Urteil vom Schleswig-Holsteinisches Landessozialgericht (1. Senat) - L 1 U 52/05
Tenor
Die Berufung der Beklagten gegen das Urteil des Sozialgerichts Itzehoe vom 9. Mai 2005 wird zurückgewiesen.
Die Beklagte trägt auch die notwendigen außergerichtlichen Kosten des Klägers im Berufungsverfahren.
Die Revision wird nicht zugelassen.
Tatbestand
- 1
Die Beteiligten streiten über das Vorliegen eines Arbeitsunfalls (Wegeunfall) im Sinne der gesetzlichen Unfallversicherung.
- 2
Der 1968 geborene Kläger war am Unfalltag, dem 5. Dezember 2003, bei der Firma BC G., R., beschäftigt und als Reiniger auf der K. Werft in S. eingesetzt. Eigenen Angaben zufolge befand er sich seit 5.30 Uhr auf dem Weg zur Arbeit, als er gegen 5.45 Uhr mit seinem Pkw auf die Gegenfahrbahn geriet und mit dem entgegenkommenden Pkw kollidierte. Hierbei zog er sich eine Unterschenkel-, Fußwurzel- und Mittelfußfraktur links sowie Schürfwunden am linken Ellenbogen und eine Schädelprellung zu.
- 3
Die Unfallursache ist zwischen den Beteiligten streitig. Der von der Polizeistation T. vernommene Zeuge K. K. hat am 25. Januar 2004 erklärt: Er habe sich etwa 30 Min. bis zum Eintreffen der Rettungskräfte um den Kläger gekümmert und mit ihm gesprochen, um ihn abzulenken. Der Kläger habe sich offenbar nur schwach daran erinnern können, dass er mit einem anderen Pkw kollidiert sei. Er habe sich nach dem Befinden des anderen Fahrers erkundigt. Auf die Frage nach der Unfallursache habe er geantwortet: "Vielleicht habe ich die Augen kurz zugemacht - ich bin vielleicht kurz eingenickt". Nach einer gewissen Zeit des Überlegens habe er hinzugefügt: "Ich habe auch irgendwie das Steuer verrissen". Nach seiner Einschätzung habe der Kläger unter Schock gestanden und Schmerzen im Bein gehabt.
- 4
Der an den Unfallort gerufene Polizeiobermeister (POM) B. hat den Sachverhalt wie folgt geschildert: Der Kläger habe sich eingeklemmt im verunfallten Pkw befunden. Er sei ansprechbar gewesen. Auf die Frage, ob er sich an den Vorfall erinnern könne, habe er geantwortet, dass er eingenickt und in den Gegenverkehr geraten sei. Weitere Fragen seien nicht gestellt worden, da der Kläger offensichtlich starke Schmerzen gehabt habe. Auch im Notarzteinsatzprotokoll und im Bericht des Durchgangsarztes, bei dem der Kläger um 7.10 Uhr eingetroffen ist, ist die Angabe des Klägers wiedergegeben, er sei auf dem Weg zur Arbeit kurz eingenickt.
- 5
Mit Schriftsatz seines Prozessbevollmächtigten vom 11. Februar 2004 hat der Kläger hingegen gegenüber der Staatsanwaltschaft bei dem Landgericht Kiel vortragen lassen: Er habe ab dem Unfallgeschehen bis zum Samstagmorgen keinerlei Erinnerung mehr. Er wisse nicht, wie es zu dem Unfall gekommen sei, dass er sich noch am Unfallort unterhalten habe und dass er im Westküstenklinikum in H. Angaben gemacht habe. Er sei wie jeden Morgen um 4.45 Uhr aufgestanden und um 5.30 Uhr von seinem Haus in W. aus zur Arbeit aufgebrochen. Zuvor habe er eine völlig normale Nacht verbracht. Er sei das frühe Aufstehen gewohnt und ausgeruht gewesen. Er sei weder erkrankt gewesen, noch habe er sich in einer emotionalen Ausnahmesituation befunden. Warum er von der Fahrbahn abgekommen sei, entziehe sich seiner Kenntnis. Falsch sei jedoch, dass er übermüdet gewesen sei. Er habe zuvor annähernd acht Stunden fest geschlafen. Das Ermittlungsverfahren wegen vorsätzlicher Gefährdung des Straßenverkehrs (§ 315c Strafgesetzbuch) ist mangels hinreichenden Tatverdachts (§ 170 Abs. 2 Strafprozessordnung) eingestellt worden.
