Urteil vom Landessozialgericht Mecklenburg-Vorpommern (7. Senat) - L 7 R 215/15

Tenor

1. Auf die Berufung der Beklagten wird das Urteil des Sozialgerichts Neubrandenburg vom 11. September 2015 geändert. Die Beigeladene wird verurteilt, der Klägerin 2.510,00 € für die Anschaffung von zwei Hörgeräten KINDspectra HS im Jahre 2009 zu erstatten.

2. Die Beigeladene trägt die notwendigen außergerichtlichen Kosten der Klägerin beider Rechtszüge; im Übrigen sind Kosten nicht zu erstatten.

3. Die Revision wird nicht zugelassen.

Tatbestand

1

Die Beteiligten streiten um die Erstattung von Kosten in Höhe von 2.510,00 € für zwei von der Klägerin selbst beschaffte digitale Hörgeräte.

2

Die 1951 geborene Klägerin leidet an einer beidseitigen kombinierten Schwerhörigkeit mit Tinnitus. Am 29. November 2007 stellte ihr die Fachärztin für HNO-Krankheiten DM G. erstmalig eine ohrenärztliche Verordnung einer beiderseitigen Hörhilfe aus. Die Klägerin suchte die Firma KIND Hörgeräte in Neubrandenburg auf. Der Hörgeräteakustiker erstellte am 9. Januar 2008 einen Kostenvoranschlag über zwei Hörgeräte KINDspectra HS über einen Gesamtbetrag von 3.728,68 € (Anteil der Krankenkasse 1.198,68 €, Anteil der Klägerin 2.530,00 €). Ebenfalls unter dem 9. Januar 2008 wurde ein weiterer Kostenvoranschlag für zwei Hörgeräte KINDepoq XW über einen Gesamtbetrag von 5.708,70 € unterbreitet (Anteil der Krankenkasse 1.198,70 €, Anteil der Klägerin 4.510,00 €). Ab dem 1. Februar 2008 begann die Klägerin, mehrere Hörgeräte auszutesten.

3

Am 31. März 2008 beantragte sie bei der Beklagten die Bewilligung von zwei Hörgeräten als Leistung zur Teilhabe am Arbeitsleben. Sie gab an, aus beruflichen Gründen, insbesondere beim Telefonieren, auf ein gutes Hörvermögen angewiesen zu sein. Im Laufe des Verfahrens überreichte die Klägerin den Befundbericht der DM G. vom 10. April 2008, den Kostenvoranschlag der Firma KIND Hörgeräte vom 9. Januar 2008 über den Gesamtbetrag von 5.708,70 € sowie das Hörprotokoll des Hörgeräteakustikers vom 9. Mai 2008. Hierin hieß es, das Sprachverstehen habe ohne Hörgerät 50 % betragen. Bei der Durchführung von Störschallmessungen bei 65 dB Nutz- und 60 dB Störschall habe die Klägerin mit dem Hörgerät KINDepoq HS XW auf dem linken Ohr 90 % verstanden, bei der stereophonen Versorgung habe sich die Verständlichkeit im Störschall um 10 % auf 100 % verbessert. Bei der durchgeführten Messung mit dem eigenanteilsfreien Hörgerät KINDassista HS sei die Klägerin nur auf ein Sprachverstehen von 50 % gekommen.

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Mit Bescheid vom 16. Juni 2008 lehnte die Beklagte den Antrag der Klägerin ab. Die Klägerin erfülle die persönlichen Voraussetzungen des § 10 SGB VI nicht. Ein höherwertiges Hörgerät sei für besondere Höranforderungen im Berufsbild einer Angestellten bei der Rentenversicherung nicht erforderlich. Zum Ausgleich der Hörminderung sei die Versorgung mit geeigneten Hörgeräten durch die Krankenversicherung ausreichend.

5

Hiergegen legte die Klägerin Widerspruch mit der Begründung ein, sie sei auf die Hörgeräte aus beruflichen Gründen angewiesen, um ihre Arbeitsaufgabe in guter Qualität weiterhin erledigen zu können. Sie fügte eine Beschreibung ihrer Arbeitsaufgaben ihres Arbeitgebers vom 8. Juli 2008 bei. Hierin hieß es, die Klägerin sei bei der D. als Mitarbeiterin im Bereich bargeldloser Beitragseinzug eingesetzt. Dies beinhalte ein häufiges Telefonieren mit den Versicherten sowie das Entgegennehmen von Anrufen der Versicherten und deren telefonische fachliche Beratung. Der Arbeitsplatz der Klägerin befinde sich in einem Großraumbüro. Mit dem eigenanteilsfreien Hörgerät KIND assista HS werde laut Messung der Firma KIND Hörgeräte (siehe Anlage) ein Sprachverstehen von 50 % erreicht. Dieses sei aus berufspraktischer Sicht vollkommen unzureichend. Die Klägerin benötige ein höherwertigeres Hörgerät, um die tägliche Aufgabenerfüllung zu gewährleisten. Übersandt wurde ein weiteres Hörprotokoll des Hörgeräteakustikers vom 23. Juni 2008 bzgl. u. a. des Hörgerätes KINDspectra HS, mit dem unter Störschallbedingungen sowohl rechts als auch links eine Verständlichkeit von 90 % und stereophon von 100 % erreicht worden sei, während das eigenanteilsfreie Hörgerät (KINDassista HS) nur ein Sprachverstehen von 50 % erbracht habe.

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Mit Widerspruchsbescheid vom 1. Oktober 2008 wies die Beklagte den Widerspruch zurück. Nach § 33 Abs. 8 Nr. 4 SGB IX umfassten Leistungen zur Teilhabe am Arbeitsleben auch sonstige Hilfen der Arbeits- und Berufsförderung, um dem Betreuten eine angemessene und geeignete Erwerbs- oder Berufstätigkeit auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt zu ermöglichen. Ein Hilfsmittel sei folglich nur dann als Leistung zur Teilhabe am Arbeitsleben im Sinne des § 33 Abs. 8 Nr. 4 SGB IX anzusehen, wenn es ausschließlich zur Ausübung eines bestimmten Berufes oder zur Teilnahme an einer bestimmten beruflich vorbereitenden Maßnahme benötigt werde. Die Versorgung mit Hörhilfen gehöre grundsätzlich nicht zu den Leistungen der Beklagten im Sinne der genannten Vorschrift. Es liege vielmehr im Versorgungsauftrag der Krankenkasse gemäß § 33 SGB V, für den Ausgleich einer Funktionsstörung mittels adäquater Hörhilfen zu sorgen. Eine Leistungsgewährung der Beklagten käme nur dann in Betracht, wenn die Hörhilfe als höherwertige Hörgeräteversorgung über den Versorgungsauftrag der Krankenkasse hinaus erforderlich sei, um den speziellen beruflichen Anforderungen im Berufsbild einer Mitarbeiterin bei der D. gerecht zu werden. Dies sei jedoch zu verneinen.

