Beschluss vom Landessozialgericht Baden-Württemberg - L 7 BA 1487/19 B

Tenor

Der Beschluss des Sozialgerichts Reutlingen vom 10. April 2019 wird aufgehoben. Der Klägerin wird für das Klageverfahren S 2 BA 1413/18 ab 20. Juni 2018 Prozesskostenhilfe ohne Ratenzahlungsanordnung bewilligt und Rechtsanwalt K., F., beigeordnet.

Außergerichtliche Kosten des Beschwerdeverfahrens sind nicht zu erstatten.

Gründe

 
1. Die gemäß § 173 Sozialgerichtsgesetz (SGG) form- und fristgerecht eingelegte Beschwerde ist nach § 172 Abs. 1 SGG statthaft, weil die Beschwerdeausschlussgründe des § 172 Abs. 3 SGG, insbesondere dessen Nr. 2, nicht eingreifen; das Sozialgericht Reutlingen (SG) hat die Ablehnung der Prozesskostenhilfe (PKH) im angefochtenen Beschluss insbesondere nicht auf die persönlichen und wirtschaftlichen Verhältnisse der Klägerin, sondern auf die fehlende Erfolgsaussicht der Rechtsverfolgung gestützt.
2. Die Beschwerde ist begründet. Die Klägerin hat Anspruch auf Bewilligung von PKH für das vor dem SG anhängige Klageverfahren S 2 BA 1413/18 unter Beiordnung des von ihr benannten Rechtsanwalts.
a. Nach § 73a Abs. 1 Satz 1 SGG i.V.m. § 114 Abs. 1 Satz 1 Zivilprozessordnung (ZPO) erhält PKH, wer nach seinen persönlichen und wirtschaftlichen Verhältnissen die Kosten der Prozessführung nicht, nur zum Teil oder nur in Raten aufbringen kann, wenn die beabsichtigte Rechtsverfolgung hinreichende Aussicht auf Erfolg bietet und nicht mutwillig erscheint. Hinreichende Erfolgsaussicht im Sinne des § 114 ZPO verlangt eine gewisse Erfolgswahrscheinlichkeit; dabei sind freilich keine überspannten Anforderungen zu stellen (ständige Rechtsprechung des Senats unter Hinweis auf Bundesverfassungsgericht BVerfGE 81, 347, 357). Eine hinreichende Erfolgsaussicht der Rechtsverfolgung ist regelmäßig zu bejahen, wenn der Ausgang des Verfahrens als offen zu bezeichnen ist. Dies gilt namentlich dann, wenn die Entscheidung in der Hauptsache von einer schwierigen, bislang höchstrichterlich nicht geklärten Rechtsfrage abhängt (vgl. BVerfG NJW 1997, 2102; NJW 2004, 1789; NVwZ 2006, 1156; Bundessozialgericht SozR 4-1500 § 62 Nr. 9) oder eine weitere Sachaufklärung, insbesondere durch Beweisaufnahme, ernsthaft in Betracht kommt (vgl. BVerfG NZS 2002, 420; info also 2006, 279). Keinesfalls darf die Prüfung der Erfolgsaussichten dazu führen, die Rechtsverfolgung in das summarische Verfahren der PKH zu verlagern und dieses an die Stelle des Hauptsacheverfahrens treten zu lassen.
b. Unter Beachtung dieser Grundsätze bietet die Rechtsverfolgung der Klägerin in dem oben bezeichneten Klageverfahren vor dem SG hinreichende Aussicht auf Erfolg. Mit der Klage wendet sich die Klägerin gegen den Bescheid vom 2. Januar 2015 in Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 22. Dezember 2015 (§ 95 SGG), mit dem die Beklagte aufgrund einer Betriebsprüfung nach § 28p Abs. 1 Viertes Buch Sozialgesetzbuch (SGB IV) Beiträge zur Sozialversicherung einschließlich Säumniszuschlägen in Höhe von 6.594,10 EUR festgesetzt hatte. Die Klägerin macht u.a. geltend, dass ihre am 8. Juni 2018 zum Sozialgericht Reutlingen (SG) erhobene Klage fristgerecht erfolgt sei, weil der Widerspruchsbescheid vom 22. Dezember 2015 nicht wirksam öffentlich zugestellt worden sei, sowie dass keine versicherungspflichtigen Beschäftigungen vorgelegen hätten. Das SG hat die Erfolgsaussichten der Rechtsverfolgung deshalb verneint, weil die Klage verfristet und unzulässig sei. Diese Begründung trägt die Ablehnung von PKH nicht.
