Urteil vom Landgericht Münster - 011 O 199/94
Tenor
1 .
Die Beklagte wird verurteilt, ein Schmerzensgeld in Höhe
von 10.000,00 DM nebst 4 % Zinsen seit dem 21.1.1993 an
den Kläger zu zahlen.
2 .
Es wird festgestellt, daß die Beklagte darüber hinaus verpflichtet
ist, dem Kläger alle weiteren materiellen und
künftigen immateriellen Schäden zu ersetzen, die aus der
fehlerhaften Behandlung in der Zeit vom 1.6. b i s 16.7.1992
resultieren, soweit die Ansprüche nicht auf Sozialversicherungsträger
oder sonstige Dritte übergegangen sind.
3 .
Im übrigen wird die Klage abgewiesen.
4 .
Die Kosten des Rechtsstreits tragen die Beklagte zu 91 %
und der Kläger zu 9 %.
5 .
Das Urteil ist gegen Sicherheitsleistung in Höhe des jeweils
zu vollstreckenden Betrages zuzüglich 25 % vorläufig
vollstreckbar .
6 .
Die Sicherheitsleistung kann auch durch Vorlage einer unbedingten
und unbefristeten schriftlichen Bürgschaft einer
im Gebiet der Bundesrepublik Deutschland als Zoll- oder
Steuerbürgin zugelassenen Bank oder Sparkasse erbracht
werden.
1
hat die 11. Zivilkammer des Landgerichts Münster/Westf.
2auf die mündliche Verhandlung vom 30. März 1995
3durch den Vorsitzenden Richter am Landgericht Behrens sowie die
4Richter am Landgericht Kreipe und Kallhoff
5für R e c h t erkannt:
61 .
7Die Beklagte wird verurteilt, ein Schmerzensgeld in Höhe
8von 10.000,00 DM nebst 4 % Zinsen seit dem 21.1.1993 an
9den Kläger zu zahlen.
102 .
11Es wird festgestellt, daß die Beklagte darüber hinaus verpflichtet
12ist, dem Kläger alle weiteren materiellen und
13künftigen immateriellen Schäden zu ersetzen, die aus der
14fehlerhaften Behandlung in der Zeit vom 1.6. b i s 16.7.1992
15resultieren, soweit die Ansprüche nicht auf Sozialversicherungsträger
16oder sonstige Dritte übergegangen sind.
173 .
18Im übrigen wird die Klage abgewiesen.
194 .
20Die Kosten des Rechtsstreits tragen die Beklagte zu 91 %
21und der Kläger zu 9 %.
225 .
23Das Urteil ist gegen Sicherheitsleistung in Höhe des jeweils
24zu vollstreckenden Betrages zuzüglich 25 % vorläufig
25vollstreckbar .
266 .
27Die Sicherheitsleistung kann auch durch Vorlage einer unbedingten
28und unbefristeten schriftlichen Bürgschaft einer
29im Gebiet der Bundesrepublik Deutschland als Zoll- oder
30Steuerbürgin zugelassenen Bank oder Sparkasse erbracht
31werden.
32T a t b e s t a n d
33Die Geburt des Klägers am 25.2.1991 erfolgte nach unauffälliger
34Schwangerschaft durch eine Schnittentbindung wegen einer Steißlage.
35Sein Geburtsgewicht betrug 3990g, die sogenannten APGAR Werte
36waren jeweils nahezu optimal. Am 2. Lebenstag trat jedoch
37ein linksseitiger Krampfanfall (tonisch-klonisch) auf, der nach
38Gabe eines krampflösenden Medikamentes sistierte. Daneben bestand
39eine Erhöhung des Blutabbauprodukts Bilirubin. Nach der
40Obernahme auf die Frühgeborenenabteilung trat nochmals ein als
41Anfall säquivalent einzustufendes Ereignis auf. Da eine gewisse
42Krampfbereitschaft anzunehmen war, erfolgte eine medikamentöse
43Behandlung mit krampfverhindernden Medikamenten. Bemerkenswerte
44neurologische Besonderheiten wurden im weiteren Verlauf nicht
45gesehen. Eine sonegraphische Kontrolle des Schädels zeigte eine
46deutliche Assymmetrie der Hirnventrikel mit einer Vergrößerung
47links.
48Am 12.3.1991 erfolgte die Entlassung nach Hause. Der Kinderarzt
49Dr. T. in S. veranlaßte eine CCT-Untersuchung, die
50einen ausgedehnten Gewebsdefekt in der linken Großhirnhälfte
51aufzeigte, die einer porenzephalen Zyste entsprach. Bei der bei
52dem Kläger vorliegenden Porenzephalie handelt es sich um einen
53bereits angeborenen zystischen Gewebsdefekt in der linken Großhirnhemisphäre.