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Die Klägerin hat am 30. Oktober 2008 Klage beim Sozialgericht (SG) Neubrandenburg erhoben. Sie benötige zwei digitale Hörgeräte zur besseren beruflichen Kommunikation. Mit den zuzahlungsfreien Hörgeräten komme sie beim Telefonieren nicht klar. Wenn die Beklagte meine, sie benötige die Hörgeräte aus beruflichen Gründen nicht, stelle sich die Frage, wieso die Beklagte ihren Antrag nicht an die – aus Sicht der Beklagten – zuständige Krankenkasse weitergeleitet habe. Mangels fristgemäßer Weiterleitung ihres Antrages sei die Beklagte erstangegangener Rehabilitationsträger im Sinne des § 14 SGB IX. Im Verlauf des Klageverfahrens hat die Klägerin darauf hingewiesen, am 11. November 2008 einen Antrag auf Kostenübernahme für zwei Hörgeräte in Höhe von 3.728,68 € (KINDspectra HS) bei ihrer damals zuständigen Krankenkasse (TAUNUS BKK) gestellt zu haben. Auf die Rückfrage der Krankenkasse, ob die Kostenübernahme für die Hörgeräteversorgung in voller Höhe (nach dem Kostenvoranschlag 3.728,68 €) beim Rentenversicherungsträger beantragt worden sei oder ob der Antrag ursprünglich lediglich auf die – als Eigenanteil bei der Klägerin verbleibenden – Kosten in Höhe von 2.530,00 € abgezielt habe, hat die Klägerin in ihrem Antwortschreiben vom 9. Dezember 2008 mitgeteilt, ihr an die Beklagte gerichteter Antrag habe sich auf die vollständige Kostenübernahme bezogen. Im weiteren Verlauf hat sich die Klägerin gegenüber der Krankenkasse bereit erklärt, den Antrag vom 11. November 2008 bis zur Entscheidung des SG ruhen zu lassen.

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Sodann hat die Klägerin mitgeteilt, sich zwei digitale Hörgeräte KINDspectra HS am 28. September 2009 selbst beschafft zu haben. Den von ihr aufgewandten Eigenanteil in Höhe von 2.510,00 € mache sie im Wege der Kostenerstattung gegenüber der Beklagten geltend.

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Die Klägerin hat beantragt,

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die Beklagte unter Aufhebung des Bescheides vom 16. Juni 2008 in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 1. Oktober 2008 zu verurteilen, ihr die Kosten für die Anschaffung der Hörgeräte in Höhe von 2.510,00 € zu erstatten.

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Die Beklagte hat beantragt,

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die Klage abzuweisen.

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Sie ist weiterhin der Auffassung, dass es im Versorgungsauftrag der Krankenkasse liege, die Klägerin mit entsprechenden Hörhilfen zu versorgen. Nur dort, wo ein besonders ausgeprägtes Hörvermögen dem Berufsbild und seiner typischen Ausübungsumgebung eigen sei, könne sich für die Beklagte als Rentenversicherungsträger ein Versorgungsauftrag von Leistungen zur Teilhabe am Arbeitsleben ergeben. Eine Notwendigkeit einer über den Versorgungsauftrag der Krankenkasse hinausgehenden höherwertigen Hörgeräteversorgung allein für die Ausübung eines bestimmten Berufes könne vorliegend nicht festgestellt werden. Die Klägerin sei als Angestellte bei der D. beschäftigt. Spezielle Anforderungen an das Hörvermögen über das übliche Maß jeglicher Berufstätigkeit hinaus, die eine spezielle Hörgeräteversorgung erforderlich werden lasse, bestünden nicht.

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Ergäben sich im Zuge der Antragsprüfung keine hinreichenden Anhaltspunkte für eine Leistung zur Teilhabe überhaupt, entfalle nach Auffassung der Beklagten auch die Anwendung der allgemeinen Regelungen des § 14 Abs. 2 Satz 2 SGB IX zur vorläufigen Zuständigkeit bzw. Leistungserbringung. Von der Rechtsnorm würden keine Leistungsarten erfasst, die nicht unter den Begriff der Rehabilitation bzw. Teilhabe zu subsumieren seien. Werde – wie vorliegend – eine Leistung beantragt, die nach ihrem Charakter offensichtlich keine Leistung zur Teilhabe im Sinne des SGB IX darstelle, könne auch kein anderer Reha-Träger nach § 6 SGB IX leistungsverpflichtet sein. Sowohl eine Weiterleitung als auch eine (vorläufige) Leistungserbringung im Sinne des § 14 SGB IX für einen anderen Rehabilitationsträger scheide dann aus.

15

Durch Beschluss vom 8. Juli 2009 hat das SG Neubrandenburg den Rechtsvorgänger (TAUNUS BKK) der Beigeladenen und mit (Änderungs-)Beschluss vom 14. August 2012 die Beigeladene zum Verfahren beigeladen.

16

Nachdem im Hinblick auf die beim BSG anhängigen Verfahren B 5 R 5/07 R und B 3 KR 20/08 R der Rechtsstreit zunächst zum Ruhen gebracht worden ist, hat die Beigeladene auf Anfrage des SG mitgeteilt, die Versorgungsanzeige des Hörgeräteakustikers sei am 28. September 2009 bei ihr eingegangen. Sie habe mit zwei Teilzahlungen in Höhe von 808,88 € und 389,80 € im August/September 2010 den Festbetrag an den Hörgeräteakustiker überwiesen.

17

In der Sache selbst vertritt die Beigeladene die Auffassung, dass ein Anspruch der Klägerin gegen sie auf Übernahme des vollen Preises der Hörgeräte nicht in Betracht komme. Sie habe mit der Gewährung des Festbetrages ihre Leistungspflicht erfüllt. Nur in Einzelfällen bestehe gegen die Krankenkasse ein Anspruch auf Übernahme der vollen Kosten, wenn die Versorgung mit dem begehrten Hörsystem medizinisch notwendig sei. Vorliegend sei nicht ersichtlich, dass die Versorgung der Klägerin mit dem streitgegenständlichen Hörsystem medizinisch notwendig sei, weil die zum Festbetrag zu habenden Hilfen nicht ausreichten. Im Übrigen weise sie darauf hin, dass sie die Beklagte als erstangegangenen Versicherungsträger im Sinne des § 14 SGB IX erachte.