Für die Frage, ob die am 8. Juni 2018 gegen den Widerspruchsbescheid vom 22. Dezember 2015 erhobene Klage innerhalb der Klagefrist des § 87 SGG erfolgt ist, dürfte streitentscheidend sein, ob die Beklagte den Widerspruchsbescheid vom 22. Dezember 2015 wirksam öffentlich zugestellt hat. Dies dürfte nach der im PKH-Verfahren vorzunehmenden summarischen Prüfung nicht der Fall sein.
Gem. § 85 Abs. 3 Satz 1 SGG ist der Widerspruchsbescheid schriftlich zu erlassen, zu begründen und den Beteiligten bekanntzugeben. Nimmt die Behörde eine Zustellung vor, gelten die §§ 2 bis 10 Verwaltungszustellungsgesetz (VwZG). Nach § 2 Abs. 1 VwZG ist Zustellung die Bekanntgabe eines schriftlichen oder elektronischen Dokuments in der in diesem Gesetz bestimmten Form. Die Zustellung wird gem. § 2 Abs. 2 Satz 1 VwZG durch einen Erbringer von Postdienstleistungen (Post), einen nach § 17 des De-Mail-Gesetzes akkreditierten Diensteanbieter oder durch die Behörde ausgeführt. Daneben gelten die in den §§ 9 und 10 VwZG geregelten Sonderarten der Zustellung (§ 2 Abs. 2 Satz 3 VwZG). Die Behörde hat nach § 2 Abs. 3 Satz 1 VwZG die Wahl zwischen den einzelnen Zustellungsarten. Vorliegend hat die Beklagte sich für die öffentliche Zustellung des Widerspruchsbescheids vom 22. Dezember 2015 entschieden und diesen ausweislich des Aktenvermerks vom 1. Februar 2016 in der Zeit vom 13. Januar 2016 bis zum 1. Februar 2016 durch Aushang einer Benachrichtigung öffentlich zugestellt. Unabhängig davon, ob durch diesen Vermerk eine rechtskonforme öffentliche Zustellung nach Maßgabe des § 10 Abs. 2 VwZG hinreichend dokumentiert wird, war die Beklagte nicht berechtigt, den Widerspruchsbescheid vom 22. Dezember 2015 öffentlich zuzustellen.
Gem. § 10 Abs. 1 Satz 1 VwZG kann die Zustellung durch öffentliche Bekanntmachung erfolgen, wenn
1. der Aufenthaltsort des Empfängers unbekannt ist und eine Zustellung an einen Vertreter oder Zustellungsbevollmächtigten nicht möglich ist,
2. bei juristischen Personen, die zur Anmeldung einer inländischen Geschäftsanschrift zum Handelsregister verpflichtet sind, eine Zustellung weder unter der eingetragenen Anschrift noch unter einer im Handelsregister eingetragenen Anschrift einer für Zustellungen empfangsberechtigten Person oder einer ohne Ermittlungen bekannten anderen inländischen Anschrift möglich ist oder
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3. sie im Fall des § 9 VwZG (Zustellung im Ausland) nicht möglich ist oder keinen Erfolg verspricht. Die Anordnung über die öffentliche Zustellung trifft ein zeichnungsberechtigter Bediensteter (§ 10 Abs. 1 Satz 2 VwZG). Bei der öffentlichen Zustellung nach § 10 VwZG handelt es sich letztlich um eine Fiktion. Eine tatsächliche Übergabe des zuzustellenden Schriftstücks an den Adressaten erfolgt nicht. Daher ist die öffentliche Zustellung von allen Zustellungsarten diejenige, bei der am wenigsten gewährleistet ist, dass der Adressat tatsächlich Kenntnis von dem zuzustellenden Schriftstück erlangt. Da die Regelungen über die Zustellung der Verwirklichung des Anspruchs auf rechtliches Gehör des Adressaten dienen und gewährleisten sollen, dass dieser tatsächlich Kenntnis von