54Der Kinderarzt veranlaßte eine Untersuchung im
55neuropädiatrischen Bereich in der Kinderklinik der Beklagten,
56die vom 22. bis 24.4.1991 erfolgte, zur Frage einer operativen
57Behandlungsnotwendigkeit. Da bei dem Kläger keinerlei Auffälligkeiten
58festzustellen waren, insbesondere seit dem 2. Lebenstag
59kein Krampfanfall mehr aufgetreten war und die Ableitung
60der Hirnströme keine sicheren Zeichen einer Anfallsbereitschaft
61aufzeigte, entschloß man sich zum damaligen Zeitpunkt,
62nicht operativ tätig zu werden. Es folgten etwa vierteljährlich
63ambulante Kontrollen. Am 18.6.1991 wurde beim Kläger erstmals
64ein vermehrter rechtsseitiger Muskeltonus festgestellt, welcher
65auch in der Folgezeit noch beobachtet wurde.
66Am 29.1. bis 30.1.1992 befand sich der Kläger stationär in der
67Kinderklink der Beklagten, wo ein Schädel-CT gefertigt wurde,
68das eine nahezu unveränderte Ausdehnung des großen, zystischen
69Defekts links gegenüber dem Vorbefund vom 18.4. 1991 ergab. Die
70beinbetonte rechtsseitige Hemispastik bestand weiterhin. Mit
71der rechten Hand war dem Kläger kein gezieltes Greifen möglich.
72Von Seiten der Beklagten wurde eine operative Intervention für
73erforderlich gehalten.
74Am 28.4.1992 erfolgte eine erneute ambulante Kontrolle. Im EEG
75waren jetzt Zeichen einer erhöhten zerebralen Anfallsbereitschaft
76feststellbar. Am 1.6.1992 wurde der Kläger stationär in
77der Kinderklinik der Beklagten aufgenommen. Der operative Eingriff
78sollte in Form der bei der Beklagten in der Neuropädiatrie
79und Neurochirurgie entwickelten Methode der "Fensterung"
80vorgenommen werden. Porenzephale Zysten liegen in unmittelbarer
81Nachbarschaft zur liquorgefüllten seitlichen Hirnkammer
82(Seitenventrikel), von der sie nur durch eine dünne Membran getrennt
83sind. Bei der genannten Methode der Fensterunq wird die
84porenzephale Zyste, die immer bis an die Hirnoberfläche reicht,
85eröffnet. Anschließend wird die dünne Grenzmembran zur Hirnkammer
86gefenstert. Auf diese Weise wird auch für die Flüssigkeit
87in der porenzephalen Zyste die freie Zirkulation durch die
88Hirnkammer und deren Liquorabflußwege gewährleistet. Diese Behandlungsmethode
89hat noch nicht den Vermerk einer Standardmethode
90erhalten, doch sind die Ergebnisse imponierend sowohl
91hinsichtlich der Verbesserung der Anfallserkrankung als auch in
92der Verbesserung motorischer Defizite.
93Am 2.6.1992 unterschrieben die Eltern des Klägers eine Einverständniserklärung
94zur Fensterunq der porenzephalen Zyste, einschließlich
95der mit dem Eingriff verbundenen Komplikationsmöglichkeiten.
96Die "Fensterungsoperation" wurde am 4.6.1992 von dem Oberarzt
97Dr. L. vorgenommen. Am Folgetag entwickelte sich ein Liquorkissen im Operationsbereich. Der Kläger wurde am 12.6.1992
98aus der stationären Behandlung entlassen. Bis zum 17.6.1992
99wurde er jedoch wegen des Liquorkissens in der neurochirurgischen
100Ambulanz zweimal lokal punktiert, wobei es jeweils für
101zwei Tage zu einer Befundbesserung kam und danach wiederum zur
102Verschlechterung mit Erbrechen und Somnolenz . Daraufhin wurde
103der Kläger am 17.6.1992 erneut in die Neuropädiatrie aufgenommen. Neben dem Liquorkissen zeigte sich im CCT am 19.6.1992
104auch eine ausgedehnte subdurale - subarachnoidale (unter der
105Dura/harte Hirnhaut und in den äußeren Hirnwasserräumen) Flüssigkeitsansammlung links über dem Stirn-Scheitelbereich. Der
106Oberarzt Dr. L. führte am 24.6.1992 eine Revisionsoperation
107durch, wobei die Dura (Hirnhaut) erneut verschlossen wurde.
108Postoperativ entwickelte sich jedoch wiederum ein pralles
109Liquorkissen im Wundbereich, das mit regelmäßigen Lumbalpunktionen
110bei Antibiotikaschutz und mit Druckverbänden des Schädels
111behandelt wurde. Am 26.6.1992 wurde der Druckverband nach
112der Lumbalpunktion entfernt, wobei ausgeprägte Hautdefekte im
113Stirnbereich vorgefunden wurden, die nachfolgend mit lokaler
114Salbenauftragung behandelt wurden.
