Urteil vom Landessozialgericht Mecklenburg-Vorpommern (8. Senat) - L 8 AS 354/16

Tenor

Die Berufung des Klägers gegen den Gerichtsbescheid des Sozialgerichts B-Stadt vom 14. April 2016 wird zurückgewiesen.

Außergerichtliche Kosten sind auch für das Berufungsverfahren nicht zu erstatten.

Die Revision wird nicht zugelassen.

Tatbestand

1

Der Kläger erstrebt in einem Überprüfungsverfahren die Aufhebung eines Versagungsbescheides und die Gewährung von Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts nach dem Zweiten Buch Sozialgesetzbuch – Grundsicherung für Arbeitsuchende – (SGB II) für die Zeit von 1. Oktober 2011 bis 31. März 2014.

2

Der am 3. xxx 19yy geborene Kläger bezog laufend Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts nach dem SGB II seitens der ARGE N., deren Rechtsnachfolger der Beklagte ist. Schon im Rahmen der Erstantragstellung im Jahre 2007 hatte er bei der Frage, ob er eine Tätigkeit von mindestens 3 Stunden täglich ausüben könne, angegeben, einen Antrag auf eine Erwerbsminderungsrente gestellt zu haben, wobei die Prüfung noch nicht abgeschlossen sei. Bei späteren Weiterzahlungsanträgen gab er dann jeweils an, seit 2007 nicht mehr erwerbsfähig zu sein.

3

Im Februar 2011 beantragte der Kläger Leistungen nach dem Zwölften Buch Sozialgesetzbuch – Sozialhilfe – (SGB XII) bei dem Fachgebiet Soziales des damaligen Landkreises N. und begehrte bei dem Sozialgericht (SG) B-Stadt am 7. Juni 2011 den Erlass einer einstweiligen Anordnung (Az. S 5 SO 29/11 ER). Nach Beiladung des Jobcenters N. verpflichtete das SG den Beigeladenen mit Beschluss vom 24. Juni 2011, dem Kläger unter Vorbehalt der Rückzahlung monatliche Leistungen nach dem SGB II in Höhe von 51,08 Euro ab dem 7. Juni 2011, längstens bis zum 30. September 2011, zu gewähren. Zur Begründung hieß es zur Abgrenzung der Zuständigkeit der Leistungsträger nach dem SGB II und dem SGB XII, aus dem Umstand, dass der Kläger bis Ende März 2011 Leistungen nach dem SGB II bezogen habe, sei der zwingende Schluss zu ziehen, dass zumindest der Beigeladene den Kläger bis zu diesem Zeitpunkt als erwerbsfähig angesehen habe. Dass der Kläger ab April 2011 keine Leistungen nach dem SGB II mehr bezogen habe, beruhe auch nicht auf einer geänderten Einschätzung der Erwerbsfähigkeit, sondern dem Umstand, dass der Kläger bei dem Beigeladenen keinen Antrag mehr gestellt habe. Allein der Kläger zweifele an seiner Erwerbsfähigkeit, ohne dass eine Feststellung seiner Erwerbsunfähigkeit nach § 44a SGB II durch den Beigeladenen erfolgt sei. Der Leistungsträger stehe jedoch nicht zur Disposition des Leistungsempfängers. Entscheidend sei allein der objektive Zustand der Erwerbsunfähigkeit, welcher nach dem Vorbringen beider Leistungsträger nicht vorliege. Hieraus folge zwingend die grundsätzliche Leistungsberechtigung des Klägers nach dem SGB II.