- 6
Gegenüber der Beklagten hat der Kläger am 26. Januar 2004 erklärt: Er habe keinerlei aktuelle Erinnerung an den Unfallhergang an sich. Er sei morgens normal aufgestanden, habe sich fit gefühlt, sei wach gewesen und habe keinerlei Alkohol genossen. Er schließe aus, dass er unmittelbar vor dem Unfall eingeschlafen sein könne. Im Wegeunfallfragebogen der Beklagten hat der Kläger am 3. Februar 2004 erklärt, er habe keine Erinnerung an den Unfallhergang an sich und an zwei Tage danach.
- 7
Mit Bescheid vom 4. März 2004 lehnte die Beklagte die Gewährung einer Entschädigung aus Anlass des Ereignisses vom 5. Dezember 2003 ab. Zur Begründung führte sie aus: Ein Wegeunfall liege nicht vor. Der Kläger sei zunächst auf die Bankette zwischen der Fahrbahn und dem Rad- und Gehweg, dann zurück auf die Fahrbahn, anschließend wieder auf die Bankette und schließlich auf die Gegenfahrbahn geraten. Noch am Unfallort habe er gegenüber dem Polizeibeamten angegeben, dass er eingenickt sei. Gegenüber dem Zeugen K. habe er sich ebenfalls so geäußert. Bei einer auf unternehmensfremde Umstände zurückzuführenden Übermüdung und dem damit verbundenen Einschlafen liege eine Lösung von der versicherten Tätigkeit vor. Der Kläger stehe daher nicht unter dem Schutz der gesetzlichen Unfallversicherung. Das Einschlafen sei auch nicht auf betriebliche Tätigkeit zurückzuführen. Eine unternehmensbezogene Übermüdung könne nicht nachgewiesen werden. Die Behauptung, zum Unfallzeitpunkt ausgeruht gewesen zu sein, sei unbewiesen. Im Übrigen seien Erstangaben eines Versicherten nach dem Unfall in der Regel unbefangener und glaubhafter. Andere Unfallursachen als Übermüdung seien nach den polizeilichen Feststellungen auch nicht ersichtlich.
- 8
Auf den Widerspruch des Klägers holte die Beklagte eine Erklärung des Durchgangsarztes vom 8. April 2004 ein. Darin wird mitgeteilt, dass der Kläger die Formulierung, er sei kurz eingenickt, in der Notfallambulanz zur Beschreibung der Unfallursache benutzt habe. Die gleiche Angabe sei auch im Notarztprotokoll festgehalten. Mit Widerspruchsbescheid vom 20. April 2004 wies die Beklagte den Widerspruch zurück. Zur Begründung wiederholte sie im Wesentlichen die Ausführungen aus dem angefochtenen Bescheid. Ergänzend führte sie aus: Der Kläger widerspreche sich, wenn er einerseits behaupte, nicht zu wissen, wie es zu dem Unfall gekommen sei, andererseits aber ein Einnicken ausschließe.
- 9
Mit seiner deswegen am 28. April 2004 bei dem Sozialgericht Itzehoe erhobenen Klage hat der Kläger sein Begehren weiterverfolgt. Zur Begründung hat er sein Vorbringen aus dem Verwaltungsverfahren wiederholt. Ergänzend hat er vorgetragen: Er bestreite entschieden, Dritten gegenüber erklärt zu haben, er sei vor der Unfallentstehung kurz eingenickt. Auf Grund der erlittenen Verletzungen sei ausgeschlossen, dass er wissentlich und willentlich entsprechende Erklärungen abgegeben habe. Ggf. seien der Unfallhelfer K. und der POM B. als Zeugen zu hören und ein medizinisches Sachverständigengutachten einzuholen.
- 10
Der Kläger hat beantragt,
- 11
1. den Bescheid der Beklagten vom 4. März 2004 in der Fassung des Widerspruchsbescheides vom 20. April 2004 aufzuheben, 2. festzustellen, dass der am 5. Dezember 2003 erlittene Verkehrsunfall als Wegeunfall im Sinne der gesetzlichen Unfallversicherung anzuerkennen ist.
- 12
Die Beklagte hat beantragt,
- 13
die Klage abzuweisen.
- 14
Sie hat sich im Wesentlichen auf die angefochtenen Bescheide bezogen.