18

Dem gegenüber vertritt die Beklagte die Auffassung, dass die Beigeladene erstangegangener Leistungsträger sei, da der Kostenvoranschlag des Hörgeräteakustikers vom 9. Januar 2008 datiere. Dieser sei als Versorgungsanzeige bei der Krankenkasse geltend gemacht worden und weise auch bereits den Krankenkassenanteil aus. Somit sei bereits mit Erstellung der Kostenvorschläge beim Hörgeräteakustiker vor Antragstellung bei der Beklagten ein Antragsverfahren bei der Krankenkasse in Gang gesetzt worden. Eine Weiterleitung des Antrages der Klägerin durch die Krankenkasse sei unstreitig nicht erfolgt. Im Übrigen werde darauf hingewiesen, dass das BSG in seinem Urteil vom 17. Dezember 2009 – B 3 KR 20/08 R – auch zum Ausdruck gebracht habe, dass die Leistungspflicht der Krankenversicherung nicht auf das Niveau der regulierten Festbeträge (§ 36 SGB V) begrenzt werden könne, wenn dafür erhältliche Hörgeräte für den Ausgleich der konkret vorliegenden Behinderung objektiv nicht ausreichten. Es habe vielmehr eine Hörgeräteausstattung zu Lasten der gesetzlichen Krankenversicherung zu erfolgen, die nach den technischen Möglichkeiten ein „Gleichziehen mit dem Hörvermögen Gesunder“ ermögliche.

19

Das SG hat Beweis erhoben durch Vernehmung des Hörgeräteakustikers G. E. als Zeugen. Wegen des Ergebnisses der Beweisaufnahme wird auf das Protokoll des Erörterungstermins vom 5. Juni 2014 verwiesen sowie seine schriftlichen Stellungnahmen vom 30. Juni 2014, vom 17. Dezember 2014 sowie vom 9. September 2015.

20

Durch Urteil vom 11. September 2015 hat das SG Neubrandenburg die Beklagte unter Aufhebung der angefochtenen Bescheide verurteilt, der Klägerin 2.510,00 € für die Anschaffung der Hörgeräte zu erstatten. In den Entscheidungsgründen hat es ausgeführt, der Klägerin stehe der Kostenerstattungsanspruch zu, weil die vorgenommene Versorgung für den Ausgleich der Hörbehinderung der Klägerin erforderlich gewesen sei. Die Beklagte sei für die Gewährung der Leistungen nach § 14 Abs. 2 SGB IX ausschließlich zuständig, weil sie der erstangegangene Träger gewesen sei und den Antrag nicht innerhalb von zwei Wochen an einen anderen Rehabilitationsträger weitergeleitet habe. Die Krankenkasse habe von dem Versorgungsbedarf der Klägerin erst nach Erlass des Widerspruchsbescheides der Beklagten erfahren. Die Versorgungsanzeige des Hörgeräteakustikers an die Krankenkasse sei nochmals deutlich später erfolgt. Die Beklagte sei daher verpflichtet gewesen, über den Antrag unter Berücksichtigung aller in Betracht kommenden Anspruchsgrundlagen für Rehabilitationsleistungen zu entscheiden, auch soweit diese grundsätzlich anderen Rehabilitationsträgern oblägen. Die Beklagte könne daher nicht mit dem Argument durchdringen, dass kein besonderer beruflicher Rehabilitationsbedarf bestehe und deshalb die Zuständigkeit der Krankenkasse gegeben sei.

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Die Klägerin habe gegen die Beklagte einen Kostenerstattungsanspruch in tenorierter Höhe aus § 33 Abs. 1 Satz 1 SGB V i. V. m. § 15 Abs. 1 Satz 4 SGB IX. Denn die Versorgung mit den tatsächlich angeschafften Hörgeräten sei zum Ausgleich der Behinderung im Alltag erforderlich. Dies ergebe sich zur Überzeugung des Gerichts aus den vorliegenden Hörprotokollen i. V. m. den Erläuterungen des Zeugen E.. Hiernach seien die Hörgeräte KINDepoq und KINDspectra vom Sprachverstehen für die Klägerin gleichwertig gewesen, wobei das letztlich erworbene KINDspectra sowohl in der Anschaffung als auch bei den laufenden Kosten erheblich günstiger gewesen sei. Mit jedem der Geräte habe die Klägerin unter Störschallbedingungen stereophon 100 % Sprachverstehen erreicht. Dem gegenüber sei mit dem eigenanteilsfreien Gerät KINDassista HS nur 50 % Sprachverstehen unter Störschall erreicht worden. Weitere Geräte seien nicht unter Störschallbedingungen getestet worden. Nach den Bekundungen des Zeugen sei es vor dem 1. November 2013 nicht üblich gewesen, sämtliche Geräte unter Störschall zu testen. Die Tests seien grundsätzlich in ruhiger Umgebung ohne Störgeräusch erfolgt. Nur für das konkret ausgewählte Hörgerät sei im Rahmen der stereophonen Anpassung unter Störschallbedingungen getestet worden. Hieraus ergebe sich, dass das erworbene KINDspectra HS das günstigste geeignete Gerät gewesen sei. Ein Sprachverstehen von nur 50 % sei, wie auch die Beklagte zugestehe, für einen Behinderungsausgleich nicht im Ansatz ausreichend. Nach der Rechtsprechung des BSG gebe § 33 Abs. 1 Satz 1 SGB V einen Anspruch auf einen möglichst vollständigen Behinderungsausgleich. Eine bestmögliche Angleichung an das Hörvermögen Gesunder umfasse auch die Ermöglichung des Hörens und Verstehens in größeren Räumen und bei störenden Umgebungsgeräuschen (Hinweis auf das Urteil des BSG vom 17. Dezember 2009 – B 3 KR 20/08 R –, juris Randnummer 20). Maßgeblich seien daher allein die unter Störschallbedingungen erreichten Verständniswerte. Dass nur wenige Geräte überhaupt unter Störschall getestet worden seien, könne der Klägerin nicht zum Nachteil gereichen, weil es Aufgabe der Beklagten gewesen sei, im Rahmen ihrer Amtsermittlung die notwendigen Tests und Untersuchungen zu veranlassen. Da ein günstigeres geeignetes Gerät nicht ermittelt worden sei, seien die Kosten für das angeschaffte Gerät von der Beklagten zu übernehmen. Eine nachträgliche Feststellung des 2008 vorhandenen Hörvermögens mit anderen Geräten sei nicht mehr möglich.