4

Nachdem das Jobcenter dem Kläger mit Bescheid vom 10. Oktober 2011 vorläufig Leistungen für die Zeit vom 1. April bis 6. Juni 2011 bewilligt hatte, wobei als Grund für die vorläufige Bewilligung die noch nicht abgeschlossene Klärung der Erwerbsfähigkeit des Klägers genannt wurde, lehnte das SG nach Beiladung des Jobcenters mit Beschluss vom 14. Oktober 2011 (Az. S 5 SO 19/11 ER) einen Antrag des Klägers, den Sozialhilfeträger zu verpflichten, über seinen Antrag auf Leistungen nach dem SGB XII zu entscheiden und die am 28. Februar 2011 beantragten Leistungen zum 31. März 2011 zu bewilligen, ab, da der Kläger keinen über die durch den Beigeladenen mit Bescheid vom 11. Oktober 2011 bewilligten Leistungen hinausgehenden Anspruch habe. Eine Feststellung der Erwerbsunfähigkeit des Klägers durch den Beigeladenen sei bisher nicht erfolgt, womit der Kläger nach § 44a SGB II als erwerbsfähig im Sinne des SGB II gelte. Hieraus folge die grundsätzliche Leistungsberechtigung des Klägers nach dem SGB II. Durch den Beigeladenen seien dem Kläger für den gesamten streitgegenständlichen Zeitraum aber Leistungen bewilligt worden, die seinen glaubhaft gemachten Bedarf deckten bzw. sogar geringfügig überstiegen, da ein Bedarf für Kosten der Unterkunft und Heizung nicht glaubhaft gemacht worden sei.

5

Zuvor hatte der Kläger unter dem 7. September 2011 beim Sozialhilfeträger erneut einen Antrag auf Gewährung von Sozialhilfe gestellt, den der Sozialhilfeträger unter Abgabenachricht an den Kläger vom 15. September 2011 an das Jobcenter N. weitergab. Mit Schreiben vom 22. September 2011 kündigte das Jobcenter dem Kläger daraufhin eine Einladung zu einer ärztlichen Untersuchung zur Feststellung seiner Erwerbsfähigkeit an und wies darauf hin, dass er die Leistungen versagen könne, wenn der Kläger seinen Mitwirkungspflichten nicht nachkomme.

6

Nachdem der Kläger nach einer Mitteilung des ärztlichen Dienstes zum Untersuchungstermin am 30. September 2011 ohne Angabe von Gründen nicht erschienen war, versagte das Jobcenter N. mit Bescheid vom 12. Oktober 2011 die Leistungen ab dem 1. Oktober 2011 ganz, da der Kläger der Einladung zur ärztlichen Untersuchung nicht nachgekommen sei.

7

Mit Beschluss vom 26. Oktober 2011 (Az. S 5 SO 67/11 ER) lehnte das SG nach Beiladung des Jobcenters auch einen Eilantrag des Klägers für den Zeitraum ab 1. Oktober 2011 ab, mit welchem dieser wiederum die Gewährung von Leistungen nach dem SGB XII erstrebte. Der Kläger habe keinen Anordnungsanspruch gegen den Sozialhilfeträger, da er eine Erwerbsunfähigkeit nicht glaubhaft gemacht habe. Auch habe der Kläger keinen Anordnungsanspruch gegen das Jobcenter als Beigeladenen, da dieser die Leistungen wegen fehlender Mitwirkung des Klägers mit Bescheid vom 12. Oktober 2011 rechtmäßig versagt habe. Der Versagungsbescheid sei formell und materiell rechtmäßig, insbesondere sei der Kläger vor Erlass des Bescheides angehört worden. Auch lägen die Voraussetzungen des § 66 Erstes Buch Sozialgesetzbuch – Allgemeiner Teil – (SGB I) vor, da der Kläger die angebotene Untersuchung bei ärztlichen Dienst der Bundesagentur für Arbeit nicht wahrgenommen habe, wozu er nach § 62 SGB I verpflichtet gewesen wäre. Die Zweifel an der Erwerbsfähigkeit des Klägers könnten nur durch ein solches Gutachten ausgeräumt werden, welches sich in den Grenzen der Mitwirkungspflichten des Klägers nach § 65 SGB I halten würde. Schließlich seien auch keine Ermessensfehler erkennbar.