dem zuzustellenden Schriftstück nehmen und seine Rechtsverteidigung oder Rechtsverfolgung darauf einrichten kann (Bundesverfassungsgericht , Beschluss vom 26. Oktober 1987 - 1 BvR 198/87 - NJW 1988, 2361; Bundesverwaltungsgericht , Urteil vom 18. April 1997 - 8 C 43/95 - BVerwGE 104, 301 - juris Rdnr. 18; Ronellenfitsch in BeckOK VwVfG, Stand 1. Oktober 2019, § 10 VwZG Rdnr. 1), kommt eine öffentliche Zustellung nur als letztes Mittel in Betracht (Danker, VwZG, 1. Aufl. 2012, § 10 Rdnr. 1; Mutschler in Kasseler Kommentar, Stand März 2020, § 65 SGB X Rdnr. 43, Schlatmann in Engelhardt/App/Schlatmann, VwVG/VwZG, 11. Aufl. 2017, § 10 VwZG Rdnr. 2; Ronellenfitsch in BeckOK VwVfG, Stand 1. Oktober 2019, § 10 VwZG Rdnr. 2). An die Anordnung einer öffentlichen Zustellung sind strenge Anforderungen zu stellen (Schlatmann in Engelhardt/App/Schlatmann, VwVG/VwZG, 11. Aufl. 2017, § 10 VwZG Rdnr. 2). Die Behörde muss zunächst alle anderen Möglichkeiten ausgeschöpft haben, um das Dokument dem Empfänger zu übermitteln (vgl. BVerfG, Beschluss vom 26. Oktober 1987 - 1 BvR 198/87 - NJW 1988, 2361; BVerwG, Urteil vom 18. April 1997 - 8 C 43/95 - BVerwGE 104, 301 - juris Rdnr. 18; Bundesfinanzhof , Beschluss vom 9. August 2007 - V B 149/06 - juris Rdnr. 7; Beschluss vom 13. März 2003 - VII B 196/02 - juris Rdnr. 20). Bei Inlandszustellungen nach § 10 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 VwZG muss der Aufenthaltsort des Zustellungsadressaten allgemein, d.h. infolge gründlicher und umfassender sachdienlicher sowie zeitnaher Bemühungen, z.B. durch Anfragen bei der Polizei, Befragen von Angehörigen, Einwohnermeldebehörden oder Postamt, unbekannt sein (Danker, VwZG, 1. Aufl. 2012, § 10 Rdnr. 2). Den Anforderungen an die Prüfungspflicht wird die Behörde in aller Regel gerecht, wenn sie versucht, die Anschrift durch die Polizei bzw. das Einwohnermeldeamt zu ermitteln. Die Anordnung der öffentlichen Zustellung ist regelmäßig erst zulässig, wenn ein Versuch der Zustellung an die letzte bekannte Anschrift erfolglos geblieben ist; auf einen solchen Zustellungsversuch kann nur verzichtet werden, wenn mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit feststeht, dass er erfolglos bleiben wird (Schlatmann in Engelhardt/App/Schlatmann, VwVG/VwZG, 11. Aufl. 2017, § 10 VwZG Rdnr. 4). Liegt zwischen den letzten Ermittlungsbemühungen der Behörde und der Anordnung der öffentlichen Zustellung ein längerer Zeitraum, so muss die Behörde vor Anordnung der öffentlichen Zustellung erneut Nachforschungen anstellen, weil in der Zwischenzeit Änderungen eingetreten und erneute Nachforschungen Erfolg versprechend sein könnten (Schlatmann in Engelhardt/App/Schlatmann, VwVG/VwZG, 11. Aufl. 2017, §10 VwZG Rdnr. 5). Fehler bei einer öffentlichen Zustellung führen unabhängig davon, ob sie der Behörde bekannt und von ihren Bediensteten verschuldet waren, zur Unwirksamkeit der öffentlichen Zustellung (vgl. Bundesgerichtshof , Urteil vom 6. Oktober 2006 - V ZR 282/05 - NJW 2007, 303; Schlatmann in Engelhardt/App/Schlatmann, VwVG/VwZG, 11. Aufl. 2017, § 10 VwZG Rdnr. 2, 10; Smollich in Mann/Sennekamp/Uechtritz, VwVfG, 2. Aufl. 2019, § 10 VwZG Rdnr. 2).
