Beschluss vom Schleswig-Holsteinisches Landessozialgericht (6. Senat) - L 6 AS 87/22 B ER

Tenor

Die Beschwerde des Antragstellers gegen den Beschluss des Sozialgerichts Kiel vom 2. August 2022 wird zurückgewiesen.

Außergerichtliche Kosten sind auch für das Beschwerdeverfahren nicht zu erstatten.

Gründe

I.

1

Der Antragsteller begehrt u.a. zum Inflationsausgleich ab Juli 2022 einen deutlich höheren Regelbedarf als vorläufige Leistung zur Sicherung des Lebensunterhaltes nach dem Sozialgesetzbuch Zweites Buch (SGB II).

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Der 1970 geborene Antragsteller lebt allein zur Untermiete in einer Wohnung in K. Er ist nicht erwerbstätig, bezieht kein Einkommen und verfügt über kein relevantes Vermögen. Die Antragsgegnerin bewilligte ihm für den Monat Juli 2020 Regelleistungen in Höhe von 449 € nebst Leistungen für die Kosten der Unterkunft (nicht bestandskräftiger Änderungsbescheid vom 14. Juli 2022 für die Zeit vom 1. Oktober 2021 bis 31. Juli 2022). Für den Zeitraum vom 1. August 2022 bis zum 31. Juli 2023 bewilligte der Antragsgegner Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts unter Berücksichtigung wiederum eines Regelbedarfs in Höhe von 449 € (Bescheid vom 14. Juli 2022). Mit Änderungsbescheid vom 23. August 2022 bewilligte der Antragsgegner dem Antragsteller weitere Leistungen wegen der Erhöhung des monatlichen Heizkostenabschlages rückwirkend ab August 2022. Sowohl gegen den Ursprungsbescheid vom 14. Juli 2022 als auch gegen den Änderungsbescheid 23. August 2022 erhob der Antragsteller Widerspruch, worüber noch nicht entschieden ist.

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Am 3. Juli 2022 hat der Antragsteller bei dem Sozialgericht (SG) Kiel einen Eilantrag auf Verpflichtung zur Gewährung vorläufig höherer Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhaltes gestellt. Die beanspruchte höhere Regelleistung begründet er mit einer grundsätzlichen Unterdeckung seiner SGB-II - Leistungen insbesondere gemessen an der tatsächlichen Inflationsrate. Die Erhöhung zum 1. Januar 2022 sei evident unzureichend gewesen. Dies gelte für alle Warengruppenanteile, für die die Leistungen teilweise (etwa Gesundheitspflege) sogar gekürzt worden seien. Gemessen an der realen Preissteigerung, die vom statistischen Bundesamt mit 122,7 % im April 2022 in Bezug auf das Jahr 2015 ermittelt worden sei, liege etwa in der Abteilung „Nahrung, alkoholfreie Getränke“ eine statistische Unterdeckung in Höhe von 17,88 € monatlich vor. Entsprechende Lücken bestünden in den übrigen Abteilungen. Unter Bezugnahme auf den Antrag der Bundestagsfraktion Die Linke vom 26. April 2022 (BT-Drucks 20/1502) hat der anwaltlich vertretene Antragsteller beantragt, ihm vorläufig Leistungen zur Sicherung des Regelbedarfs in Höhe von 687 € monatlich, also 238 € monatlich zusätzlich, zu gewähren. Die Berechnungsmethode für die existenzsichernden Leistungen müsse grundsätzlich verändert werden.

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Am 27. Juli 2022 erhielt der Antragsteller gemäß § 73 SGB II einen Einmalbetrag in Höhe von 200 € vom Antragsgegner.