8

Nachdem der Kläger am 25. Juni 2012 beim Sozialhilfeträger einen Antrag auf die Gewährung von Krankenhilfe und Grundsicherungsleistungen gestellt und das SG B-Stadt in einem einstweiligen Rechtsschutzverfahren (S 5 SO 32/12 ER) darauf hingewiesen hatte, dass dieses auch einen Antrag auf SGB II-Leistungen darstelle, forderte der Beklagte den Kläger für den Fall, dass sein Antrag auch SGB II-Leistungen umfasse solle, zur Abgabe des Formantrages sowie zur Vorlage lückenloser Kontoauszüge seit April 2012 bis 6. August 2012 auf und wies ihn auf die Möglichkeit der Versagung der Leistungen hin.

9

Da der Kläger der Mitwirkungsaufforderung nicht nachkam, versagte der Beklagte mit Bescheid vom 8. August 2012 die Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts ab 1. Juni 2012 ganz.

10

Am 27. Dezember 2013 erhob der Kläger beim SG B-Stadt Untätigkeitsklage (S 8 AS 903/15), da der Beklagte noch nicht über seinen fristgerechten Widerspruchs gegen den Versagungsbescheid vom 12. Oktober 2011 entschieden habe. Mit Urteil vom 30. Juni 2015 verwarf das SG die Klage als unzulässig, da sich die Widerspruchseinlegung nicht habe nachweisen lassen. Die dagegen eingelegte Berufung des Klägers (Az. L 8 AS 429/15) ist vom Senat mit Urteil vom 29. November 2018 zurückgewiesen worden.

11

Im Termin zur mündlichen Verhandlung vor dem SG am 30. Juni 2015 beantragte der Kläger die Überprüfung des Versagungsbescheides vom 12. Oktober 2011 nach § 44 Zehntes Buch Sozialgesetzbuch – Sozialverwaltungsverfahren und Sozialdatenschutz - (SGB X) bei dem Beklagten.

12

Mit Bescheid vom 17. Juli 2015 lehnte der Beklagte den Überprüfungsantrag ab, da eine Überprüfung rückwirkend nur für einen Zeitraum von einem Jahr möglich sei und die Überprüfung des Bescheides vom 12. Oktober 2011 somit von dieser gesetzlichen Überprüfung ausgeschlossen sei.

13

Den dagegen erhobenen Widerspruch des Klägers vom 20. August 2015 wies der Beklagte mit Widerspruchsbescheid vom 1. Oktober 2015 zurück, da gemäß § 40 Abs. 1 SGB II i.V.m. § 44 Abs. 4 Satz 1 SGB X eine rückwirkende Überprüfung (nur) für einen Zeitraum von einem Jahr möglich sei. Gemäß § 44 Abs. 4 Satz 2, 3 SGB X werde dabei der Zeitpunkt der Rücknahme von Beginn des Jahres an gerechnet, in dem der Antrag auf Rücknahme erfolgt sei. Vorliegend sei der Antrag auf Überprüfung am 30. Juni 2015 gestellt worden. Der zu überprüfende Zeitraum von einem Jahr werde somit ab dem 1. Januar 2014 berechnet und umfasse den Zeitraum vom 1. Januar 2014 bis 31. Dezember 2014. Bescheide, welche vor diesem Zeitraum ergangen seien, seien von einer Überprüfung ausgeschlossen.

14

Am 6. Oktober 2015 hat der Kläger Klage bei dem SG B-Stadt erhoben und zur Begründung vorgetragen, die Jahresfrist sei nicht abgelaufen, da mit der Erhebung der Untätigkeitsklage im Verfahren S 9 AS 1096/13 eine Verjährungsunterbrechung eingetreten sei. Davon abgesehen hätte der Beklagte auch bereits während des Untätigkeitsklageverfahrens über seinen Widerspruch vom 1. November 2011 entscheiden können. Im Übrigen sei der Beklagte seiner Verpflichtung aus §§ 14 und 15 SGB I nicht nachgekommen, ihn über seine Rechte und die Möglichkeit einer Antragstellung nach § 44 SGB X zu belehren. Gleiches gelte für das SG im Verfahren der Untätigkeitsklage. Letztlich hätte der Beklagte nach Erhebung der Untätigkeitsklage und Vorlage des Widerspruches auch ohne Antrag tätig werden müssen.

