Beschluss vom Landessozialgericht NRW - L 7 AS 1368/20 B
Tenor
Auf die Beschwerde des Klägers wird der Beschluss des Sozialgerichts Köln vom 01.09.2020 geändert. Dem Kläger wird für das erstinstanzliche Verfahren Prozesskostenhilfe bewilligt und Rechtsanwalt N, T, beigeordnet.
1
Gründe:
2I.
3Der Kläger wendet sich mit seiner Beschwerde gegen die Ablehnung der Bewilligung von Prozesskostenhilfe für ein gegen einen Versagungsbescheid gerichtetes Klageverfahren.
4Der 2008 geborene Kläger bezieht gemeinsam mit seinen Eltern und zwei Geschwistern beim Beklagten Leistungen. Er besuchte Anfang 2019 die Gemeinschaftsgrundschule X-Schule U. Am 11.03.2019 beantragte die Mutter des Klägers, Frau M C, für den Kläger Leistungen für Bildung und Teilhabe zur Finanzierung einer außerschulischen Lernförderung in den Fächern Deutsch und Mathematik. Die Lernförderung solle von der T1 GmbH in U durchgeführt werden. Er fügte eine Bescheinigung der Schule, wonach er außerschulische Förderung in den genannten Fächern benötige, und einen am 19.02.2019 zwischen seiner Mutter und der T1 GmbH geschlossenen Vertrag bei. Hiernach erbringt die T1 GmbH Nachhilfe in den Fächern Deutsch und Mathematik in Gestalt von zwei wöchentlichen Unterrichtseinheiten von jeweils 90 Minuten. Die Mindestlaufzeit des Vertrages beläuft sich ab dem Vertragsbeginn zum 01.03.2019 auf zwölf Monate, der monatlich zu entrichtende Betrag beträgt 144,90 €. Mit Schreiben vom 19.03.2019 forderte der Beklagte Frau M C als gesetzliche Vertreterin des Klägers auf, bis zum 05.04.2019 die Kostenvoranschläge von drei Nachhilfeinstituten vorzulegen. Nach Eingang der Kostenvoranschläge könne eine Kostenzusage für den günstigsten Anbieter erfolgen. Würden die Kostenvoranschläge nicht eingereicht, könne die Geldleistung bis zur Nachholung der Mitwirkung ganz versagt werden. Am 04.04.2019 reichte der Kläger beim Beklagten eine Rechnung für im März 2019 in Anspruch genommene Nachhilfestunden iHv 144,90 € ein.
5Mit Bescheid vom 11.04.2019, adressiert an Frau M C als gesetzliche Vertreterin des Klägers, versagte der Beklagte die für die Lernförderung beantragten Leistungen ab dem 01.03.2019 ganz. Die Versagung beruhe auf § 66 Abs. 1 SGB I, der Kläger sei seinen Mitwirkungspflichten iSv § 60 Abs. 1 SGB I nicht nachgekommen. Es seien keine Ermessensgesichtspunkte erkennbar, die zugunsten des Klägers zu berücksichtigen seien. Nach Abwägung mit dem gesetzlichen Zweck zur Ausübung des Ermessens und dem öffentlichen Interesse würden die Leistungen versagt. Am 30.04.2019 erhob der Kläger durch seine Mutter Widerspruch gegen den Bescheid vom 11.04.2019, den der Beklagte mit Widerspruchsbescheid vom 21.10.2019 zurückwies. Der Widerspruchsbescheid weist den maschinellen Zusatz „abgesandt am 22.10.2019“ aus, dieser ist aber nicht unterzeichnet.