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Gegen das ihr am 24. September 2015 zugestellte Urteil hat die Beklagte am 5. Oktober 2015 Berufung eingelegt. Sie vertritt weiterhin die Auffassung, dass nicht sie sondern die Beigeladene erstangegangener Träger im Sinne des § 14 SGB IX sei, weil mit Datum vom 9. Januar 2008 ein Kostenvoranschlag vorliege, der die erste Befassung mit dem Hörversorgungsbegehren der Klägerin darstelle, womit der Antrag zuerst bei der Beigeladenen gestellt worden sei. Der Kostenvoranschlag weise den zu erwartenden Kassenanteil und die gesetzliche Zuzahlung aus sowie den verbleibenden von der Klägerin ggf. selbst zu tragenden Eigenanteil. Unter Berücksichtigung der BSG-Urteile vom 30. Oktober 2014 – B 5 R 8/14 – und vom 24. Januar 2013 – B 3 KR 5/12 R – sei hierin bereits eine gegen die Krankenkasse gerichtete Willenserklärung unter Berücksichtigung der ausgewiesenen Kostenteilung zu sehen. Die Beigeladene müsse sich deshalb in Abhängigkeit von dem Begehren der Klägerin grundsätzlich bereits mit der Vorlage der vertragsärztlichen Verordnung bei ihrem Vertragspartner (dem Hörgeräteakustiker) so behandeln lassen, als wäre unmittelbar bei ihr ein Antrag gestellt worden. Auf die vom SG abgestellte positive Kenntnis der Beigeladenen vom Versorgungsbedarf der Klägerin komme es damit gerade nicht an. Unter Berücksichtigung der Ausführungen des BSG im Urteil vom 30. Oktober 2014 reiche es für die Zuständigkeitsfeststellung der ersten Befassung mit dem nicht teilbaren Versorgungsbegehren bereits aus, dass Versicherte, die mit einem Leistungserbringer gerade als Vertragspartner ihrer Krankenkasse in Kontakt träten, damit grundsätzlich gleichzeitig den Antrag nach § 19 Satz 1 SGB V stellten, den anders anzubringen ihnen durch das Verhalten der Krankenkasse aufgrund der outgesourcten Leistungen faktisch verwehrt sei. Eine ausschließliche Beantragung von Leistungen nur gegenüber der Beklagten scheide aus, weil die Klägerin ausweislich des erwähnten Kostenvoranschlages zumindest den Festbetrag der Beigeladenen in Anspruch habe nehmen wollen und diese Willensbekundung deutlich vor der formellen Antragstellung bei der Beklagten erfolgt sei. Der bei ihr am 31. März 2008 gestellte Antrag habe als wiederholender Antrag hinsichtlich der Zuständigkeitsbegründung nach § 14 SGB IX keine Rechtswirkungen mehr.

23

Da im Beruf der Klägerin keine spezifisch berufsbedingten Höranforderungen existierten, liege auch die materielle Leistungsverpflichtung ausschließlich bei der Beigeladenen. Klargestellt habe das SG ebenfalls, dass ein Manko der Versorgungsfeststellung nicht zu einem Nachteil für die Klägerin führen könne. Daher habe das SG die Tatsache, dass im bisherigen Verfahren ein günstigeres zum Sprachverständnis im Störfall geeignetes Gerät nicht ermittelt worden sei, für die Erstattung der gesamten von der Klägerin beantragten Kosten als ausreichend angesehen. Zur Frage der Beweislast im „non liquet“ sei das LSG Hessen in seiner Entscheidung vom 24. Juli 2014 – L 8 KR 352/11 – zum selben Ergebnis gelangt. Da die Beigeladene die eigentlich materiell – rechtlich Verpflichtete zur Versorgung der Klägerin mit den von dieser beschafften Hörgeräten sei werde angeregt, dass die Beigeladene ein entsprechendes Anerkenntnis abgebe.

24

Die Beklagte beantragt,

25

das Urteil des Sozialgerichts Neubrandenburg vom 11. September 2015 aufzuheben und die Beigeladene zu verurteilen, der Klägerin 2.510,00 € für die Anschaffung der Hörgeräte KINDspectra im Jahre 2009 zu erstatten.

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Die Klägerin beantragt,

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die Berufung der Beklagten zurückzuweisen, hilfsweise in Abänderung des Urteils des Sozialgerichts Neubrandenburg vom 11. September 2015 die Beigeladene zu verurteilen, ihr die Kosten für die Anschaffung der Hörgeräte in Höhe von 2.510,00 € zu erstatten.

28

Nachdem die Klägerin zunächst die Beklagte als den erstangegangenen Rehabilitationsträger im Sinne des § 14 SGB IX angesehen hat, hat sie im Termin zur mündlichen Verhandlung zu erkennen gegeben, dass sie auch mit einer Verurteilung der Beigeladenen einverstanden wäre.

29

Die Beigeladene beantragt,

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die Berufung zurückzuweisen.

31

Die Beigeladene ist weiterhin der Auffassung, dass die Beklagte der erstangegangene Reha-Träger sei. Der erstangegangene Träger im Sinne von § 14 SGB IX werde durch den rehabilitationsrechtlichen Erstantrag bestimmt. Das normativ in Wahrheit gewollte müsse nach Maßgabe des Empfängerhorizontes auf der Grundlage aller im Einzelfall als einschlägig in Betracht kommenden Umstände festgestellt werden. Die Klägerin habe ein freies Wahlrecht hinsichtlich des von ihr in Anspruch genommenen Rehabilitationsträgers. Entscheidend sei, welcher rechtlich objektivierte Wille sich aus dem Vorgang insgesamt erschließen lasse. Weder die Ausweisung eines Krankenkassenanteils noch eine etwaige Zahlung eines Eigenanteils (des Versicherten) könnten hier als rechtlich relevante Zeichen angenommen werden, die auf eine an die Beigeladene gerichtete Erstantragstellung hindeuteten. Dies werde auch durch die klaren Aussagen der Klägerin hinreichend verdeutlicht. Eine andere Betrachtungsweise würde das Antragsrecht des Versicherten unangemessen einschränken.