15

Der Kläger hat schriftsätzlich beantragt,

16

den Widerspruchsbescheid vom 1. Oktober 2015 sowie den Versagungsbescheid vom 12. Oktober 2011 aufzuheben, unverzüglich über die Beschwerde vom 1. November 2011 zu entscheiden und dem Kläger die Leistungen vom 1. Oktober 2011 bis 31. März 2014 zu bewilligen.

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Der Beklagte hat schriftsätzlich beantragt,

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die Klage abzuweisen.

19

Er verweist auf seine Ausführungen im Widerspruchsbescheid. Der zu Überprüfung gestellte Versagungsbescheid stamme vom 12. Oktober 2011 und liege daher außerhalb des Prüfungszeitraumes.

20

Nach Anhörung der Beteiligten hat das SG die Klage mit Gerichtsbescheid vom 14. April 2016 abgewiesen, da der Beklagte die Überprüfung des Versagungsbescheides vom 12. Oktober 2011 zu Recht abgelehnt habe. Der durch den Kläger zur Überprüfung gestellte Bescheid liege außerhalb des nach § 44 Abs. 4 i. V. m. § 40 Abs. 1 SGB II festgeschriebenen Überprüfungszeitraumes von einem Jahr. Unstreitig habe der Kläger zu Protokoll der mündlichen Verhandlung vom 30. Juni 2015 in dem Verfahrens S 9 AS 1096/13 vor dem SG B-Stadt einen Überprüfungsantrag hinsichtlich des Versagungsbescheides vom 12. Oktober 2011 gestellt, der mangels eines feststellbar dagegen eingelegten Widerspruches in Rechtskraft erwachsen sei. Abgestellt auf die Antragstellung vom 30. Juni 2015 ergebe sich nach § 44 Abs. 4 SGB X i. V. m. § 40 Abs. 1 SGB II, dass hinsichtlich des zu überprüfenden Zeitraumes, innerhalb dessen ein rechtswidriger Verwaltungsakt zu überprüfen gewesen wäre, dieser frühestens mit dem 1. Januar 2014 beginnen könne. Selbst wenn man auf den Zeitpunkt der Klageerhebung in dem Verfahren S 9 AS 1096/13 am 27. Dezember 2013 abstellen wollte, würde sich ein frühestmöglicher Überprüfungszeitpunkt zum 1. Januar 2012 ergeben. Auch unter Berücksichtigung dieses Zeitraumes liege der zur Überprüfung gestellte Bescheid noch außerhalb des Überprüfungsbereichs. Zu Recht habe der Beklagte daher die Überprüfung des gerügten Bescheides abgelehnt, da die Rücknahme des rechtswidrigen Bescheides wegen des Fristablaufes eine nachträgliche Leistungserbringung ohnehin nicht rechtfertigen würde (Hinweis auf Schütze, in: von Wulffen, SGB X, § 44 Rndr. 38). Wegen der insoweit rechtskräftigen Leistungsablehnung scheide auch die Bewilligung von Leistungen, wie beantragt ab 1. Oktober 2011, aus. Hinsichtlich welcher Beschwerde vom 1. November 2011 eine Entscheidung begehrte werde, entziehe sich schließlich der Erkenntnis des Gerichtes.

21

Gegen den am 19. April 2016 zugestellten Gerichtsbescheid hat der Kläger am 17. Mai 2016 Berufung bei dem Landessozialgericht Mecklenburg-Vorpommern eingelegt und auf sein bisheriges Vorbringen verwiesen.

22

Der Kläger beantragt schriftsätzlich sinngemäß,

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den Gerichtsbescheid des Sozialgerichts B-Stadt vom 14. April 2016 und den Bescheid vom 17. Juli 2015 in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 1. Oktober 2015 aufzuheben und den Beklagten zu verurteilen, den Bescheid vom 12. Oktober 2011 aufzuheben und ihm Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts nach dem SGB II für die Zeit vom 1. Oktober 2011 bis 31. März 2014 zu gewähren.

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Der Beklagte beantragt,

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die Berufung zurückzuweisen.