6Am 28.11.2019 haben zunächst der Kläger und seine Mutter M C gemeinsam Klage gegen den Bescheid vom 11.04.2019 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 21.10.2019 erhoben und beantragt, diesen aufzuheben und den Beklagten zur Zahlung von Leistungen zur Bildung und Teilhabe zu verurteilen. Weiter haben sie die Bewilligung von Prozesskostenhilfe beantragt. Die in Anspruch genommene Nachhilfe sei geeignet, erforderlich und angemessen, um die wesentlichen Lernziele des Klägers zu erreichen. Es ergebe sich aus § 28 Abs. 5 SGB II indes nicht, dass der Beklagte vom Kläger drei Kostenvoranschläge verlangen könne. Der Beklagte hat ausgeführt, Leistungen zur Bildung und Teilhabe seien grundsätzlich vor Inanspruchnahme der jeweiligen Leistungen zu beantragen. Der Vertrag mit der T1 GmbH in U sei aber am 14.02.2019 und damit vor dem Antrag beim Beklagten am 11.03.2019 abgeschlossen worden. Da die Schule die Notwendigkeit der Lernförderung in den Fächern Deutsch und Mathematik nur für jeweils 15 Stunden bescheinigt habe, die nunmehr vorgesehene Nachhilfe aber drei Wochenstunden und eine Mindestlaufzeit von einem Jahr umfasse, sei auch ihre Erforderlichkeit nicht zu bejahen. Da dem Leistungsträger im Rahmen des Begriffs der „Angemessenheit“ ein dem Ermessen vergleichbares Recht auf die Auswahl des konkreten Anbieters zustehe, sei es Aufgabe des Hilfebedürftigen, mehrere Angebote vorzulegen, um diese Auswahl zu ermöglichen. Mit Schriftsatz vom 23.06.2020 hat der Kläger klargestellt, die Klage werde nur für ihn, vertreten durch seine Mutter, geführt. Weiter hat er eine Ablichtung des Widerspruchsbescheides vom 21.10.2019 übersandt, die einen Eingangsstempel seines Bevollmächtigten vom 29.10.2019 ausweist.
7Mit Beschluss vom 01.09.2020 hat das Sozialgericht die Bewilligung von Prozesskostenhilfe abgelehnt. Da es sich bei dem angefochtenen Bescheid um einen Versagungsbescheid handele, sei die Klage nur als Anfechtungsklage und nicht als kombinierte Anfechtungs- und Leistungsklage statthaft. Diesen Versagungsbescheid könne der Beklagte auf § 66 Abs. 1 SGB I stützen, denn der Kläger sei seiner Mitwirkungspflicht iSd § 60 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 SGB I nicht nachgekommen. Im vorliegenden Fall habe eine Mitwirkungspflicht des Klägers bestanden, Kostenvoranschläge von drei verschiedenen Nachhilfeinstituten vorzulegen, denn es sei dem Beklagten nicht möglich gewesen, die Angemessenheit der Lernförderung anderweitig zu beurteilen. Der Beklagte habe den Kläger im Schreiben vom 19.03.2019 zutreffend über seine entsprechende Mitwirkungspflicht belehrt und im Bescheid vom 11.04.2019 hinreichend Ermessen ausgeübt.
8Am 16.09.2020 hat der Kläger Beschwerde gegen den Beschluss des Sozialgerichts vom 04.09.2020 erhoben. Er habe dem Beklagten den unterschriebenen Vertrag mit der T1 GmbH vorgelegt. Zudem gebe es in U keine anderen geeigneten Anbieter. Der Beklagte hat in der Folge mehrere in Betracht kommende Anbieter, so die „Schülerhilfe Nachhilfe U“, das U Lern- u. Bildungsinstitut, die Intensiv Lernhilfe, das B-Nachhilfeinstitut und die W-Nachhilfe benannt. Der Kläger hat hierzu ausgeführt, die W-Nachhilfe habe keinen Standort in U, die B-Nachhilfe sei zu weit entfernt, die Intensiv-Nachhilfe habe es zum streitgegenständlichen Zeitpunkt nicht gegeben und die U1-Nachhilfe habe für ein Beratungsgespräch 100 € verlangt. Der Beklagte hat auf Anfrage des Senats ausgeführt, ein weiterer Nachweis, wann der Widerspruchsbescheid vom 21.10.2019 zur Post gegeben worden sei, könne nicht erbracht werden.
9II.
10Die zulässige Beschwerde ist begründet. Zu Unrecht hat das Sozialgericht die Bewilligung von Prozesskostenhilfe abgelehnt. Der Kläger hat einen Anspruch auf Prozesskostenhilfe und Beiordnung des Bevollmächtigten. Die Rechtsverfolgung bietet hinreichende Aussicht auf Erfolg und ist nicht mutwillig (§§ 73a Abs. 1 Satz 1 SGG, 114 ZPO).
