Beschluss vom Landessozialgericht NRW - L 7 AS 1492/20 B
Tenor
Auf die Beschwerde der Kläger wird der Beschluss des Sozialgerichts Aachen vom 04.09.2020 geändert. Den Klägern wird für das erstinstanzliche Verfahren Prozesskostenhilfe bewilligt und Rechtsanwältin A, X, beigeordnet.
1
Gründe:
2I.
3Die 1980 geborene Klägerin zu 1) und ihre Kinder, die 2002 geborene Klägerin zu 2) und der 2013 geborene Klägerin zu 3), wenden sich mit ihrer Beschwerde gegen die Ablehnung der Bewilligung von Prozesskostenhilfe für ein Klageverfahren, das gegen die endgültige Ablehnung von zuvor bewilligten Leistungen und eine hierauf beruhende Erstattungsforderung des Beklagten gerichtet ist.
4Der Beklagte bewilligte den Klägern und dem Ehemann der Klägerin zu 1), Herrn G C, sowie dem 2000 geborenen Sohn T C mit Bescheid vom 19.10.2017 und Änderungsbescheid vom 25.11.2017 vorläufig Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts vom 01.11.2017 bis zum 30.04.2018. Herr G C übte zu diesem Zeitpunkt eine selbständige Tätigkeit aus, die er zum 31.03.2018 beendete. Der Beklagte forderte Herrn G C mit Schreiben vom 02.08.2018 auf, bis zum 22.10.2018 Unterlagen über seine selbständige Tätigkeit im Zeitraum vom 01.11.2017 bis zum 30.04.2018, insbesondere eine vollständig ausgefüllte „Anlage EKS“, eine betriebswirtschaftliche Auswertung und lückenlose Kontoauszüge zu übersenden. Sofern er oder die mit ihm in Bedarfsgemeinschaft lebenden Personen die Unterlagen bis zum 22.10.2018 nicht vollständig einreichten, sei festzustellen, dass in diesem Zeitraum kein Leistungsanspruch bestanden habe und die Leistungen vollständig zu erstatten seien.
5Am 10.09.2018 kam es in der Wohnung der Klägerinnen zu einem Polizeieinsatz wegen häuslicher Gewalt von Herrn G C gegenüber der Klägerin zu 1), in dessen Folge ein Rückkehrverbot bis zum 21.09.2018 ausgesprochen wurde. Die Klägerin zu 1) teilte dem Beklagten am 14.09.2018 mit, ihr Ehemann sei verzogen. Sie beantragte nunmehr nur noch für sich und die weiteren Klägerinnen Leistungen. Der Beklagte berücksichtigte Herrn G C nicht mehr als Mitglied der Bedarfsgemeinschaft. Die Klägerin zu 1) führte in der Folge beim Amtsgericht B ein einstweiliges Anordnungsverfahren gegen ihren Ehemann nach §§ 1 und 2 Gewaltschutzgesetz wegen Gewaltschutz und Wohnungszuweisung (00 F 00/18). Herr G C kehrte erst vom 12.03.2019 bis zum 03.06.2019 vorübergehend in die Wohnung zurück.
6Mit an die Klägerin zu 1) gerichtetem Bescheid vom 18.03.2019 lehnte der Beklagte den Leistungsantrag für die Zeit vom 01.11.2017 bis zum 30.04.2018 endgültig ab. Die Klägerin habe die mit Schreiben vom 02.08.2018 angeforderten Unterlagen nicht eingereicht. Mit weiterem Bescheid vom 18.03.2019 forderte der Beklagte von der Klägerin zu 1) 2849,54 €, von der Klägerin zu 2) 1485,74 € und vom Kläger zu 3) 1043,84 € zurück. Dieser Bescheid richtete sich ausdrücklich an die Klägerin zu 1) als gesetzliche Vertreterin der Klägerinnen zu 2) und 3). Entsprechende endgültige Festsetzungs- und Erstattungsbescheide ergingen separat auch an Herrn G C und an Herrn T C. Am 22.03.2019 erhoben die Klägerinnen gemeinsam Widerspruch gegen den endgültigen Festsetzungsbescheid und gegen den Erstattungsbescheid. Der Widerspruch bezeichnete die Namen aller Klägerinnen und die jeweiligen Erstattungsbeträge. Mit an die Klägerin zu 1) gerichtetem Widerspruchsbescheid vom 28.11.2019 wies der Beklagte den Widerspruch zurück. Der Beklagte benannte in seiner Begründung die gegen die jeweiligen Klägerinnen festgesetzten Erstattungssummen.