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Er erachtet den Gerichtsbescheid für zutreffend.

27

Unter dem 29. Oktober 2018 ist der Kläger mit Postzustellungsauftrag zum Termin am 29. November 2018 geladen worden. Nachdem die Postzustellungsurkunde zunächst nicht rückläufig war, ist die Terminsmitteilung am 19. November 2018 vorsorglich erneut abgesandt worden. Daraufhin ging bei Gericht zunächst die Postzustellungsurkunde über die Zustellung der Ladung am 21. November 2018 ein. Nachdem eine telefonische Auskunft ergeben hatte, dass bei der ersten Ladung die Postzustellungsurkunde versehentlich mit dem Briefumschlag eingeworfen worden sei, erreichte das Gericht auch noch eine „Ersatzurkunde“ über eine Zustellung am 30. Oktober 2018.

28

Wegen der weiteren Einzelheiten wird auf die Gerichtsakten sowie die beigezogenen Verwaltungsvorgänge Bezug genommen, die Gegenstand der mündlichen Verhandlung gewesen sind.

Entscheidungsgründe

29

Der Senat kann trotz Ausbleibens des Klägers im Termin entscheiden, § 153 Abs. 1 in Verbindung mit § 110 Abs. 1 Satz 2 SGG. Das persönliche Erscheinen des Klägers war nicht angeordnet und dieser mit der Terminsmitteilung darauf hingewiesen worden, dass auch ohne ihn verhandelt und entschieden werden kann

30

Der Kläger hat die Terminsmitteilung auch rechtzeitig erhalten, denn diese ist ihm spätestens am 21. November 2018 bekanntgegeben worden. Zwar wäre damit die Zwei-Wochen-Frist des § 110 Abs. 1 Satz 1 SGG nicht eingehalten worden. Dabei handelt es sich jedoch lediglich um eine Sollvorschrift, so dass die Frist grundsätzlich unterschritten werden darf. Als Mindestfrist für die Terminsmitteilung gilt die Drei-Tages-Frist des § 217 Zivilprozessordnung (ZPO), der gemäß § 202 SGG entsprechend gilt (BSG, Urteil vom 19. März 1992 – 12 RK 62/91 – juris, Rdnr. 10). Diese Frist ist eingehalten. Auch ist nicht ersichtlich, dass der Kläger durch ein Unterschreiten der Zwei-Wochen-Frist in seinem Anspruch auf rechtliches Gehör verletzt worden wäre.

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Die zulässige Berufung ist unbegründet.

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Die Abweisung der Klage mit dem angefochtenen Gerichtsbescheid vom 14. April 2016 erweist sich im Ergebnis als zutreffend.

33

Der Kläger hat keinen Anspruch darauf, dass der Beklagte den Versagungsbescheid vom 12. Oktober 2011 aufhebt. Eine Anspruchsgrundlage für dieses Begehren könnte sich allein aus § 44 SGB X in Verbindung mit § 40 Abs. 1 SGB II in der hier maßgeblichen, ab 1. Mai 2011 (bis zum 31. Juli 2016) geltenden Fassung ergeben. Danach gilt für das Verfahren nach dem SGB II das SGB X mit der Maßgabe, dass anstelle des Zeitraums von vier Jahren in § 44 Abs. 4 Satz 1 SGB X ein Zeitraum von einem Jahr tritt.

34

§ 44 Abs. 1 Satz 1 SGB X bestimmt, dass soweit sich im Einzelfall ergibt, dass bei Erlass eines Verwaltungsaktes das Recht unrichtig angewandt oder von einem Sachverhalt ausgegangen worden ist, der sich als unrichtig erweist, und soweit deshalb Sozialleistungen zu Unrecht nicht erbracht oder Beiträge zu Unrecht erhoben worden sind, der Verwaltungsakt, auch nachdem er unanfechtbar geworden ist, mit Wirkung für die Vergangenheit zurückzunehmen ist. Dies gilt nicht, wenn der Verwaltungsakt auf Angaben beruht, die der Betroffene vorsätzlich in wesentlicher Beziehung unrichtig oder unvollständig gemacht hat. Nach Absatz 2 ist ein rechtswidriger nicht begünstigender Verwaltungsakt, auch nachdem er unanfechtbar geworden ist, ganz oder teilweise mit Wirkung für die Zukunft zurückzunehmen, wobei er auch für die Vergangenheit zurückgenommen werden kann.