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Das SG Kiel hat den Eilantrag mit Beschluss vom 2. August 2022 abgelehnt. Ein Anordnungsgrund könne nur für die Monate Juli bis Dezember 2022 in Betracht kommen, da ein Eilverfahren zur Behebung einer aktuellen, also gegenwärtig noch bestehenden Notlage erforderlich sein müsse und zudem die Regelbedarfe regelmäßig zum 1. Januar eines Jahres angepasst würden. In diesem zulässigen zeitlichen Rahmen bestünde kein Anordnungsanspruch. Die Leistungen seien nach der Regelbedarfsstufe 1 in Höhe von monatlich 449 € zutreffend entsprechend den gesetzlichen Regelungen bewilligt worden. Im Prüfungsumfang eines einstweiligen Rechtsschutzverfahrens gebe es keine ausreichenden Anhaltspunkte für eine Verfassungswidrigkeit der gesetzlichen Anpassungsmechanismen. Schreibe man entsprechend der Betrachtungsweise des Antragsstellers den Regelbedarf aus dem Jahr 2015 für die einzelnen Abteilungen in das Jahr 2022 anhand der - allerdings korrekterweise auf die einzelnen Abteilungen bezogenen - Inflationsraten fort, ergäbe dies zwar einen Mehrbedarf von 40,10 €. Diese Berechnung sei jedoch nicht zutreffend. Der Gesetzgeber habe mit dem Gesetz zur Ermittlung der Regelbedarfe (Regelbedarfsermittlungsgesetz-RBEG) vom 9. Dezember 2020 eine neue Erhebung der Regelbedarfe auf der Grundlage einer Sonderauswertung der Einkommens-und Verbrauchsstichprobe 2018 vorgenommen und die Leistungen anhand des aktuellen Ausgabeverhaltens der einkommensschwachen Haushalte bestimmt. Dies zugrunde gelegt sei aufgrund der Entwicklung der Verbraucherpreise ein rechnerischer Mehrbedarf aufgrund der Inflationsrate mit 34,42 € monatlich zu errechnen. Hinsichtlich der Einzelheiten der Berechnungen wird auf den Beschluss verwiesen. Dem gegenüber lägen Einsparungen durch das 9 € Ticket für die Abteilung 7 (Verkehr) für die Monate Juni, Juli und August 2022, wodurch in diesen Monaten vom Regelbedarfsanteil in Höhe von 40,27 € insgesamt 31,27 € dem Antragsteller zur Verfügung gestanden hätten, um andere Bedarfe zu decken. Eine denkbare Bedarfslücke von September bis Dezember 2022, die mit 137,68 € (4 × 34,42 €) zu errechnen sei, werde durch die Einmalzahlung von 200 € im Juli 2022 ausreichend gedeckt.

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Der Antragsteller hat am 1. September 2022 Beschwerde gegen den Beschluss des SG Kiel eingelegt, mit der er sein Begehren unter Bezugnahme auf sein erstinstanzliches Vorbringen weiterverfolgt. Ergänzend trägt er unter Berufung auf das Bundesverfassungsgericht (BVerfG) vor, dass die für die Ermittlung von Regelbedarfen verwendete Statistikmethode nur sehr unregelmäßig anfallende Anschaffungen offensichtlich nicht realitätsgerecht erfasse. Dies gelte insbesondere für die sogenannte weiße Ware (z. B. Waschmaschine oder Herd). Es komme hinzu, dass die Erhebungen jeweils veraltet seien, weil die Daten weit vor der Realität des Bedarfs lägen und in der Zwischenzeit maßgebliche Veränderungen eingetreten seien. Der Gesetzgeber habe mit dem Statistikmodell keine Vorkehrungen dagegen getroffen, dass aufgrund von Veränderungen spezifische Risiken der Unterdeckung aufträten. Die vom BVerfG geforderten Ausgleichsmechanismen bei extremen Preissteigerungen seien nicht umgesetzt worden. Hinzu kämen grundsätzliche Fehler wie die Reduzierung der Personengruppe der unteren Einkommensbezieher auf nur noch 15 % und das „willkürliche Herausstreichen“ einzelner Bedarfe in den unterschiedlichen Warengruppen. Damit habe sich das SG Kiel in seinem Beschluss nur unzureichend beschäftigt. Schließlich habe der Antragsgegner die Zahlung nach § 73 SGB II verspätet geleistet. Er könne jedoch nicht rückwirkend am gesellschaftlichen Leben (etwa zur Kieler Woche im Juni 2022) teilnehmen. Ein vorheriges Ansparen für eine solche Teilhabe am gesellschaftlichen Leben sei angesichts der gegenwärtigen weltpolitischen Situation und der hohen Inflationsrate nicht möglich.

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Der Antragsteller beantragt,

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den Beschluss des SG Kiel vom 2. August 2022 aufzuheben und den Antragsgegner zu verpflichten, ihm vorläufig ab 3. Juli 2022 bis zu einer vom Gericht zu bestimmenden Zeit, längstens jedoch bis zu einer Entscheidung in der Hauptsache, Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts nach dem SGB II unter Berücksichtigung eines Regelbedarfs in Höhe von 687 €, also weitere 238 € monatlich, zu bewilligen.

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Der Antragsgegner beantragt,

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die Beschwerde zurückzuweisen.

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Der Antragsgegner hält den Beschluss des SG für zutreffend und sieht sich hinsichtlich der Bemessung der Regelbedarfe an das Gesetz gebunden.