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Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird auf die Gerichtsakte (S 10 R 465/10 – L 7 R 215/15) sowie die Verwaltungsakte der Beklagten und der Beigeladenen, die vorgelegen haben und Gegenstand der mündlichen Verhandlung gewesen sind, Bezug genommen.

Entscheidungsgründe

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Die zulässige Berufung der Beklagten ist auch begründet.

34

Das angefochtene Urteil des Sozialgerichts Neubrandenburg vom 11. September 2015 war zu ändern und die Beigeladene zu verurteilen, der Klägerin 2.510,00 € für die Anschaffung von zwei Hörgeräten KINDspectra HS im Jahr 2009 zu erstatten. Die Verurteilung der Beigeladenen war gemäß § 75 Abs. 5 SGG möglich. Der Klägerin steht der geltend gemachte Erstattungsanspruch gemäß § 15 Abs. 1 Satz 4 SGB IX zu, weil die Beigeladene (bzw. ihre Rechtsvorgängerin) der erstangegangene Rehabilitationsträger im Sinne des § 14 Abs. 1 SGB X gewesen ist.

35

Da sich die Klägerin die beiden Hörgeräte KINDspectra HS am 28. September 2009 selbst beschafft hat, wandelte sich der grundsätzlich gegebene Sachleistungsanspruch in einen Kostenerstattungsanspruch um. Anspruchsgrundlage gegen die Beigeladene auf Kostenerstattung ist § 15 Abs. 1 Satz 4 SGB IX (in der vom 1. Juli 2001 bis 31. Dezember 2017 geltenden Fassung).

36

Nach § 15 Abs. 1 Satz 3 SGB IX ist der zuständige Rehabilitationsträger unter Beachtung der Grundsätze der Wirtschaftlichkeit und Sparsamkeit zur Erstattung der Aufwendungen verpflichtet, wenn sich Leistungsberechtigte nach Ablauf der Frist (gemeint ist damit die dem Rehabilitationsträger zu setzende angemessene Nachfrist nach § 15 Abs. 1 Satz 2 SGB X) eine erforderliche Leistung selbst beschaffen. Die Erstattungspflicht besteht auch, wenn der Rehabilitationsträger eine unaufschiebbare Leistung nicht rechtzeitig erbringen kann oder er eine Leistung zu Unrecht abgelehnt hat (Satz 4).

37

Ein derartiger Kostenerstattungsanspruch gegen die Beigeladene setzt voraus, dass diese der zuständige bzw. erstangegangene Leistungsträger im Sinne des § 14 SGB IX ist. Nach § 14 Abs. 1 Satz 1 SGB IX (in der vom 1. Mai 2004 bis 31. Dezember 2017 gültigen Fassung) stellt der Rehabilitationsträger, wenn Leistungen zur Teilhabe beantragt werden, innerhalb von zwei Wochen nach Eingang des Antrags bei ihm fest, ob er nach dem für ihn geltenden Leistungsgesetz für die Leistung zuständig ist … .Stellt er bei der Prüfung fest, dass er für die Leistungen nicht zuständig ist, leitet er den Antrag unverzüglich dem nach seiner Auffassung zuständigen Rehabilitationsträger zu (Satz 2). Wird der Antrag nicht weitergeleitet, stellt nach § 14 Abs. 2 Satz 1 SGB IX der Rehabilitationsträger den Rehabilitationsbedarf unverzüglich fest.

38

Rehabilitationsträger im Sinne von § 15 Abs. 1 Satz 4 SGB IX ist ausweislich des systematischen Zusammenhangs der Bestimmung mit Satz 3 der zuständige Rehabilitationsträger. Nach Satz 3 ist der „zuständige“ Rehabilitationsträger unter bestimmten Voraussetzungen zur Erstattung der Aufwendungen verpflichtet, wenn sich Leistungsberechtigte eine erforderliche Leistung selbst beschaffen. Die Erstattungspflicht des „zuständigen“ Rehabilitationsträgers erstreckt Satz 4 auf die darin geregelten Tatbestände, in dem er bestimmt, dass die Erstattungspflicht „auch“ in diesen Fällen besteht. Zuständiger Rehabilitationsträger im Sinne des § 15 Abs. 1 SGB IX ist der nach § 14 SGB IX verantwortliche Rehabilitationsträger (vgl. Urteil des BSG vom 30. Oktober 2014 – B 5 R 8/14 R –, juris Randnummer 28). Für § 14 SGB IX ist durch die Rechtsprechung des BSG geklärt, dass derjenige Träger, der den Antrag auf Leistungen zur Teilhabe nicht weitergeleitet hat (erstangegangener Träger) ungeachtet seiner „eigentlichen“ Zuständigkeit jeweils zur umfassenden Prüfung des Rehabilitationsbedarfs nach § 10 SGB IX verpflichtet ist. Entsprechend dem Primärzweck der Norm, bei fortdauernder interner Verpflichtung des eigentlich zuständigen Leistungsträgers eine schnelle Klärung der Zuständigkeit im Außenverhältnis zu gewährleisten, hat dieser Träger auf den grundsätzlich in einem umfassenden Sinne zu verstehenden Antrag den Anspruch des Leistungsberechtigten an Hand aller Rechtsgrundlagen für Teilhabeleistungen, die überhaupt in der konkreten Bedarfssituation für Rehabilitationsträger vorgesehen sind, und unter Beachtung der persönlichen versicherungsrechtlichen Voraussetzungen der jeweiligen Leistungsgesetze zu prüfen. Insofern bleibt ein erst- bzw. zweitangegangener Träger im Verhältnis zum Versicherten aufgrund einer gesetzlich besonders geregelten sachlichen Zuständigkeit endgültig, ausschließlich und umfassend leistungspflichtig, auch wenn er nach den geltenden Normen außerhalb des SGB IX nicht für die beanspruchte Rehabilitationsleistung zuständig ist. Diese Zuständigkeit umfasst ggf. auch Erstattungsansprüche aus § 15 Abs. 1 Satz 4 SGB IX (vgl. zum Vorstehenden: Urteil des BSG vom 30. Oktober 2014, aaO, juris Randnummer 29 m. w. N.).