35

Zutreffend sind sowohl der Beklagte als auch das SG von einer Anwendbarkeit des § 44 Abs. 1 Satz 1 SGB X auf den Versagungsbescheid vom 12. Oktober 2011 ausgegangen. Diese Vorschrift enthält im Unterschied zur Grundregelung des § 44 Abs. 2 SGB X einen Sondertatbestand für rechtswidrige, nicht begünstigende Verwaltungsakte, durch die „Sozialleistungen zu Unrecht nicht erbracht“ oder - was hier ausscheidet - „Beiträge zu Unrecht erhoben“ worden sind. Dafür reicht es nicht aus, dass der bestandskräftige Bescheid lediglich im weiteren Sinne mit Sozialleistungen zusammenhängt. Voraussetzung ist vielmehr ein unmittelbarer Bezug zur Erbringung von Sozialleistungen (vgl. Baumeister, in: Schlegel/Voelzke, jurisPK-SGB X, 2. Aufl. 2017, § 44 SGB X, Rdnr. 64; Merten in: Hauck/Noftz, SGB, § 44 SGB X, Rdnr. 47).

36

Dieser notwendige unmittelbare Bezug zur Erbringung von Sozialleistungen ist bei dem zu überprüfenden Versagungsbescheid jedoch gegeben. Zwar wird mit dem Bescheid (noch) nicht unmittelbar über den Leistungsanspruch selbst entschieden; Voraussetzung für eine Versagung ist vielmehr, dass eine solche Entscheidung ohne die geforderte Mitwirkungshandlung gerade nicht möglich ist. Jedoch trifft die Behörde (auch) bereits mit einem Entziehungs- oder Versagungsbescheid nach § 66 SGB I eine unmittelbare Entscheidung, dass eine bestimmte bereits gewährte Sozialleistungen wieder entzogen bzw. - falls wie hier noch keine Gewährung erfolgt ist – versagt wird, d.h. zumindest erst einmal nicht erbracht wird, so dass auch in diesen Fällen bei eingetretener Bestandskraft des Bescheides zwischen den Beteiligten - ggf. bis zu einer Nachholung der Mitwirkung - feststeht, dass für einen bestimmten Zeitraum keine Leistungen zu erbringen sind (offen gelassen von LSG Sachsen-Anhalt, Urteil vom 11. September 2013 - L 6 U 22/12 – Rdnr. 46, juris, angesichts einer bloßen Einstellung des Verwaltungsverfahrens, die an § 44 Abs. 2 SGB X zu messen sei).

37

Eine Prüfung (auch) von Versagungsbescheiden anhand von § 44 Abs. 1 SGB X erscheint im Übrigen nicht zuletzt auch vor dem Hintergrund der Verfallsregelung des § 44 Abs. 4 Satz 1 SGB X in Verbindung mit § 40 Abs. 1 Satz 2 SGB II geboten, wonach Grundsicherungsleistungen längstens für einen Zeitraum bis zu einem Jahr vor der Rücknahme erbracht werden. Denn wertungsmäßig besteht insoweit kein Unterschied zwischen einer rechtwidrigen Leistungsablehnung und einer rechtswidrigen (bloßen) Leistungsversagung. Sachliche Gründe dafür, Leistungen im Falle einer nach längerer Zeit zurückgenommenen Leistungsversagung (im Falle der Feststellung der Leistungsvoraussetzungen) noch nachzuzahlen, bei einer Leistungsablehnung dagegen nicht, sind für den Senat nicht erkennbar. Die Gründe für die Einschränkung der rückwirkenden Erbringung existenzsichernder Leistungen bzw. der Schaffung von Rechtssicherheit gelten für Leistungsablehnungen und Versagungen in gleicher Weise.