- 15
Mit Urteil vom 9. Mai 2005 hat das Sozialgericht unter Aufhebung der angefochtenen Bescheide festgestellt, dass der am 5. Dezember 2003 erlittene Verkehrsunfall des Klägers als Wegeunfall im Sinne der gesetzlichen Unfallversicherung anzuerkennen sei. In den Entscheidungsgründen hat es im Wesentlichen ausgeführt: Eine den Schutz der gesetzlichen Unfallversicherung ausschließende Übermüdung und Fahruntüchtigkeit des Klägers lasse sich nicht feststellen. Zwar spreche aufgrund der schriftlichen Zeugenaussagen in der Ermittlungsakte der Staatsanwaltschaft und aufgrund der Angaben im Notarzteinsatzprotokoll und im Durchgangsarztbericht viel dafür, dass der Kläger vor dem Unfall tatsächlich kurz eingenickt sei. Jedoch werde hierdurch der Versicherungsschutz nicht aufgehoben. Es stehe nicht fest, dass eine auf unternehmensfremde Umstände zurückzuführende Übermüdung vorgelegen habe. Anhaltspunkte dafür, dass der Kläger in der Nacht vor dem Unfallereignis nicht für ausreichend Schlaf gesorgt habe und bei Antritt der Fahrt aus diesem Grunde übernächtigt gewesen oder dass er durch ungesunde Lebensführung übermüdet gewesen sei, seien nicht ersichtlich. Vielmehr könne das kurze Einnicken durchaus auch auf eine unverschuldete geschwächte körperliche Verfassung in Zusammenwirken mit der Eintönigkeit des Fahrens zu früher Morgenstunde und bei Dunkelheit verursacht worden sein. Die Auffassung der Beklagten, ein Einschlafen auf dem Weg zur Arbeit könne grundsätzlich nicht auf betriebliche Tätigkeit zurückgeführt werden, sei nicht zu teilen. Es gebe keinen allgemeinen Erfahrungssatz dafür, dass es bei ausreichend Schlaf und gesunder Lebensführung nicht zu Müdigkeitserscheinungen komme. Da selbst Unaufmerksamkeit, Leichtsinn und ähnliches den Versicherungsschutz nicht aufhebe, bestehe keine Veranlassung, ihn dem Kläger zu versagen. Die von der Beklagten zitierte höchstrichterliche Rechtsprechung (BSG vom 28. Februar 1961 - 2 RU 97/599) betreffe einen Fall, welcher mit dem vorliegenden nicht vergleichbar sei. In jenem Rechtsstreit sei bewiesen gewesen, dass der Kläger in der Nacht vor dem Unfallereignis an einem Fest teilgenommen habe und nach dessen Beendigung die Fahrt zu seiner Firma angetreten habe.
- 16
Gegen dieses am 30. Mai 2005 zugestellte Urteil wendet sich die Beklagte mit ihrer Berufung, welche am 9. Juni 2005 bei dem Schleswig-Holsteinischen Landessozialgericht eingegangen ist. Zur Begründung wiederholt sie ihr bisheriges Vorbringen. Ergänzend trägt sie vor: Die Angaben des Klägers unmittelbar nach dem Unfall dürften nicht ignoriert werden. Diesen komme nach den Erfahrungen des täglichen Lebens ein wesentlich größeres Gewicht zu als später gemachte Angaben. Ihnen sei im Sinne des Anscheinsbeweises zu folgen. Alle weiteren Möglichkeiten seien rein spekulativ. Seien keine betrieblichen Gründe für eine
- 17
Übermüdung oder ein kurzzeitiges Einnicken verantwortlich zu machen und habe keine besondere Gefahr des Weges den Unfall verursacht, so stehe dieser nicht unter dem Schutz der gesetzlichen Unfallversicherung. Wenn der Kläger darauf hinweise, dass es sich um einen nicht mehr aufklärbaren Unfallhergang handele, dann sei insbesondere den bewiesenen Fakten ein erhöhter Beweiswert beizumessen. Bewiesen sei aber ausschließlich, dass keine betriebsbedingten Gründe vorgelegen hätten und sonstige Wegegefahren (außergewöhnliche Straßenführung, gefährlicher Straßenabschnitt) ausgeschlossen werden könnten.
- 18
Die Beklagte beantragt,
- 19
das Urteil des Sozialgerichts Itzehoe vom 9. Mai 2005 aufzuheben und die Klage abzuweisen.