115Da trotz regelmäßiger Lumbalpunktionen bei Anstrengungen
116(Pressen und Schreien) anhaltend starker Liquorabfluß zwischen
117den Hautklammern zu verzeichnen war, wurde ärztlicherseits eine
118Ableitung der Zystenflüssigkeit bzw. des Liquors zum Bauchraum
119(Shuntoperation) für erforderlich gehalten. Diese wurde am
1203.7.1992 durchgeführt. Auch nach dieser Operation kam es erneut
121zu einer Ausbildung eines Liquorkissens in dem Wundbereich.
122Daraufhin wurde der Druck des bei der Operation verwendeten Medos-
123Ventils reduziert, woraufhin der weitere Verlauf unauffällig
124war. Am 17.7.1992 wurde der Kläger entlassen. In der Folgezeit erfolgte durch die Kinderärzte in S. sowie durch die Kinderärzte der Kinderklinik der Beklagten eine weitere Betreuung. Bei dem Kläger bildete sich nach Abheilung der anfänglichen Drucknekrose an der Stirn eine wulstige Narbe. Er war in der Folgezeit in Behandlung in der Fachklinik I. Bis Mitte Juni wurde er mit Silastic-Gelfolien behandelt. Gleichwohl ist die Vernarbung noch heute sichtbar zu erkennen, eine
125Narbenkorrektur ist für die nächste Zeit beabsichtigt.
126Mit anwaltlichem Schreiben vom 17.12.1992 forderte der Kläger
127die Beklagte wegen eines vom Kläger behaupteten Behandlungsfehlers
128zur Abgabe eines Schuldanerkenntnisses sowie zur Zahlung
129eines Schmerzensgeldes in Höhe von 15. 000,00 DM bis zum 20.1.1993 auf.
130Der Kläger, der zunächst behauptet hat, durch behandlungsfehlerhaft
131durchgeführte Operationen sei es bei ihm zu einer Hirnsubstanzminderung
132gekommen, behauptet nunmehr, daß durch die
133fehlerhafte Behandlung durch die Ärzte der Beklagten eine zusätzliche
134Hirnsubstanzminderung eingetreten sei. Ferner sei
135durch die Hirndrucksteigerung eine Schädigung des Gehirns oder
136zumindest einzelner Hirnnerven verursacht wurden. Dies ergebe
137sich daraus, daß sich die EEG-Ergebnisse ständig verschlechtert
138hätten. Ferner behauptet der Kläger, die Hautdefekte an der
139Stirn seien schmerzhaft gewesen.
140Der Beklagte behauptet weiter, der Druckverband am Kopf sei
141fehlerhaft, nämlich zu eng, angelegt worden. Der Oberarzt Dr.
142L1 habe gegenüber seiner, des Klägers, Mutter zugegeben,
143er sei für das Anlegen des zu engen Kopfverbandes verantwortlich.
144Der Kläger, der ein Schmerzensgeld in Höhe von 12. 000,00 DM für
145angemessen hält, beantragt, die Beklagte zu verurteilen,
146ein angemessenes, der Höhe nach in das Ermessen des Gerichts gestelltes
147Schmerzensgeld nebst 4 % Zinsen seit dem
14821.1.1993 an ihn zu zahlen;
149festzustellen, daß die Beklagte darüber hinaus verpflichtet ist, dem Kläger alle weiteren materiellen und künftigen immateriellen Schäden zu ersetzen, die auf der fehlerhaften Behandlung in der Zeit vom 1.6. bis 16.7.1992 resultieren, soweit die Ansprüche nicht auf Sozialversicherungsträger oder sonstige
150Dritte übergegangen sind.
151Die Beklagte beantragt,
152die Klage abzuweisen;
153ihr für jeden Fall der Zwangsvollstreckung nachzulassen,
154Sicherheit auch durch Beibringung der
155selbstschuldnerischen, unbefristeten und unbedingten
156Bürgschaft der Westdeutschen Landesbank N. erbringen
157zu können.
158Die Beklagte behauptet, alle Behandlungsmaßnahmen seien lege
159artis durchgeführt worden, die Bildung der Liquorkissen sei
160schicksalhaft gewesen. Der Oberarzt Dr. L1 habe auch den
161Druckverband nicht zu eng angelegt, sondern sich durch Fingerprobe
162vergewissert, daß der Verband richtig angelegt gewesen
163sei.
164Das Gericht hat Beweis erhoben durch Einholung eines schriftlichen
165Sachverständigengutachtens durch den Sachverständigen
166Prof. Dr. med. H., hinsichtlich des Inhalts dieses Gutachtens
167wird auf Bl. 75 bis 120 d. A. verwiesen.