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Wegen der weiteren Einzelheiten des Sachverhalts und des Vorbringens der Beteiligten wird auf den Inhalt der Gerichtsakte und der Verwaltungsakte verwiesen.

II.

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1. Die Beschwerde ist zulässig. Sie ist form- und fristgerecht erhoben worden (§ 173 Satz 1 und 2 Sozialgerichtsgesetz [SGG]). Sie ist statthaft, weil der Wert des Gegenstands der sinngemäß für 6 Monate zusätzlich begehrten Regelleistungen die Wertgrenze von 750 € übersteigt (§ 172 Abs. 3 Nr. 1 i.V.m. § 144 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 SGG).

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2. Die zulässige Beschwerde ist nicht begründet. Das Sozialgericht hat den Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung zu Recht abgelehnt.

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Gemäß § 86 b Abs. 2 SGG kann das Gericht auf Antrag eine einstweilige Anordnung in Bezug auf einen Streitgegenstand treffen, wenn die Gefahr besteht, dass durch eine Veränderung des bestehenden Zustands die Verwirklichung eines Rechtes des Antragstellers vereitelt oder wesentlich erschwert werden könnte. Einstweilige Anordnungen sind auch zur Regelung eines vorläufigen Zustandes zulässig, wenn eine solche Regelung zur Abwendung wesentlicher Nachteile nötig erscheint. Entscheidungserhebliche Angaben sind dabei von den Beteiligten glaubhaft zu machen (§ 86 b Abs. 2 SGG i.V.m. § 920 Abs. 2 Zivilprozessordnung [ZPO]).

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a) Der Antragsteller hat einen Anordnungsanspruch auf Berücksichtigung eines Regelbedarfs in Höhe von 687 € nicht glaubhaft gemacht. Der Regelbedarf zur Sicherung des Lebensunterhalts umfasst insbesondere Ernährung, Kleidung, Körperpflege, Hausrat, Haushaltsenergie ohne die auf die Heizung und Erzeugung von Warmwasser entfallenden Anteile sowie persönliche Bedürfnisse des täglichen Lebens (§ 20 Abs. 1 Satz 1 SGB II). Der vom Antragsgegner berücksichtigte Regelbedarf für einen Alleinstehenden nach der Regelbedarfsstufe 1 von 449 € entspricht den gesetzlichen Vorschriften (§§ 41 Abs. 2, 42 Nr. 1, 28 nebst Anlage, 28a, 27a Abs. 1 Sozialgesetzbuch Zwölftes Buch [SGB XII] i.V.m.§ 8 RBEG vom 9. Dezember 2020, BGBl. I S. 2855, sowie §§ 1 und 2 der aufgrund der Ermächtigung in § 40 SGB XII erlassenen Regelbedarfsstufen-Fortschreibungsverordnung vom 13. Oktober 2021 [RBSFV 2022]) für die Zeit von Juli bis Dezember 2022 entsprechend der Bewilligungsbescheide des Antragsgegners.

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b) Darüber hinaus gehende Leistungen unter Zugrundlegung eines höheren Regelsatzes kann der Senat wegen der Bindung der Gerichte an Recht und Gesetz (Art. 20 Abs. 3 GG) nicht zusprechen. Der Erlass einer einstweiligen Anordnung erfordert - wie jede Regelung im vorläufigen Rechtsschutz - neben dem Anordnungsgrund einen Anordnungsanspruch. Die Anordnung bedarf einer materiell-rechtlichen Grundlage, deren Voraussetzungen glaubhaft zu machen sind. Vorliegend fehlt es an einer solchen materiell-rechtlichen Grundlage im einfachen Recht.