- 20
Der Kläger beantragt,
- 21
die Berufung zurückzuweisen.
- 22
Er verteidigt das angefochtene Urteil. Ergänzend trägt er vor: Er habe weder am Abend von Donnerstag auf Freitag noch an den Tagen zuvor gefeiert oder besonders intensiv gelebt. Er habe vielmehr jeweils die erforderliche Nachtruhe eingehalten. Deshalb sei er am Morgen des 5. Dezember 2003 ausgeschlafen und vollständig fit gewesen. Das könne seine frühere Lebensgefährtin bestätigen. Er bestreite weiter, unmittelbar nach dem Unfall geäußert zu haben, er sei in einen sogenannten Sekundenschlaf verfallen. Möglicherweise habe er eine endogene Schwäche erlitten. Insoweit möge die Eintönigkeit des Fahrens der jeweils gleichen Fahrtstrecke zur Arbeit bei Dunkelheit zu früher Morgenstunde mitunfallursächlich geworden sein. Selbst wenn er aber eingenickt oder jedenfalls unaufmerksam gewesen sei, so werde dadurch der Versicherungsschutz nicht aufgehoben.
- 23
Die Ermittlungsakte der Staatsanwaltschaft Kiel, die Verwaltungsakte der Beklagten und die Gerichtsakte haben dem Senat vorgelegen und sind Gegenstand der mündlichen Verhandlung und Beratung gewesen. Auf ihren Inhalt wird wegen weiterer Einzelheiten verwiesen.
Entscheidungsgründe
- 24
I. Die Berufung ist zulässig. Sie ist statthaft (vgl. § 143 Sozialgerichtsgesetz - SGG) und bedarf keiner Zulassung (vgl. § 144 Abs. 1 SGG). Frist und Form (vgl. § 151 Abs. 1 und 3 SGG) sind gewahrt.
- 25
II. Die Berufung ist aber nicht begründet. Das angefochtene Urteil hält einer Überprüfung stand. Zu Recht und mit zutreffender Begründung hat das Sozialgericht den Bescheid der Beklagten vom 4. März 2004 in der Fassung des Widerspruchsbescheides vom 20. April 2004 aufgehoben und festgestellt, dass der am 5. Dezember 2003 erlittene Verkehrsunfall des Klägers als Arbeitsunfall (Wegeunfall) im Sinne der gesetzlichen Unfallversicherung anzuerkennen ist.
- 26
1. Gegenstand des Rechtsstreits ist allein die Frage, ob der Verkehrsunfall des Klägers die Voraussetzungen eines Arbeitsunfalls erfüllt. Die auf Feststellung dieses Anspruchselements gerichtete Klage war nach § 55 Abs. 1 Nr. 1 SGG zulässig. Dies ist zwar - soweit ersichtlich – höchstrichterlich noch nicht ausdrücklich bestätigt worden (zur Berufskrankheit ausdrücklich jedoch BSG SozR 2200 § 551 Nr. 35). Jedoch ist in einer Vielzahl von Revisionsverfahren kein Anstoß daran genommen worden, dass die Tatsacheninstanzen im Tenor einen Arbeitsunfall festgestellt haben (so zutreffend Sächsisches LSG vom 15. November 2001 - L 2 U 188/99; nachgehend wiederum BSG SozR 3-2200 § 550 Nr. 22).
- 27
2. Das geltend gemachte Begehren ist nach den Vorschriften des Siebten Buches des Sozialgesetzbuches (SGB VII) zu beurteilen, weil sich der geltend gemachte Unfall nach dessen In-Kraft-Treten am 1. Januar 1997 ereignet hat (vgl. Art. 36 des Unfallversicherungs-Einordnungsgesetzes; § 212 SGB VII).
- 28
Gemäß § 8 Abs. 1 Satz 1 SGB VII sind Arbeitsunfälle Unfälle von Versicherten infolge einer den Versicherungsschutz nach den §§ 2, 3 oder 6 SGB VII begründenden Tätigkeit (versicherte Tätigkeit). Eine versicherte Tätigkeit ist gem. § 8 Abs. 2 Nr. 1 SGB VII auch das Zurücklegen des mit der versicherten Tätigkeit zusammenhängenden unmittelbaren Weges nach dem Ort der Tätigkeit. Da diese Vorschriften inhaltlich im Wesentlichen mit den früheren Regelungen der §§ 548 Abs. 1 Satz 1 und 550 Abs. 1 der Reichsversicherungsordnung (RVO) übereinstimmen, kann die hierzu ergangene Rechtsprechung grundsätzlich weiter herangezogen werden (vgl. BSG SozR 3-2700 § 8 Nrn. 1, 3, 6, 9).