168Der Sachverständige hat ferner die zusätzlichen Fragen der Parteien
169in der mündlichen Verhandlung vom 30.3.1995 beantwortet.
170Hinsichtlich des Ergebnisses dieser Beweisaufnahme wird auf die
171Sitzungsniederschrift vom 30.3.1995 (Bl. 135 bis 138 d . A.)
172verwiesen.
173E n t s c h e i d u n g s g r ü n d e
174Die Klage ist zum überwiegenden Teil begründet, im übrigen unbegründet.
175Der Kläger hat gegen die Beklagte einen Anspruch auf Schmerzensgeld
176in Höhe von 10.000,00 DM gemäß §§ 847, 823 BGB. Es
177liegt ein Behandlungsfehler vor, der zu einer Beeinträchtigung
178der körperlichen Integrität des Klägers geführt hat. Wie der
179Sachverständige Prof. Dr. H. in seinem Gutachten überzeugend
180ausgeführt hat, hätte der am 26.6.1992 (11.30 Uhr) angelegte
181Druckverband mindestens alle drei bis vier Stunden auf seinen
182richtigen Sitz hin überprüft werden müssen, und zwar dahingehend,
183ob er nicht durch ein wieder entstandenes Liquorkissen zu
184fest geworden ist. Daß eine solche regelmäßige Überprüfung
185durch die Ärzte der Beklagten oder das Pflegepersonal erfolgt
186ist, hat die Beklagte nicht behauptet und ist auch nicht in den
187Krankenunterlagen dokumentiert. Die später aufgetretene ausgeprägte
188Hautnekrose bei dem Kläger spricht dafür, daß eine regelmäßige
189Überprüfung nicht stattgefunden hat, so daß ein Behandlungsfehler
190durch die Ärzte der Beklagten festgestellt werden
191kann. Aus dem überzeugenden Gutachten des Sachverständigen
192Prof. Dr. H. ergibt sich ferner, daß mit an Sicherheit grenzender
193Wahrscheinlichkeit die Hautnekrose an der Stirn des Klägers
194nicht entstanden wäre, wenn die erforderlichen Kontrollen
195regelmäßig durchgeführt worden wären.
196Die bei dem Kläger dadurch aufgetretenen Hautveränderungen sowie
197weitere nachteilige Folgen, etwa das Tragen eines Verbandes
198über neun Monate hinweg und die Erforderlichkeit einer Nachoperation
199rechtfertigen ebenso wie die auf den Lichtbildern zu erkennenden
200ästhetischen Beeinträchtigungen ein Schmerzensgeld in
201Höhe von 10. 000,00 DM.
202Ein höheres Schmerzensgeld war dem Kläger nicht zuzusprechen,
203da weitere Behandlungsfehler durch die Ärzte der Beklagten
204nicht bewiesen sind. Wie sich aus dem überzeugenden Gutachten
205des Sachverständigen Prof. Dr. H. ergibt, war die übrige Behandlung
206durch die Ärzte der Beklagten fehlerfrei, insbesondere
207lag bereits vor der Behandlung eine Minderung der Hirnsubstanz
208bei dem Kläger vor, was dieser nach Vorlage des Gutachtens auch
209nicht mehr in Abrede gestellt hat. Der Sachverständige hat in
210der mündlichen Verhandlung auch überzeugend ausgeschlossen, daß
211durch die Behandlung bei der Beklagten eine zusätzliche. Minderung
212der Hirnsubstanz bei dem Kläger eingetreten ist, zumindest
213ist dies nicht beweisbar. Die Kammer schließt sich auch in dieser Hinsicht dem Gutachten des Sachverständigen aufgrund eigener
214Überzeugungsbildung an.
215Der Zinsanspruch des Klägers ergibt sich aus §§ 288, 284 BGB.
216Die Feststellungsklage ist zulässig und begründet. Es ist absehbar,
217daß aufgrund der Narbenbildung im Stirnbereich des Klägers, welcher auf einen
218Behandlungsfehler durch Ärzte der Beklagten beruht, weitere Maßnahmen, insbesondere eine operative Korrektur, erforderlich sein werden.
219Die dadurch entstehenden materiellen Schäden, die der Kläger derzeit noch nicht beziffern kann, hat die Beklagte gemäß §§ 823 ff BGB dem Kläger zu
220ersetzen. Hinsichtlich der immateriellen Schäden bezieht sich
221die Feststellung allein auf solche, die weder jetzt vorhanden noch vorhersehbar sind.
222Die Nebenentscheidungen beruhen auf den §§ 92 Abs. 1, 108, 709 ZPO.
223Unterschriften
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