7Am 17.12.2019 haben die Klägerinnen beim Sozialgericht Aachen Klage gegen die Bescheide vom 18.03.2019 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 28.11.2019 erhoben und die Aufhebung dieser Bescheide sowie die Verurteilung des Beklagten zur Bewilligung von Leistungen vom 01.11.2017 bis zum 30.04.2018 beantragt. Weiter haben sie die Bewilligung von Prozesskostenhilfe beantragt. In der Klageschrift ist ausdrücklich nur die Klägerin zu 1) aufgeführt. Die Klägerinnen tragen vor, Herr G C habe im Widerspruchsverfahren Unterlagen über seine selbständige Tätigkeit nachgereicht, und übersenden zum Nachweis diverse Quittungen. Diese seien nachträglich zu berücksichtigen. Zudem sei ihnen die vorherige Beibringung von Unterlagen gar nicht möglich gewesen. Das Geschäft sei nur von Herrn G C betrieben worden und aufgrund seiner wiederholten Gewalttätigkeiten und der Zerrüttung des Verhältnisses habe bereits im August 2018 keine eheliche Gemeinschaft mehr zwischen ihm und der Klägerin zu 1) bestanden.
8Der Beklagte trägt vor, die von Herrn G C übersandten Unterlagen genügten nicht den Anforderungen des Schreibens vom 02.08.2018, insbesondere seien weder eine „Anlage EKS“ noch die angeforderten betriebswirtschaftlichen Auswertungen übersandt worden.
9Mit Beschluss vom 04.09.2020 hat das Sozialgericht die Bewilligung von Prozesskostenhilfe abgelehnt. Im Rubrum des Beschlusses ist nur die Klägerin zu 1) aufgeführt. Die Klage habe keine hinreichende Erfolgsaussicht. Die Ablehnung der Leistungen beruhe auf § 41a Abs. 3 Satz 4 SGB II, wonach bei einer endgültigen Festsetzung festzustellen sei, dass der Leistungsanspruch nicht bestand, wenn der Leistungsberechtigte seiner Verpflichtung zum Nachweis der für die abschließende Entscheidung geforderten leistungserheblichen Tatsachen nicht nachkomme. Dies sei hier der Fall. Die Verpflichtung zur Erstattung der aufgrund der vorläufigen Entscheidung erbrachten Tatsachen könne auf § 41a Abs. 6 Satz 1 SGB II gestützt werden.
10Am 07.10.2020 haben die Klägerinnen Beschwerde gegen den ihnen am 07.09.2020 zugestellten Beschluss des Sozialgerichts erhoben. Auch die Beschwerdeschrift bezeichnet ausdrücklich nur die Klägerin zu 1). Aufgrund der familiären Verhältnisse sei es nicht möglich gewesen, Auskünfte über das Einkommen von Herrn G C zu erhalten oder an den Beklagten weiterzuleiten. Auf Hinweis des Senats haben die Klägerinnen mit Schriftsatz vom 08.03.2021 klargestellt, dass das Verfahren auch für die Klägerinnen zu 2) und 3) geführt wird. In der Sache werde lediglich die Aufhebung der Bescheide vom 18.03.2019 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 28.11.2019 beantragt.
11II.
12Die zulässige Beschwerde ist begründet. Zu Unrecht hat das Sozialgericht die Bewilligung von Prozesskostenhilfe abgelehnt. Die Klägerinnen haben einen Anspruch auf Prozesskostenhilfe und Beiordnung ihrer Bevollmächtigten. Die Rechtsverfolgung bietet hinreichende Aussicht auf Erfolg und ist nicht mutwillig (§§ 73a Abs. 1 Satz 1 SGG, 114 ZPO).
13Ein Rechtsschutzbegehren hat hinreichende Aussicht auf Erfolg, wenn die Entscheidung in der Hauptsache von der Beantwortung einer schwierigen Rechtsfrage abhängt. Die Prüfung der Erfolgsaussichten für die Bewilligung von Prozesskostenhilfe soll nicht dazu dienen, die Rechtsverfolgung oder Rechtsverteidigung selbst in das summarische Verfahren der Prozesskostenhilfe zu verlagern und dieses an die Stelle des Hauptsacheverfahrens treten zu lassen. Schwierige, bislang ungeklärte Rechtsfragen dürfen nicht im Prozesskostenhilfeverfahren entschieden werden, sondern müssen auch von Unbemittelten einer prozessualen Klärung zugeführt werden können. Prozesskostenhilfe ist auch zu bewilligen, wenn in der Hauptsache eine Beweisaufnahme erforderlich ist und keine konkreten und nachvollziehbaren Anhaltspunkte dafür vorliegen, dass diese mit großer Wahrscheinlichkeit zum Nachteil des Antragstellers ausgehen wird (BVerfG Beschlüsse vom 04.05.2015 - 1 BvR 2096/13, vom 09.10.2014 - 1 BvR 83/12 und vom 19.02.2008 - 1 BvR 1807/07; ständige Rechtsprechung des Senats, vergl. nur Beschlüsse vom 05.11.2020 – L 7 AS 743/20 B, vom 20.04.2016 - L 7 AS 1645/15 B und vom 15.02.2016 - L 7 AS 1681/15 B).