38

Ein Anspruch des Klägers auf eine Rücknahme des Versagungsbescheides scheidet vorliegend bereits ungeachtet seiner Rechtswidrigkeit ohne Weiteres deshalb aus, weil angesichts der Verfallsregelungen des § 44 Abs. 4 SGB X in Verbindung mit § 40 Abs. 1 Satz 2 SGB II keine Leistungsnachzahlung mehr erfolgen könnte.

39

Durch die Rechtsprechung des BSG (zuletzt Urteil vom 23. Februar 2017 – B 4 AS 57/15 R – juris Rdnr. 23 m.w.N.) ist geklärt, dass die Verwaltung schon keine Rücknahmeentscheidung nach § 44 Abs. 1 SGB X mehr zu treffen hat, wenn die rechtsverbindliche, grundsätzlich zurückzunehmende Entscheidung keine Wirkungen mehr entfalten kann, also ausschließlich Leistungen für Zeiten betrifft, die außerhalb der durch den Rücknahmeantrag bestimmten Verfallsfrist liegen. Die Unanwendbarkeit der Vollzugsregelung des § 44 Abs. 4 SGB X, also die nicht mehr vorhandene Möglichkeit einer rückwirkenden Erbringung von Sozialleistungen, steht dann auch einer isolierten Rücknahme eines rechtswidrigen Bescheides nach § 44 Abs. 1 SGB X entgegen. Die Rücknahme steht mithin unter dem Vorbehalt, dass Sozialleistungen nach § 44 Abs. 4 SGB X noch zu erbringen sind, was auch bei der Verkürzung der rückwirkenden Leistungserbringung auf einen Zeitraum bis zu einem Jahr nach § 40 Abs. 1 Satz 2 SGB X gilt (vgl. BSG, Urteil vom 12. Oktober 2016 - B 4 AS 37/15 R – juris Rdnr 16).

40

Im vorliegenden Fall schließen die Verfallsregelungen eine Nachzahlung nicht nur ausgehend vom Zeitpunkt der ausdrücklichen Stellung des Überprüfungsantrages im Juni 2015, sondern selbst dann aus, wenn zugunsten des Klägers bereits seine im Dezember 2013 beim SG erhobene Untätigkeitsklage zugleich als Antrag nach § 44 SGB X gewertet würde.

41

Ist ein Verwaltungsakt mit Wirkung für die Vergangenheit zurückgenommen worden, werden nach § 44 Abs. 4 Satz 1 SGB X in Verbindung mit § 40 Abs. 1 Satz 2 SGB II Grundsicherungsleistungen längstens für einen Zeitraum bis zu einem Jahr vor der Rücknahme erbracht. Dabei wird der Zeitpunkt der Rücknahme von Beginn des Jahres an gerechnet, in dem der Verwaltungsakt zurückgenommen wird, § 44 Abs. 4 Satz 2 SGB X. Erfolgt die Rücknahme - wie hier - auf Antrag, tritt gemäß Satz 3 bei der Berechnung des Zeitraumes, für den rückwirkend Leistungen zu erbringen sind, anstelle der Rücknahme der Antrag.

42

Ausgehend von dem Zeitpunkt der ausdrücklichen Stellung des Überprüfungsantrages durch den Kläger im Juni 2015 wären Leistungen mithin frühestens ab 1. Januar 2014 nachzuzahlen. Im Ergebnis zutreffend sind der Beklagte und das SG davon ausgegangen, dass der Versagungsbescheid diesen Zeitraum nicht mehr betrifft.