11Ein Rechtsschutzbegehren hat hinreichende Aussicht auf Erfolg, wenn die Entscheidung in der Hauptsache von der Beantwortung einer schwierigen Rechtsfrage abhängt. Die Prüfung der Erfolgsaussichten für die Bewilligung von Prozesskostenhilfe soll nicht dazu dienen, die Rechtsverfolgung oder Rechtsverteidigung selbst in das summarische Verfahren der Prozesskostenhilfe zu verlagern und dieses an die Stelle des Hauptsacheverfahrens treten zu lassen. Schwierige, bislang ungeklärte Rechtsfragen dürfen nicht im Prozesskostenhilfeverfahren entschieden werden, sondern müssen auch von Unbemittelten einer prozessualen Klärung zugeführt werden können. Prozesskostenhilfe ist auch zu bewilligen, wenn in der Hauptsache eine Beweisaufnahme erforderlich ist und keine konkreten und nachvollziehbaren Anhaltspunkte dafür vorliegen, dass diese mit großer Wahrscheinlichkeit zum Nachteil des Antragstellers ausgehen wird (BVerfG Beschlüsse vom 04.05.2015 - 1 BvR 2096/13, vom 09.10.2014 - 1 BvR 83/12 und vom 19.02.2008 - 1 BvR 1807/07; ständige Rechtsprechung des Senats, vergl. nur Beschlüsse vom 16.01.2019 – L 7 AS 1085/18 B, vom 20.04.2016 - L 7 AS 1645/15 B und vom 15.02.2016 - L 7 AS 1681/15 B).
12Die erstinstanzliche Klage ist nicht bereits wegen einer Fristversäumnis unzulässig, vielmehr ist sie innerhalb der Monatsfrist des § 87 Abs. 1 Satz 1, Abs. 2 SGG erhoben worden. Die Fiktion des § 37 Abs. 2 Satz 1 SGB X, wonach ein schriftlicher Verwaltungsakt, der im Inland durch die Post übermittelt wird, am dritten Tag nach der Aufgabe zur Post als bekanntgegeben gilt, greift nicht. Voraussetzung für die Fiktion ist der Beweis des Tages, an dem das Schriftstück zur Post gegeben wurde. Ein Anscheinsbeweis für die Aufgabe eines Schriftstücks zur Post kann durch in den Verwaltungsvorgängen dokumentierten Ab-Vermerk geführt werden, wenn dieser nicht nur die Aufgabe des Schriftstücks in das Postausgangsfach, sondern die Übergabe an das Beförderungsunternehmen dokumentiert (OVG Nordrhein-Westfalen Urteil vom 01.04.2003 – 15 A 2468/01; VG Berlin Urteil vom 18.05.2018 – 19 K 372.15). Im vorliegenden Fall liegt aufgrund des Fehlens einer Unterschrift bzw. eines Namenskürzels neben dem maschinellen Vordruck „abgesandt am 22.10.2019“ aber keine hinreichende Dokumentation einer Übergabe an ein Beförderungsunternehmen an diesem Tag vor. Für die Berechnung der Klagefrist ist damit nicht die Bekanntgabefiktion des § 37 Abs. 2 Satz 1 SGB X maßgeblich (Senatsurteil vom 18.02.2021 – L 7 AS 898/20, LSG Schleswig-Holstein Urteil vom 20.03.1998 – L 3 Ar 44/97), sondern abzustellen ist auf die Angabe des Klägers, wann er den Bescheid erhalten hat (Senatsurteil vom 18.02.2021 – L 7 AS 898/20, VG Göttingen Urteil vom 01.03.2018 – 2 A 165/16). Mit dem Eingangsstempel des Klägerbevollmächtigten ist damit von einem Eingang des Widerspruchsbescheides am 29.10.2019 auszugehen, so dass die Klageerhebung am 28.11.2019 rechtzeitig erfolgt ist.