14Beteiligte des erstinstanzlichen Klage- und Prozesskostenhilfeverfahrens sowie des Beschwerdeverfahrens vor dem Senat sind neben der Klägerin zu 1) auch die Klägerinnen zu 2) und 3), denn im Zweifel ist davon auszugehen, dass mit einer Klage begehrt wird, was von dem Beklagten im Verwaltungs- und Widerspruchsverfahren verweigert wurde – hier eindeutig der Anspruch aller im Widerspruch vom 22.03.2019 bezeichneter Klägerinnen auf Aufhebung der von ihnen angegriffenen Bescheide – und dass die Klage denselben Gegenstand hat wie zuvor der Widerspruchsbescheid. Hiervon ist nur abzuweichen, wenn Anhaltspunkte dafür vorliegen, dass ein Kläger einen Teil des zunächst geltend gemachten Anspruchs im Klageverfahren nicht weiter verfolgen will oder Beteiligte des Verwaltungs- und Widerspruchsverfahrens sich am gerichtlichen Verfahren nicht beteiligen wollen. Liegen hingegen – wie hier - keine nachvollziehbaren Gesichtspunkte für eine entsprechende Beschränkung des Klagebegehrens vor, ist grundsätzlich – auch bei einem unzureichenden Wortlaut der Klageschrift, der dann als unbeachtliche Falschbezeichnung anzusehen ist, – von einer Identität von Widerspruchs- und Klagebegehren in sachlicher und personeller Hinsicht auszugehen (vgl. hierzu ausführlich Senatsurteile vom 09.10.2019 - L 7 AS 642/18 und vom 21.06.2018 – L 7 AS 834/16; Senatsbeschluss vom 16.03.2020 – L 7 AS 37/20 B ER). Diese Betrachtung hat hier zur Folge, dass auch der Antrag auf Bewilligung von Prozesskostenhilfe und die Beschwerde gegen deren Ablehnung allen Klägerinnen zuzurechnen sind. Der Umstand, dass das Sozialgericht in seinem Beschluss nur von einer Beteiligteneigenschaft der Klägerin zu 1) ausgegangen ist, ist unschädlich, denn der Gedanke, dass alle Beteiligten ihr Begehren im Beschwerdeverfahren weiterverfolgen können, wenn das Sozialgericht bewusst, aber unzutreffend nur über den Anspruch eines Teils einer Mehrheit von Beteiligten entschieden hat (dazu Keller: in Meyer-Ladewig, SGG, 13. Auflage, § 140 Rn. 2c mwN), gilt auch im Beschwerdeverfahren gegen die Ablehnung von Prozesskostenhilfe.
15Streitgegenstand des Verfahrens sind sowohl der endgültige Ablehnungsbescheid vom 18.03.2019 als auch der Erstattungsbescheid vom selben Tag, jeweils in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 28.11.2019. Die Klägerinnen haben ihren Antrag richtigerweise insgesamt auf die Aufhebung der angefochtenen Bescheide beschränkt, denn zutreffende Klageart ist nicht nur bei einer Klage gegen einen Erstattungsbescheid, sondern auch bei einer Klage gegen eine auf § 41a Abs. 3 Satz 4 SGB II gestützte „Nullfestsetzung“ die Anfechtungsklage. Bei einer solchen „Nullfestsetzung“ handelt es sich nicht um eine Entscheidung über den Leistungsanspruch selbst, sondern - ähnlich wie beim Versagungsbescheid gem. § 66 SGB I – lediglich um eine das Verwaltungsverfahren abschließende Entscheidung ohne materiell-rechtlichen Gehalt. Nach einer Aufhebung des angefochtenen Bescheides wäre der Beklagte zur Neubescheidung der bisher nur vorläufig festgesetzten Leistungen verpflichtet, so dass das Rechtsschutzziel der Klägerinnen auch mit einer isolierten Anfechtungsklage erreicht wird. Die Regelung des § 41a Abs. 5 Satz 1 SGB II („Ergeht innerhalb eines Jahres nach Ablauf des Bewilligungszeitraums keine abschließende Entscheidung nach Absatz 3, gelten die vorläufig bewilligten Leistungen als abschließend festgesetzt“) steht einem Neubescheidungsanspruch nach Aufhebung der Nullfestsetzung nicht entgegen. Denn diese Fiktionswirkung tritt nur ein, wenn der Grundsicherungsträger bis zu dem jeweils maßgebenden Zeitpunkt einen abschließenden Leistungsbescheid tatsächlich nicht erlassen, also jede Regelung zur endgültigen Leistungsbestimmung unterlassen hat (vgl. zu der Problematik ausführlich Senatsurteil vom 18.02.2021 – L 7 AS 1525/19).