- 29
a) Weder zweifelhaft noch zwischen den Beteiligten umstritten ist, dass der Kläger am 5. Dezember 2003 einen Verkehrsunfall erlitten hat und als Beschäftigter der Firma BC G., R., gemäß § 2 Abs. 1 Nr. 1 SGB VII zu dem gegen Unfall versicherten Personenkreis gehörte.
- 30
b) Der Senat ist ferner davon überzeugt, dass sich der Kläger zum Unfallzeitpunkt auf dem morgendlichen Weg nach dem Ort der Tätigkeit i. S. d. § 8 Abs. 2 Nr. 1 SGB VII befand. Der Unfallort liegt auf direktem Weg von seinem Wohnort W. zu seiner Arbeitsstelle bei der K. Werft in S.. Die behauptete Abfahrtzeit um 5.30 Uhr bei einem Arbeitsbeginn um 7.00 Uhr ist nachvollziehbar, und die Anwesenheit an der Unfallstelle um 5.45 Uhr ist davon ausgehend ebenfalls plausibel. Darüber hinaus hat die Zeugin Sa. glaubhaft bestätigt, dass der Kläger – wie jeden Morgen - gegen 5.30 Uhr von zu Hause aufgebrochen ist, um zu seiner Arbeitsstelle zu fahren.
- 31
Der anzunehmende Unfallhergang lässt nichts erkennen, was zu der Annahme eines Arbeitsunfalls entgegenstehen könnte. Allerdings geht der Senat - wie die Beklagte - davon aus, dass der Kläger während der Fahrt eingeschlafen ist. Darauf deutet bereits die aktenkundige Unfallentstehung hin. Ausweislich der Verkehrsunfallanzeige des Polizeireviers R. ist der PKW des Klägers zunächst zweimal nach rechts auf die Bankette zwischen Fahrbahn und Radweg und anschließend auf die Gegenfahrbahn geraten, wo er mit dem entgegenkommenden Fahrzeug kollidierte. Dies indiziert einen Zustand der Fahruntüchtigkeit, für welchen es im vorliegenden Falle keine andere Erklärung als die des Einschlafens gibt. Nach Angaben der Zeugin Sa. hatte der Kläger weder Alkohol getrunken, noch Medikamente eingenommen, war nicht krank und befand sich auch nicht in seelischer Aufregung. Darüber hinaus hat der Kläger nach den übereinstimmenden Bekundungen des Unfallhelfers K., des POM B., des Notarztes und des Durchgangsarztes auch selbst angegeben, er sei eingenickt.
- 32
Dieses Einnicken steht jedoch der Feststellung eines Arbeitsunfalls nicht entgegen. Zwar kann das Führen eines Kraftfahrzeuges im Zustand der Übermüdung und der dadurch bedingten Fahruntüchtigkeit den Verlust des Versicherungsschutzes zur Folge haben. Voraussetzung dafür ist jedoch, dass die Übermüdung nicht auf die versicherte Tätigkeit, sondern ausschließlich oder wesentlich auf betriebsfremde Umstände zurückzuführen ist (vgl. BSGE 4, 27; BSGE 14, 69). Das ist insbesondere dann anzunehmen, wenn die Übermüdung und die durch sie bedingte Fahruntüchtigkeit schon vor Antritt der Fahrt bestanden haben. Hingegen führt - da die Zurücklegung des unmittelbaren Weges von der Wohnung nach dem Ort der Tätigkeit nach dem Willen des Gesetzgebers wie die Tätigkeit selbst vom Versicherungsschutz erfasst werden sollte - eine ausschließlich oder wesentlich durch die Zurücklegung selbst verursachte oder erst dabei aufgetretene Übermüdung ebenso wenig zu dessen Verlust, wie eine Übermüdung, die auf betriebliche (dem Beschäftigungsunternehmen zuzurechnende) Umstände zurückzuführen ist.
