geben, seine Verfahrensrechte mit der notwendigen Sachkunde wahrzunehmen und noch effektiv auf das Verfahrensresultat Einfluss zu nehmen, steht ihm das Recht zu, sich zur sachgerechten Vertretung seiner Anliegen vor der nach § 89 Abs. 1 Satz 2 HmbStVollzG durchzuführenden Anhörung der Unterstützung eines Rechtsanwalts zu bedienen. Dem Rechtsstaatsprinzip kann wegen des strafähnlichen Charakters von Disziplinarmaßnahmen nur Rechnung getragen werden, wenn der Gefangene sich im Disziplinarverfahren eines anwaltlichen Bestands bedienen kann (OLG Bamberg, B. v. 03.05.2010 – 1 Ws 145/10 -, zitiert nach juris Rn. 7 u 8 m. w. N.).

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Diesem Recht wurde vorliegend nicht genügt, weil der Antragsteller vor der Disziplinarentscheidung vorliegend keine Möglichkeit mehr hatte seine Verfahrensrechte mit der notwendigen Sachkunde wahrzunehmen. Zwar wurde der Antragsteller drei Tage vor der Disziplinarverhandlung über den Termin unterrichtet wurde. Er hatte also die Möglichkeit seinen Rechtsanwalt davon zu unterrichten, was der Antragsteller auch unmittelbar getan hat.

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Dies allein hat vorliegend jedoch nicht den in einem Disziplinarverfahren zu beachtenden rechtsstaatlichen Prinzipien genügt. Zur effektiven Wahrnehmung der dem Antragsteller zustehenden Rechte wäre es vorliegend zumindest erforderlich gewesen, den Bevollmächtigten des Antragstellers bzw ihn selbst von der Ablehnung der beantragten Verlegung der Disziplinarverhandlung rechtzeitig zu unterrichten, um dem Antragsteller aufgrund der neuen Verfahrenslage zu ermöglichen, noch vor der Entscheidung zumindest sachkundige Rücksprache zu halten oder auch einen anderen Rechtsanwalt mit der Wahrnehmung seiner Interessen in der Disziplinarverhandlung zu beauftragen. Dies ist nicht passiert. Über den Antrag des Bevollmächtigten wurde vielmehr vorab überhaupt nicht entschieden, weil er dem Vollzugsabteilungsleiter erst nach Durchführung der (in Abwesenheit sowohl des Bevollmächtigten als auch des Antragstellers) durchgeführten Disziplinarverhandlung zur Kenntnis gelangt ist. Die unterbliebene Entscheidung über den Verlegungsantrag kann dem Antragsteller nicht angelastet werden. Die verspätete Kenntnis des Vollzugsabteilungsleiters liegt allein im Organisationsbereich der Antragsgegnerin. Insbesondere bestand keine Verpflichtung des Bevollmächtigten oder des Antragstellers nachzufragen. Der Sendebericht bestätigte dem Bevollmächtigten den Eingang seiner Anträge. Mit einer Missachtung des Antrags musste dieser nicht rechnen.

17

Die Antragsgegnerin ist vor diesem Hintergrund auch verfahrensfehlerhaft ihrer Verpflichtung zur umfassenden Sachverhaltsaufklärung nicht in ausreichendem Umfang nachgekommen. Die in § 89 Abs. 1 Satz 1 HmbStVollzG festgeschriebene Verpflichtung zur vollständigen Sachverhaltsaufklärung trägt dem strafähnlichen Charakter von Disziplinarmaßnahmen Rechnung und damit dem aus Art. 2 Abs. 1 i. V. m. Art. 1 Abs. 1 GG und dem Rechtsstaatsprinzip (Art. 20 Abs. 3 GG) abgeleiteten Schuldgrundsatz, der es verbietet, eine Tat ohne Schuld des Täters strafend oder strafähnlich zu ahnden (vgl. nur BVerfGE 20, 323, 331 m. w. N.). Disziplinarmaßnahmen dürfen nur angeordnet werden, wenn zweifelsfrei geklärt ist, ob und in welchem Umfang ein schuldhafter Pflichtenverstoß überhaupt vorliegt. Dementsprechend konkretisiert auch die AV der Justizbehörde Nr. 106/2009 v. 15.09.2009 § 89 Abs. 1 Satz 1 HmbStVollzG dahingehend, dass sowohl die belastenden als auch die entlastenden Umstände zu ermitteln sind.

18

Nach alledem stellt die Disziplinaranordnung vom 13.08.2015 eine verfahrensfehlerhafte Entscheidung dar. Der Sofortvollzug der Maßnahme war daher (vorläufig) auszusetzen.

19

Durch die verfahrensfehlerhafte Entscheidung ist die Disziplinarbefugnis allerdings nicht verbraucht. Der Verfahrensfehler berührt nicht die Möglichkeit, nach Aufhebung der Disziplinarmaßnahme und Behebung des Verfahrensmangels wiederum eine Disziplinarmaßnahme zu verhängen (vgl. OLG Bamberg, a. a. O. m. w. N.).

III.

20

Die Kostenentscheidung beruht auf § 121 Abs. 2 Satz 1 StVollzG. Die Festsetzung des Streitwerts beruht auf §§ 52 Abs.1, 60 GKG.

21

Diese Entscheidung ist nicht anfechtbar (§ 114 Abs. 2 Satz 3 StVollzG).

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