39

Vorliegend kommt nur eine Zuständigkeit des erstangegangenen Trägers im Sinne von § 14 Abs. 1 Satz 1, Abs. 2 Satz 1 SGB IX in Betracht, da eine Weiterleitung des Antrages der Klägerin von einem Träger an einen anderen nicht stattgefunden hat. Der erstangegangene Träger wird im Blick auf die Zuständigkeitsregelung des § 14 SGB IX durch den rehabilitationsrechtlichen Erstantrag bestimmt. Antrag in diesem Sinne ist jede an den Versicherungsträger gerichtete Willenserklärung, aus der sich ein Leistungsverlangen ergibt. Der Antrag ist formlos, insbesondere auch mündlich oder durch sonstiges (konkludentes) Handeln möglich. An seinem Inhalt sind keine überspannten Anforderungen zu stellen. Sofern das Sozialrecht keine speziellen Regelungen trifft, finden bei der Auslegung konkludenter Handlungen die Vorschriften des BGB, insbesondere dessen § 133, Anwendung. Der entsprechend anwendbare § 133 BGB erfordert die Feststellung des (normativ) in Wahrheit Gewollten nach Maßgabe des Empfängerhorizonts auf der Grundlage aller im Einzelfall als einschlägig in Betracht kommenden Umstände. Maßgebend für die Auslegung eines Antrages ist der erkennbare wirkliche Wille des Antragstellers unter Berücksichtigung aller Umstände des Einzelfalles. Die Auslegung hat nach dem Grundsatz der Meistbegünstigung zu erfolgen. Danach ist, sofern eine ausdrückliche Beschränkung auf eine bestimmte Leistung nicht vorliegt, davon auszugehen, dass der Antragsteller die nach der Lage des Falles ernsthaft in Betracht kommenden Leistungen begehrt, unabhängig davon, welchen Ausdruck er gewählt hat (vgl. Urteil des BSG vom 30. Oktober 2014, aaO, juris Randnummer 32 m. w. N.).

40

Entgegen der Auffassung der Beigeladenen ist durch die Antragstellung der Klägerin am 31. März 2008 bei der Beklagten letztere nicht der erstangegangene Rehabilitationsträger im Sinne des § 14 SGB IX. Bereits die Übergabe der vertragsärztlichen Hörgeräteversorgung an den Hörgeräteakustiker und die Weiterleitung an die zuständige Krankenkasse ist als maßgebliche Antragstellung im Sinne des § 14 SGB IX nach der Rechtsprechung einiger Obergerichte anzusehen (vgl. beispielsweise Urteil des LSG Baden-Württemberg vom 20. August 2013 – L 13 R 2607/10 –). Auch wenn von der Klägerin wegen des eingetretenen Zeitablaufs nicht mehr zu erfahren war, wann sie die ohrenärztliche Verordnung einer beiderseitigen Hörhilfe vom 29. November 2007 dem Hörgeräteakustiker ausgehändigt hat (entweder im Dezember 2007 oder im Januar 2008), ist die Versorgungsanzeige des Hörgeräteakustikers nach Angaben der Beigeladenen bei ihr bzw. ihrer Rechtsvorgängerin am 28. September 2009 eingegangen. Nach der Rechtsprechung des BSG (vgl. Urteil vom 30. Oktober 2014, aaO, juris Randnummer 36) kann die maßgebliche Erstantragstellung rechtlich gleichwertig bereits in der Übergabe einer vertragsärztlichen Hörgeräteverordnung an den Hörgeräteakustiker oder erst in dessen Versorgungsanzeige bei der Krankenkasse bzw. in der Antragstellung durch die Klägerin bei der Beklagten liegen. Sind die tatsächlichen Voraussetzungen aller drei Möglichkeiten erfüllt, sind sie nach Maßgabe ihrer zeitlichen Priorität gegeneinander abzugrenzen.

41

Vorliegend hat nach Auffassung des Senates die Klägerin mit der Übergabe der ohrenärztlichen Verordnung vom 29. November 2007 an den Hörgeräteakustiker spätestens im Januar 2008 – und damit vor der Antragstellung bei der Beklagten am 31. März 2008 – einen entsprechenden Antrag im Sinne des § 14 SGB IX bei der Beigeladenen gestellt. Umstände, die darauf hindeuten würden, dass die Klägerin bereits anlässlich des Erstkontaktes mit dem Hörgeräteakustiker und der Übergabe der ohrenärztlichen Verordnung an diesen bereits zum Ausdruck gebracht hätte, dass sie hiermit ausschließlich einen Antrag beim Rentenversicherungsträger stellen bzw. vorbereiten wolle, sind nicht ersichtlich. Hiervon hätte möglicherweise deshalb ausgegangen werden können, weil die Klägerin als Mitarbeiterin eines Rentenversicherungsträgers schon im Vorfeld Kenntnis darüber gehabt haben könnte, dass sie ggf. die Übernahme der vollen Kosten für zwei Hörgeräte beim Rentenversicherungsträger als Leistung der Teilhabe am Arbeitsleben beantragen könne. Dies ist aber nach der eigenen Einlassung der Klägerin nicht der Fall gewesen. Diese hat gegenüber dem Senat auf Befragen im Termin zur mündlichen Verhandlung vielmehr glaubhaft angegeben, dass es sich bei der ohrenärztlichen Verordnung von November 2007 um die erstmalige Verordnung einer Versorgung mit Hörgeräten gehandelt habe. Sie hat auf Befragen weiter eingeräumt, dass es nach ihrer Erinnerung nicht so gewesen sei, dass sie bei der ersten Kontaktaufnahme und der Übergabe der ohrenärztlichen Verordnung zweier Hörgeräte an den Hörgeräteakustiker zum Ausdruck gebracht hätte, dass sie einen Antrag beim Rentenversicherungsträger im Wege beruflicher bzw. medizinischer Rehabilitation stellen möchte. Erst aufgrund späterer Erkundigungen sei ihr die Möglichkeit aufgezeigt worden, dass auch ein Antrag beim Rentenversicherungsträger gestellt werden könne. Über die Antragstellung beim Rentenversicherungsträger habe sie erst nachgedacht, nachdem sich die erprobten zuzahlungsfreien Geräte, mit deren Testung sie zunächst begonnen habe, sich als nicht hinreichend erwiesen hätten. Der Senat geht somit davon aus, weil es sich bei der ohrenärztlichen Verordnung vom 29. November 2007 um die erstmalige Verordnung von Hörhilfen gehandelt hat, dass die Klägerin keine Vorstellung über das weitere Prozedere gehabt und sich daher zunächst unbefangen an den Hörgeräteakustiker gewandt hat. Damit ist auch im Zweifel anzunehmen, dass die Klägerin die ihr günstigste Art der Leistungsgewährung hat in Anspruch nehmen wollen. Da grundsätzlich für die Versorgung von Versicherten mit Hörhilfen die Krankenkassen zuständig sind, legt der Senat das Verhalten der Klägerin so aus, dass diese mit der Übergabe der ohrenärztlichen Verordnung an den Hörgeräteakustiker einen Antrag bei der Krankenkasse, also der Beigeladenen bzw. ihrer Rechtsvorgängerin, stellen wollte.