43

Dieses ergibt sich allerdings nicht bereits allein aus dem Erlassdatum des Bescheides im Jahre 2011. Denn Versagungsbescheide sind auch vor dem Hintergrund, dass diese grundsätzlich nur mit einer isolierten Anfechtungsklage anfechtbar sind, bei der es für die Rechtmäßigkeit regelmäßig auf den Zeitpunkt des Erlasses des (Widerspruchs-) Bescheides ankommt, in ihrer Wirkung nicht auf den Zeitpunkt des Erlasses beschränkt. Andererseits reicht die Wirkung des Versagungsbescheides vom 12. Oktober 2011 aber jedenfalls nicht bis in das Jahr 2014, auch wenn der Kläger mit seiner Klage Leistungen bis 31. März 2014 begehrt. Dabei bedarf es keiner Erörterung, ob sich die Wirkung einer Versagung nur maximal auf die Dauer des (Regel-) Bewilligungszeitraumes von zum damaligen Zeitpunkt 6 Monaten (§ 41 Abs. 1 Satz 4 SGB II in der bis 31. Juli 2016 geltenden Fassung) oder – in gleicher Weise wie bei Ablehnungsbescheiden – grundsätzlich auch darüber hinaus erstreckt. Denn vorliegend ist jedenfalls mit der Neuantragstellung im Juni 2012 und dem erneuten Versagungsbescheid des Beklagten vom 8. August 2012 für die Zeit ab 1. Juni 2012 eine Zäsur eingetreten (vgl. auch Thüringer LSG, Beschluss vom 24. Mai 2012 – L 4 AS 243/12 B ER –, juris Rdnr. 10), so dass der mögliche Leistungszeitraum spätestens mit Ablauf des 31. Mai 2012 endete.

44

Dieser Leistungszeitraum wäre aber selbst dann nicht tangiert, wenn zugunsten des Klägers nicht erst die tatsächliche Vorlage des Widerspruchsschreibens im Februar 2015, sondern bereits seine Untätigkeitsklage als Überprüfungsantrag gewertet werden würde. Zwar ist die Untätigkeitsklage noch im Dezember 2013 beim SG erhoben worden, jedoch ist die Klagschrift dem Beklagten erst im Januar 2014 übersandt worden. Für den Zeitpunkt der Antragstellung kommt es jedoch auf den Eingang des Antrages beim Beklagten an, da es an einer Vorschrift, die den Zeitpunkt des Eingangs bei Gericht als maßgeblich bestimmt, fehlt.

45

Nach § 16 Abs. 1 Satz 1 SGB I sind Anträge auf Sozialleistungen beim zuständigen Leistungsträger zu stellen. Sie werden aber auch von allen anderen Leistungsträgern, von allen Gemeinden und bei Personen, die sich im Ausland aufhalten, auch von den amtlichen Vertretungen der Bundesrepublik Deutschland im Ausland entgegengenommen (Satz 2). § 16 Abs. 2 Satz 1 SGB I bestimmt weiter, dass Anträge, die bei einem unzuständigen Leistungsträger, bei einer für die Sozialleistung nicht zuständigen Gemeinde oder bei einer amtlichen Vertretung der Bundesrepublik Deutschland im Ausland gestellt werden, unverzüglich an den zuständigen Leistungsträger weiterzuleiten sind. Ist die Sozialleistung von einem Antrag abhängig, gilt der Antrag nach Satz 2 als zu dem Zeitpunkt gestellt, in dem er bei einer der in Satz 1 genannten Stellen eingegangen ist.

46

Im Umkehrschluss ist daraus zu folgern, dass bei Gericht ein Überprüfungsantrag nicht gestellt werden kann, weil ein Gericht keine Stelle nach § 16 SGB I ist (Bayerisches LSG, Beschluss vom 23. September 2010 – L 7 AS 651/10 B ER –, Rdnr. 19, juris), so dass auch die Regelung des § 16 Abs. 2 Satz 2 SGB I nicht eingreift.

47

Selbst wenn also bereits die Untätigkeitsklage als Überprüfungsantrag gewertet werden könnte, könnten ausgehend von einer Antragstellung im Jahre 2014 Nachzahlungen maximal zurück bis 1. Januar 2013 erbracht werden.

48

Handlungen des Klägers noch vor Erhebung der Untätigkeitsklage, die als Überprüfungsantrag zu deuten sein könnten, sind schließlich nicht ersichtlich.

49

Die Kostenentscheidung folgt aus § 193 SGG.

50

Gründe, die Revision zuzulassen (§ 160 Abs. 2 SGG), sind nicht ersichtlich.

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