16Die so verstandene Klage hat hinreichende Aussicht auf Erfolg. Es ist zumindest zweifelhaft und vom Sozialgericht durch weitere Sachverhaltsermittlungen aufzuklären, ob der Beklagte die auf die fehlende Beibringung von Unterlagen über die selbständige Tätigkeit des Herrn G C gestützte „Nullfestsetzung“ der Leistungen gegenüber den Klägern auf § 41a Abs. 3 Satz 4 SGB II stützen kann. Zwar kann eine „Nullfestsetzung“ gegenüber einem Leistungsberechtigten in Ansehung des Wortlauts des § 41a Abs. 3 Satz 3 SGB II nicht nur auf eine Verletzung der Nachweis- oder Auskunftspflicht durch den Leistungsberechtigten selbst, sondern auch durch die mit ihm in Bedarfsgemeinschaft lebenden Personen gestützt werden. Im vorliegenden Fall ist es aber jedenfalls offen, ob die Kläger und Herr G C im Zeitraum zwischen dem Zugang des Mitwirkungsschreibens vom 02.08.2018 und dem Fristablauf vom 22.10.2018 noch eine Bedarfsgemeinschaft iSd § 7 Abs. 3 SGB II darstellten. Unter Berücksichtigung des nicht fernliegenden klägerischen Vortrags, aufgrund der wiederholten Gewalttätigkeiten und der Zerrüttung des Verhältnisses zwischen dem Ehemann und der Klägerin zu 1) habe bereits im August 2018 keine eheliche Gemeinschaft zwischen diesem und der Klägerin zu 1) mehr bestanden, scheint es möglich, dass die vormals bestehende Bedarfsgemeinschaft bereits am 02.08.2018 aufgelöst war (vgl. zur Möglichkeit der Auflösung einer ehelichen Gemeinschaft trotz Zusammenlebens Becker in: Eicher/Luik, SGB II, 4. Aufl, § 7 Rn. 104). Eine Auflösung der Bedarfsgemeinschaft liegt aber jedenfalls für den Zeitraum ab dem 10.09.2018 – dem Auszug des Herrn G C aus der ehelichen Wohnung, in die er jedenfalls in den Folgemonaten nicht zurückgekehrt ist – nahe, so dass dessen Verhalten den Klägerinnen jedenfalls nicht für den Gesamtzeitraum der vom Beklagten eingeräumten Frist, die grundsätzlich voll ausgeschöpft werden darf (vgl. hierzu BSG Urteil vom 10.05.2000 – B 6 KA 20/99 R zugerechnet werden kann. Es spricht überdies nichts dafür, dass es den Klägerinnen möglich war, die zum Erlass einer abschließenden Entscheidung geforderten Tatsachen selbständig nachzuweisen. Es erscheint bereits zweifelhaft, ob die Kläger das allein an Herrn G C gerichtete Mitwirkungsschreiben des Beklagten vom 02.08.2018 zur Kenntnis nehmen konnten. Weiter ist zu berücksichtigen, dass die selbständige Tätigkeit allein von Herrn G C ausgeübt wurde und eine Möglichkeit der Kläger, auf dessen Geschäftsunterlagen Zugriff zu nehmen und dem Beklagten zur Verfügung zu stellen, bei Würdigung der aktenkundigen Gesamtumstände nicht naheliegend erscheint.
17Sollte sich der Bescheid über die „Nullfestsetzung“ als rechtswidrig erweisen, fehlt es auch an einer Grundlage für die geltend gemachte Erstattung. Ob für die Klägerin zu 2), die am 00.10.2020 ihr 18. Lebensjahr vollendet hat, auch eine Aufhebung der Erstattungsentscheidung analog § 1629a BGB geboten ist (vgl. hierzu BSG Urteil vom 18.04.2018 – B 14 AS 34/17 R), muss der Senat nicht entscheiden.
18Die wirtschaftlichen Voraussetzungen für die Bewilligung der Prozesskostenhilfe liegen vor.
19Kosten im Beschwerdeverfahren gegen die Ablehnung von Prozesskostenhilfe sind nicht erstattungsfähig (§§ 73a Abs. 1 Satz 1 SGG, 127 Abs. 4 ZPO).
20Dieser Beschluss ist nicht mit der Beschwerde anfechtbar (§ 177 SGG).
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