13Die erstinstanzliche Klage hat auch im Übrigen hinreichende Aussicht auf Erfolg. Zwar hat das Sozialgericht zu Recht ausgeführt, dass die gegen den Versagungsbescheid des Beklagten gerichtete Klage nur als Anfechtungsklage gemäß § 54 Abs. 1 Satz 1 SGG und nicht als weitergehende kombinierte Anfechtungs- und Leistungsklage gemäß § 54 Abs. 4 SGG statthaft ist (vgl. hierzu nur BSG Urteil vom 01.07.2009 – B 4 AS 78/08 R). Die Rechtmäßigkeit des Versagungsbescheides vom 11.04.2019 und damit der Erfolg der Anfechtungsklage hängen indes von einer schwierigen Rechtsfrage ab. Es ist nicht ohne Weiteres zu bejahen, dass die Vorlage von drei Kostenvoranschlägen verschiedener Nachhilfeinstitute eine Mitwirkungslast des Klägers iSd § 60 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 SGG darstellte und dass der Beklagte die vom Kläger beantragten Leistungen für Bildung und Teilhabe auf der Grundlage von § 66 Abs. 1 Satz 1 SGB versagen konnte. Zwar wird für die auf die Übernahme von Umzugskosten gerichtete Ermessensvorschrift des § 22 Abs. 6 Satz 1 SGB II jedenfalls teilweise bejaht, dass ein Leistungsträger die Kostenübernahme von der vorherigen Vorlage von mindestens zwei Kostenvoranschlägen abhängig machen kann (LSG Nordrhein-Westfalen Beschluss vom 11.02.2010 – L 12 B 94/09 AS NZB, Luik in: Eicher/Luik , SGB II, 4. Auflage, § 22 Rn. 225). Auf die gebundene Norm des § 28 Abs. 5 SGB II ist die auf § 22 Abs. 6 Satz 1 SGB II bezogene Rechtsprechung bzw. Literatur jedoch nicht ohne Weiteres übertragbar. Zwar ist bei beantragter Lernförderung gemäß § 28 Abs. 5 SGB II im Rahmen der „Angemessenheit“ zu prüfen, ob sich die vom Hilfebedürftigen begehrte Förderung im Rahmen der örtlichen Angebotsstruktur als kostengünstig erweist (Luik in: Eicher/Luik , SGB II, 4. Auflage, § 28 Rn. 149). Ob dem vom Leistungsträger vorzunehmenden Angebotsvergleich (vgl. auch hierzu Luik in: Eicher/Luik , SGB II, 4. Auflage, § 22 Rn. 225) jedoch eine vorherige Ermittlung potentieller Anbieter durch den Hilfebedürftigen vorauszugehen hat oder ob der Leistungsträger diese Prüfung selbst vorzunehmen hat, ist § 28 Abs. 5 SGB II nicht zu entnehmen.
14Sofern man die Verpflichtung des Hilfebedürftigen zur Vorlage von Kostenvoranschlägen dem Grunde nach bejaht, wäre im vorliegenden Fall in rechtlicher Hinsicht weiter zu prüfen, ob aufgrund der Schaffung vollendeter Tatsachen durch den Vertragsabschluss bei der T1 GmbH in U überhaupt noch Raum für die angeforderte Mitwirkung bestand oder ob der Beklagte vielmehr gehalten gewesen wäre, den Anspruch des Klägers in der Sache zu prüfen und bei fehlender Angemessenheit der Lernförderung abzulehnen. Weiter wäre in tatsächlicher Hinsicht zu prüfen, ob in U überhaupt Alternativangebote zu der in Anspruch genommenen Förderung bestanden, was vom Kläger bestritten wird.
15Die wirtschaftlichen Voraussetzungen für die Bewilligung der Prozesskostenhilfe liegen vor.
16Kosten im Beschwerdeverfahren gegen die Ablehnung von Prozesskostenhilfe sind nicht erstattungsfähig (§§ 73a Abs. 1 Satz 1 SGG, 127 Abs. 4 ZPO).
17Dieser Beschluss ist nicht mit der Beschwerde anfechtbar (§ 177 SGG).
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