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Zwar hatte die Klägerin in ihrem Widerspruch vom 30. Januar 2015 sowie in ihrem Schreiben vom 27. Februar 2015 jeweils die Anschrift M. Str., B. benannt und der Beklagten nach ihrem nach ihren Angaben im März 2015 erfolgten Umzug in die A. Str., A. ihre neue Anschrift nicht zeitnah übermittelt mit der Folge, dass das Schreiben der Beklagten vom 27. Februar 2015 mit dem Hinweis „Empfänger verzogen, Einwilligung zur Weitergabe der Anschrift liegt nicht vor“ in Rücklauf kam. Die Anfrage beim Einwohnermeldeamt der Stadt B. führte zum dem Ergebnis, dass die Klägerin unter dem 23. Juni 2015 nach wie vor noch unter der Anschrift in B. gemeldet war. Die Beklagte ging unter diesen Umständen davon aus, dass die Klägerin unbekannt verzogen sei (vgl. E-Mail vom 8. Juli 2015). Eine Nachfrage der Beklagten beim Hauptzollamt N. ergab, dass die Klägerin dort im Juli 2015 vorgesprochen und von einem bevorstehenden Umzug nach Süddeutschland gesprochen habe (Schreiben vom 29. Juli 2015). Am 25. November 2015 hat der Widerspruchsausschuss der Beklagten über den Widerspruch entschieden, am 13. Januar 2016 ist die Bekanntgabe einer Benachrichtigung nach § 10 Abs. 2 VwZG durch die Beklagte erfolgt. Damit lag zwischen den letzten Ermittlungen der Beklagten zum Aufenthaltsort der Klägerin und der Veranlassung der öffentlichen Zustellung des Widerspruchsbescheids ein Zeitraum von mehr als fünf Monaten. Im Hinblick auf die Mitteilung des Hauptzollamtes (29. Juli 2015) über einen bevorstehenden Umzug sowie die Auskunft des Einwohnermeldeamtes der Stadt B. vom 23. Juni 2015 (Bestätigung der alten Anschrift) hätte die Beklagte vor Veranlassung der öffentlichen Zustellung im Januar 2016 sich durch eine erneute Anfrage bei der Meldebehörde versichern müssen, ob zwischenzeitlich eine aktuelle Adresse zu ermitteln ist. Eine erneute Anfrage bei der Meldebehörde hätte voraussichtlich die Umzugsadresse zu Tage gefördert, nachdem sich die Klägerin am 23. Juli 2015 unter der Benennung der Herkunftsanschrift M. Str., B., unter der Anschrift A. Str., A. angemeldet hatte. Auch hatte die Beklagte im Hinblick auf den rentennahen Geburtsjahrgang der Klägerin (geb. 1. März 1953) intern auf Grundlage des § 69 Abs. 1 Nr. 1 Zehntes Buch Sozialgesetzbuch (SGB X) die der Leistungsabteilung bekannte Anschrift der Klägerin abfragen können. Durch diese Anfrage hätte die Beklagte voraussichtlich die ihrer Leistungsabteilung bekannte aktuelle Anschrift der Klägerin erfahren, nachdem diese der Klägerin mit Schreiben vom 25.August 2015 eine Renteninformation an deren aktuelle Anschrift zu übermitteln vermochte. Die Beklagte war im Hinblick auf die gravierenden Folgen für die Rechtsverteidigung der Klägerin nicht berechtigt, nach Abschluss ihrer Ermittlungen zum Aufenthaltsort der Klägerin im Juli 2015 ohne erneute Ermittlungen erst im Januar 2016 die öffentliche Zustellung des Widerspruchsbescheids zu veranlassen (vgl. BFH, Beschluss vom 13. März 2003 - VII B 196702 - juris Rdnr. 22; BVerwG, Beschluss vom 25. April 1994 - 1 B 69/94 - juris Rdnr. 10).
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Unter diesen Umständen spricht viel dafür, dass die am 8. Juni 2018 erhobene Klage gegen den Widerspruchsbescheid vom 22. Dezember 2015, der dem Bevollmächtigten der Klägerin mit Schreiben vom 16. Mai 2018 übersandt worden ist, zulässig ist. Das SG wird daher - ggf. nach Beiladung der Beschäftigten R. W. und M. K. sowie der Fremdsozialversicherungsträger (vgl. Bundessozialgericht , Urteil vom 16. Dezember 2015 - B 12 R 11/14 R - BSGE 120, 209) - sich mit den tatsächlichen und rechtlichen Einwendungen der Klägerin bezüglich der von der Beklagten angenommenen versicherungspflichtigen Beschäftigungen und der Höhe der Beitragsnachforderung zu beschäftigen haben. Unter diesen Gesichtspunkten ist jedenfalls eine gewisse Erfolgswahrscheinlichkeit gegeben. Nachdem die Klägerin nach ihren persönlichen und wirtschaftlichen Verhältnissen die Kosten der Prozessführung nicht aufbringen kann, war ihr PKH für das anhängige Klageverfahren zu bewilligen.
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3. Kosten des Beschwerdeverfahrens werden nicht erstattet (§ 73a Abs. 1 Satz 1 SGG i.V.m. § 127 Abs. 4 ZPO).
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4. Dieser Beschluss ist unanfechtbar (§ 177 SGG)

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