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Die Beigeladene kann nicht damit gehört werden, dass die Klägerin erst am 11. November 2008 einen Antrag auf Kostenübernahme für zwei Hörgeräte bei der Beigeladenen (bzw. deren Rechtsvorgängerin) gestellt hat und diese damit erstmalig tatsächlich von dem Versorgungsbegehren der Klägerin Kenntnis erlangt hat und dass die Versorgungsanzeige des Hörgeräteakustikers erst am 28. September 2009 bei der Krankenkasse eingegangen ist. Wie das BSG in seinem Urteil vom 30. Oktober 2014, (aaO, juris Randnummer 39) ausgeführt hat, ist der gesamte Vorgang der Leistungserbringung von der Vorlage der ärztlichen Verordnung über die Anpassung und Auswahl der Hörgeräte bis zur Abrechnung mit dem Versicherten und seiner Kasse mit der Folge externalisiert, dass grundsätzlich jeder Kontakt des Versicherten mit seiner Kasse und damit der Aufwand eines Verwaltungsverfahrens vermieden wird. Dass eine Befassung der Kasse erst nach durchgeführter Versorgung erfolgt, ist notwendige tatsächliche Konsequenz einer derartigen evident an Gesichtspunkten einer betriebsorganisatorischen Optimierung und Zielen des „lean management“ orientierten Handhabung nach dem Vorbild Privater. Als Träger öffentlicher Verwaltung ist die Beigeladene nicht ermächtigt, sich ihrer verfassungsmäßigen Rechts- und Gesetzesbindung (Artikel 20 Abs. 3 GG) zu entledigen und kann sich nicht durch eine faktische Privatisierung selbst von der Erledigung der ihr übertragenen Verwaltungsaufgaben entbinden. Vielmehr müssen sich Träger wie die Beigeladene in Abhängigkeit von der entsprechenden Willensbetätigung durch den Versicherten grundsätzlich bereits mit der Vorlage einer vertragsärztlichen Verordnung bei ihrem Vertragspartner so behandeln lassen, als wäre unmittelbar bei ihnen ein Leistungsantrag gestellt worden. Damit ist davon auszugehen, dass Versicherte, die mit einem Leistungserbringer gerade als Vertragspartner ihrer Krankenkasse in Kontakt treten, damit grundsätzlich gleichzeitig den Antrag nach § 19 Satz 1 SGB IV stellen, den anders anzubringen ihnen durch das Verhalten ihrer Kasse faktisch gerade verwehrt ist. Aus der Sicht des Versicherten besteht ein der Krankenkasse zurechenbarer Rechtsschein der Empfangszuständigkeit des Hörgeräteakustikers für Leistungsanträge im Sinne einer geduldeten passiven Stellvertretung. Wer den Rechtsschein einer Vollmacht setzt, wird daran festgehalten, wenn ein Dritter darauf berechtigterweise vertraut hat. Für die aktive Stellvertretung ist dabei erforderlich, dass ein zum Handeln in fremdem Namen nicht Befugter als Vertreter aufgetreten ist, der Geschäftsgegner davon ausgehen konnte und darauf vertraut hat, dass der als Vertreter Handelnde Vollmacht habe und der Geschäftsherr das Verhalten des unbefugten Vertreters kannte und nicht dagegen eingeschritten ist, obwohl ihm das möglich gewesen wäre. Im vorliegenden Zusammenhang beschränkt sich der Rechtsschein auf die Empfangszuständigkeit des Hörgeräteakustikers für rehabilitationsrechtliche Leistungsanträge. Für die passive Stellvertretung ergibt sich der Vertretungswille bereits aus den äußeren Umständen und bedarf daher nicht wie bei der aktiven Vertretung einer Kenntlichmachung des Vertreterwillens. Da die Krankenkasse im von ihr initiierten Versorgungsablauf praktisch das gesamte der ärztlichen Verordnung folgende Antrags-, Bedarfsfeststellungs-, Versorgungs- und Abrechnungsverfahren den Hörgeräteakustikern überantwortet hat, begründet sie bei ihren Versicherten ein schutzwürdiges Vertrauen darauf, dass es sich beim Hörgeräteakustiker insoweit um eine zur Antragsentgegennahme zuständige Stelle handelt. In der Folge des selbst gesetzten Rechtsscheins muss sich die Krankenkasse behandeln lassen, als handele es sich bei dem von ihr mit den eigenen Verfahrenspflichten belasteten Leistungserbringer um eine zur Antragsentgegennahme zuständige Stelle im Sinne des § 16 Abs. 2 SGB I (vgl. Urteil des BSG vom 30. Oktober 2014, aaO, juris Randnummer 42 m. w. N.). Dieser Auffassung des BSG schließt sich auch der erkennende Senat an, der den Hörgeräteakustiker ebenfalls „im Lager der Krankenkasse stehend“ ansieht.

43

Ist damit die Beigeladene bzw. ihre Rechtsvorgängerin als erstangegangener Rehabilitationsträger im Sinne des § 14 SGB IX anzusehen, steht der Klägerin infolge der Selbstbeschaffung der beiden Hörgeräte am 28. September 2009 ein Kostenerstattungsanspruch gegen die Beigeladenen gemäß § 15 Abs. 1 Satz 4 SGB IX zu, da die Beigeladene „eine Leistung zu Unrecht abgelehnt“ hat.

44

Ansprüche nach § 15 Abs. 1 Satz 4 Alternative 2 SGB IX sind nur gegeben, wenn der zuständige Rehabilitationsträger (hier die Beigeladene) eine Leistung zu Unrecht abgelehnt hat und dem Versicherten „dadurch“ Kosten für die selbstbeschaffte Leistung entstanden sind. Dazu muss die Kostenbelastung des Versicherten der ständigen Rechtsprechung des BSG zufolge wesentlich auf der Leistungsversagung des Trägers beruhen (vgl. Urteil des BSG vom 24. Januar 2013 – B 3 KR 5/12 R – juris Randnummer 43 m. w. N.). Hieran fehlt es, wenn dieser vor Inanspruchnahme der Versorgung mit dem Leistungsbegehren nicht befasst worden ist, obwohl dies möglich gewesen wäre, oder wenn der Versicherten auf eine bestimmte Versorgung von vornherein festgelegt war. Dies ist vorliegend nicht der Fall.