- 33
Der Senat ist nach dem Gesamtergebnis des Verfahrens davon überzeugt, dass der Kläger – wie er behauptet – bei Antritt der Fahrt wach und fahrtüchtig war und erst unterwegs wieder müde geworden ist. Für eine bereits vor Antritt der Fahrt bestehende Übermüdung hat sich nämlich keinerlei Anhalt ergeben. Der Kläger selbst hat Entsprechendes zu keiner Zeit geäußert. Seine Angabe, er sei eingenickt, hat nicht den Erklärungsinhalt, er habe die Fahrt im Zustand übermüdungsbedingter Fahruntüchtigkeit angetreten. Auch die in vollem Umfang überzeugende Aussage der Zeugin Sa. hat nicht den geringsten Hinweis hierauf erbracht. Sie hat vielmehr bekundet, dass der Kläger den Nachmittag und den Abend vor dem Unfall mit Einkaufen, Abendbrotessen und Fernsehen zu Hause verbracht hat und bereits vor 21.45 Uhr zu Bett gegangen ist. Auch über müde machenden Alkoholgenuss oder psychische Belastungen am Vortag und am Unfallmorgen hat sie nichts berichtet.
- 34
Den Nachteil der Nichterweislichkeit einer schon vor Antritt der Fahrt bestehenden übermüdungsbedingten Fahruntüchtigkeit des Klägers hat die Beklagte zu tragen (vgl. BSGE 43, 110; BSGE 45, 285). Denn nach den auch im Unfallversicherungsrecht geltenden Regeln der objektiven Beweislast fallen die Folgen der Nichtfeststellbarkeit einer Tatsache demjenigen Beteiligten zur Last, der aus der Tatsache ein Recht herleiten will (st. Rspr., siehe etwa BSG SozR 2200 § 551 Nr. 1).
- 35
Die Fortsetzung des Arbeitsweges ohne eine dem Einnicken entgegenwirkende Pause stellt auch keine sogenannte selbstgeschaffene Gefahr dar, die zum Verlust des Versicherungsschutzes führen könnte. Der Gesetzgeber hat den Begriff des Arbeitsunfalls unabhängig vom Verschulden des Versicherten definiert. Demzufolge vermag der Grad des Verschuldens des Versicherten an dem Unfallgeschehen den Zusammenhang zwischen dem Unfall und der versicherten Tätigkeit nicht zu beseitigen. Etwas anderes kann lediglich dann anzunehmen sein, wenn betriebsfremde Motive (z. B. die Strecke schneller als andere zu durchfahren oder eher als ein zugleich reisender Arbeitskollege anzukommen) für die sogenannte selbstgeschaffene Gefahr vorhanden gewesen sind (vgl. RVA AN 1920, 151, 154; BSG SozR 2200 § 548 Nr. 60 m. w. N.). Ein Weiterfahren trotz auftretender Müdigkeit bewegt sich hingegen im Rahmen dessen, was bei verkehrswidrigem Handeln und den damit zusammenhängenden Gefahrenerhöhungen auch sonst den Versicherungsschutz nicht ausschließt (z. B.: Aufspringen auf und Abspringen von einem fahrenden Verkehrsmittel: BSGE 6, 164, 169; 43, 15, 18; Fahren ohne Führerschein: BSGE 25, 161, 164; Fahren auf polizeilich gesperrter Straße: BSG SozR Nr. 10 zu § 543 RVO a. F.; versuchte Landung eines Flugzeuges im Nebel: BSG SozR 2200 § 548 Nr. 60).
- 37
IV. Der Senat hat die Revision gegen das Urteil nicht zugelassen, weil die Voraussetzungen des § 160 Abs. 2 Nr. 1 oder Nr. 2 SGG nicht vorliegen.
Verwandte Urteile
Keine verwandten Inhalte vorhanden.
Referenzen
- 2 RU 97/59 1x (nicht zugeordnet)
- SGG § 144 1x
- § 543 RVO 1x (nicht zugeordnet)
- 2 U 188/99 1x (nicht zugeordnet)
- SGG § 55 1x
- § 8 Abs. 1 Satz 1 SGB VII 1x (nicht zugeordnet)
- § 212 SGB VII 1x (nicht zugeordnet)
- § 2 Abs. 1 Nr. 1 SGB VII 1x (nicht zugeordnet)
- SGG § 151 1x
- SGG § 193 1x
- § 8 Abs. 2 Nr. 1 SGB VII 2x (nicht zugeordnet)
- §§ 2, 3 oder 6 SGB VII 2x (nicht zugeordnet)
- SGG § 160 1x