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Diese ergibt sich auch nicht unmittelbar aus Verfassungsrecht. Zwar haben Fachgerichte einstweiligen Rechtsschutz zu gewähren, wenn sie ernstliche Zweifel haben, ob eine Norm des einfachen Rechts, die von der Behörde als Ermächtigungsgrundlage für einen Eingriff in die Rechtssphäre des Betroffenen genutzt wird, mit dem Grundgesetz vereinbar ist (Burkiczak in: Schlegel/Voelzke, jurisPK-SGG, 2. Aufl., § 86b SGG (Stand: 08. September 2022), Rn. 87). Etwas anderes gilt jedoch für die Erweiterung von einfachgesetzlich nicht vorgesehenen Rechten unter Berufung auf ein vermeintliches verfassungswidriges defizitäres Handeln des Gesetzgebers. Den Fachgerichten ist es in diesen Fällen verwehrt, im Eilverfahren selbst unmittelbar aus der Verfassung öffentlich-rechtliche Ansprüche zu schöpfen. Eine sich allein auf Art. 1 Abs. 1 GG i.V.m. dem Sozialstaatsprinzip des Art. 20 Abs. 1 GG und dem daraus folgenden Grundrecht auf Gewährleistung eines menschenwürdigen Existenzminimums stützende Verurteilung zur vorläufigen Bewilligung von höheren Leistungen würde gegen das in Art. 100 GG verankerte Verwerfungsmonopol des BVerfG für gesetzliche Normen verstoßen. Aufgrund der durch § 20 SGB II iVm § 28 SGB XII und dem Regelbedarfsermittlungsgesetz klar bestimmten Regelbedarfshöhe besteht kein Raum, über eine verfassungskonforme Auslegung der Vorschriften zu einem höheren Regelsatz zu kommen. Den Gerichten ist es nicht gestattet, den zuständigen Träger allein auf der Grundlage von Verfassungsrecht, hier des Grundrechts auf Gewährleistung eines menschenwürdigen Existenzminimums, zur Leistungsgewährung zu verpflichten (BVerfG, Beschluss vom 30. Oktober 2010 - 1 BvR 2037/10 - ; ähnlich zum Unterhaltsrecht: BVerfG, Stattgebender Kammerbeschluss vom 7. November 2005 – 1 BvR 1178/05, BVerfGK 6, 323-326, Rn. 11; ebenso zur Regelbedarfshöhe nach dem SGB II LSG Niedersachsen-Bremen, Beschluss vom 24. August 2022 – L 8 SO 56/22 B ER, juris Rn. 12 - 13; siehe auch LSG Baden-Württemberg, Beschluss vom 13. Februar 2020 - L 7 AY 4273/19 ER-B und vom 3. Dezember 2018 - L 7 SO 4027/18 ER-B – jeweils juris; Burkiczak aaO, Rn. 89). Die Konkretisierung dieses Grundrechts auf Gewährleistung eines menschenwürdigen Existenzminimums (Art. 1 Abs. 1 und 20 Abs. 1 GG), das als Geldleistungsanspruch mit erheblichen finanziellen Auswirkungen für öffentliche Haushalte verbunden ist, ist ausschließlich dem parlamentarischen Gesetzgeber vorbehalten. Dies gilt auch für die Methode der Berechnung dieser Leistung.

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c) Der Senat sieht sich auch nicht veranlasst, das vorliegende Eilverfahren auszusetzen und dem BVerfG nach Art. 100 GG vorzulegen, denn er ist nicht davon überzeugt, dass die gegenwärtige Regelbedarfshöhe evident unzureichend am Maßstab von Art. 1 iVm Art. 20 GG (zu diesem Prüfungsmaßstab vgl. BVerfG, Urteil vom 9. Februar 2010 - 1 BvL 1/09, u.a., juris Rn. 141) ist, um das Existenzminimum des Antragstellers zu sichern. Nach summarischer Prüfung genügt die Höhe des Regelbedarfs insbesondere unter Berücksichtigung der bereits erfolgten und absehbaren Gesetzesänderungen im streitigen absehbaren Zeitraum auch weiterhin den verfassungsrechtlichen Anforderungen.

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Der Staat hat im Rahmen seines Auftrags zum Schutz der Menschenwürde und in Ausfüllung seines sozialstaatlichen Gestaltungsauftrags dafür Sorge zu tragen, dass die materiellen Voraussetzungen für die Gewährleistung eines menschenwürdigen Daseins erfüllt werden, wenn einem Menschen die hierfür erforderlichen notwendigen materiellen Mittel weder aus seiner Erwerbstätigkeit noch aus seinem Vermögen oder durch Zuwendungen Dritter zur Verfügung stehen. Dem Gesetzgeber steht hinsichtlich der Ausgestaltung des Grundrechts auf Gewährleistung eines menschenwürdigen Existenzminimums jedoch ein Gestaltungsspielraum bei der Bemessung des Existenzminimums zu, der einer zurückhaltenden Kontrolle durch das BVerfG entspricht (BVerfG, Urteil vom 09. Februar 2010 – 1 BvL 1/09 u.a., juris Rn. 133, 134; Urteil vom 5. November 2019 – 1 BvL 7/16, juris Rn. 118, 119). Da das Grundgesetz selbst keine exakte Bezifferung des Anspruchs auf existenzsichernde Leistungen vorgibt, beschränkt sich die materielle Kontrolle der Höhe von Sozialleistungen zur Sicherung einer menschenwürdigen Existenz durch das BVerfG darauf, ob die Leistungen evident unzureichend sind (BVerfG, Beschluss vom 27. Juli 2016 – 1 BvR 371/11, juris Rn. 41). Evident unzureichend sind Sozialleistungen nur, wenn offensichtlich ist, dass sie in der Gesamtsumme keinesfalls sicherstellen können, Hilfebedürftigen in Deutschland ein Leben zu ermöglichen, das physisch, sozial und kulturell als menschenwürdig anzusehen ist (ausdrücklich BVerfG, Beschluss vom 23. Juli 2014 – 1 BvL 10/12, juris Rn. 81).