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Die Beigeladene hat durch Schriftsatz ihrer damaligen Prozessbevollmächtigten vom 27. August 2009 zu erkennen gegeben, dass die Beigeladene ihre Leistungspflicht auf den Festbetrag beschränkt sieht. Damit hat sie zumindest konkludent den weitergehenden Antrag der Klägerin auf Ausstattung mit den höherwertigen Wunschgeräten abgelehnt (vgl. auch Urteil des BSG vom 24. Januar 2013, aaO, juris Randnummer 39). Da die Klägerin zeitlich später, nämlich erst am 28. September 2009, sich die beiden Hörgeräte KINDspectra HS selbst beschafft hat, war die Kostenbelastung der Klägerin in Höhe des Eigenanteils von 2.510,00 € wesentlich auf die Leistungsversagung seitens der Beklagten mit Erlass ihrer von der Klägerin angefochtenen Bescheide als auch mit der Beschränkung der Beigeladenen hinsichtlich ihrer Leistungspflicht auf den Festbetrag zurückzuführen und in diesem Sinne kausal für die Selbstbeschaffung der Hörgeräte durch die Klägerin. Auch kann nicht davon ausgegangen werden, dass die Klägerin auf eine bestimmte Versorgung von vornherein festgelegt war. Sie hat nach ihren Angaben zunächst zuzahlungsfreie Hörgeräte und sodann sowohl die von ihr später tatsächlich gekauften Hörgeräte KINDspectra HS getestet, als auch die Hörgeräte vom Typ KINDepoq XW.

46

Die Klägerin hatte auch einen Anspruch gegenüber der Beigeladenen auf die Versorgung mit den später gekauften Hörgeräten und damit auf die Erstattung ihres Eigenanteils in Höhe von 2.510,00 €. Im Krankenversicherungsrecht hat der Versicherte nach §§ 11 Abs. 1 Nr. 4, 27 Abs. 1 Satz 2 Nr. 3, 33 Abs.1 Satz 1 SGB V Anspruch auf Versorgung mit Hörhilfen, wenn sie im Einzelfall erforderlich sind, um eine Behinderung auszugleichen. Ist eine bestimmte Hörhilfe notwendig im Sinne des Rechts der gesetzlichen Krankenversicherung, hat der Versicherungsträger die Hörhilfe – von Zuzahlungen abgesehen – in vollem Umfang zu gewähren. Dieser Grundsatz gilt aber nur, wenn eine gegenüber den Festbetragsgeräten höherwertige Hörmittelversorgung medizinisch notwendig ist. Denn grundsätzlich erfüllt die Krankenkasse mit der Zahlung des Festbetrages ihre Leistungspflicht (vgl. § 12 Abs. 2 SGB V). Der für ein Hilfsmittel festgesetzte Festbetrag, der eine besondere Ausprägung des Wirtschaftlichkeitsgebots darstellt, begrenzt die Leistungspflicht der gesetzlichen Krankenversicherung dann nicht, wenn er für den Ausgleich der konkret vorliegenden Behinderung objektiv nicht ausreicht (vgl. Urteil des BSG vom 17. Dezember 2009 – B 3 KR 20/08 R – juris Randnummer 23 bis 41 m. w. N.). Eingeschlossen in den Versorgungsauftrag der gesetzlichen Krankenversicherung ist eine kostenaufwändige Versorgung dann, wenn durch sie eine Verbesserung bedingt ist, die einen „wesentlichen Gebrauchsvorteil“ gegenüber einer kostengünstigeren Alternative bietet (vgl. Urteil des BSG vom 24. Januar 2013, aaO, juris Randnummer 34).

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Einen solchen wesentlichen Gebrauchsvorteil sieht der Senat im Hinblick auf das von der Klägerin später gekaufte Wunschgerät KINDspectra HS im Vergleich zu dem eigenanteilsfreien Hörgerät (Festbetragsgerät) KINDassista HS. Im Hörprotokoll vom 9. Mai 2008 ist vermerkt, dass bei durchgeführten Störschallmessungen das Festbetragsgerät KINDassista HS lediglich ein Sprachverstehen von 50 % erbrachte. Das Gerät KINDspectra HS erbrachte im Störfall sowohl rechts als auch links eine Verständlichkeit von 90 % und stereophon von 100 %. Bei einer Verbesserung des Sprachverstehens im Störschall von mindestens 40 % ist ein erheblicher Gebrauchsvorteil zu sehen, der es gerechtfertigt hat, die Klägerin auch mit den von ihr später gekauften zwei Hörgeräten KINDspectra HS zu versorgen.

48

Inwieweit sich der Hörgeräteakustiker ggf. vertragswidrig gegenüber der Beigeladenen verhalten haben könnte, indem er der Klägerin nicht noch weitere „bessere Festbetragsgeräte“ zur Austestung angeboten hat, kann vorliegend dahingestellt bleiben. Insoweit wäre darauf hinzuweisen, dass ein eventuelles vertragswidriges Verhalten des Hörgeräteakustikers aufgrund der internen Vertragsbindungen zwischen der Beigeladenen und dem Akustiker jedenfalls nicht zu Lasten der Klägerin gehen kann, so lange diese hierüber von der Beigeladenen nicht in Kenntnis gesetzt worden ist und selbst keine andere Möglichkeit hatte, sich über sämtliche Angebote, die am Markt zur Verfügung stehen, einen Überblick zu verschaffen, ohne dass die Leistungsträger der Klägerin beratend zur Seite gestanden haben (vgl. insoweit auch das Urteil des Sächsischen LSG vom 7. Februar 2012 – L 5 R 488/11 –, juris Randnummer 40).

49

Da die Klägerin gegenüber der Beigeladenen einen Anspruch auf Versorgung mit den beiden von ihr gekauften Hörgeräten gehabt hat, hat die Beigeladene als erstangegangener Rehabilitationsträger der Klägerin den Eigenanteil von 2.510,00 € gemäß § 15 Abs. 1 Satz 4 zweite Alternative SGB IX zu erstatten. Hierzu konnte die Beigeladene vom Senat auch gemäß § 75 Abs. 5 SGG verurteilt werden.

50

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.

51

Der Senat hat die Revision nicht zugelassen, weil Gründe hierfür nicht ersichtlich sind (§ 160 Abs. 2 SGG).

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