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Zur Überzeugung des Senats entspricht die Bestimmung der Höhe der Leistungen für den Regelbedarf durch den Gesetzgeber im Rahmen des SGB II grundsätzlich den Anforderungen an eine hinreichend transparente, jeweils aktuell auf der Grundlage verlässlicher Zahlen und schlüssiger Berechnungsverfahren tragfähig zu rechtfertigende Bemessung der Leistungshöhe. Der Gesetzgeber hat die relevanten Bedarfsarten berücksichtigt, die für einzelne Bedarfspositionen aufzuwendenden Kosten mit einer von ihm gewählten, im Grundsatz tauglichen und im Einzelfall mit hinreichender sachlicher Begründung angepassten Methode sachgerecht ermittelt und auf dieser Grundlage die Höhe des Gesamtbedarfs bestimmt. Es ist nicht erkennbar, dass er für die Sicherung einer menschenwürdigen Existenz relevante Bedarfsarten übersehen und die zu ihrer Deckung erforderlichen Leistungen durch gesetzliche Ansprüche nicht gesichert hat (vgl. BVerfG, Beschluss vom 23. Juli 2014 – 1 BvL 10/12, juris Rn. 89; Beschluss vom 27. Juli 2016 – 1 BvR 371/11, juris Rn. 52).

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Seit dem 1. Januar 2021 gelten Regelbedarfe, die aufgrund von Sonderauswertungen der EVS 2018 ermittelt worden sind. Die Regelbedarfsermittlung ist hinsichtlich der Referenzhaushalte und der regelbedarfsrelevanten Verbrauchsausgaben im Einzelnen im Gesetz zur Ermittlung der Regelbedarfe nach dem § 28 des Zwölften Buches Sozialgesetzbuch ab dem Jahr 2021 (Regelbedarfsermittlungsgesetz – RBEG – im Folgenden: RBEG 2021) vom 9. Dezember 2020 (BGBl. I 2855) enthalten. Diese Neuberechnung beruht auf methodischen Neubewertungen und einer gesetzlich vorgesehenen veränderten Datengrundlage und stellt keine Fortschreibung der bisherigen Werte dar. Dies verkennt der Antragsteller mit seiner eigenen Nachberechnung zur Höhe der ermittelten Werte. Die konkreten Beträge sind durch die Verordnung zur Bestimmung des für die Fortschreibung der Regelbedarfsstufen nach § 28a und des Teilbetrags nach § 34 Absatz 3a Satz 1 SGB XII maßgeblichen Prozentsatzes sowie zur Ergänzung der Anlagen zu §§ 28 und 34 SGB XII zum 1. Januar 2022 (Regelbedarfsstufen-Fortschreibungsverordnung 2022 - RBSFV 2022) angepasst worden. Dafür sieht der in Bezug genommene § 28 a SGB XII eine methodisch schlüssige statistische Bezugsgröße vor, die sich auf die Veränderungen im Zwölfmonatszeitraum des vorigen im Verhältnis zum vorherigen Zeitraum bezieht. Grundlage dafür sind gesetzlich vorgesehene Berechnungen der Veränderungsrate für die Preise aller regelbedarfsrelevanten Güter und Dienstleistungen und der durchschnittlichen Nettolöhne und -gehälter je durchschnittlich beschäftigtem Arbeitnehmer durch das Statistische Bundesamt (§ 28 a Abs. 3 SGB XII). Danach sind die Regelbedarfsstufen nach § 8 RBEG zum 01. Januar 2022 um 0,76 % erhöht und die Ergebnisse nach § 28 Abs. 5 SGB XII auf volle Euro gerundet worden (vgl. § 1 Regelbedarfsstufen-Fortschreibungsverordnung 2022 vom 13. Oktober 2021). Für Alleinstehende ergibt sich daraus der auch heute noch gültige Wert von 449 € monatlich.

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Der Antragsteller rügt eine unzureichende Anpassung zu diesem Stichtag und im Laufe des Jahres 2022. Dem ist zuzugeben, dass die Inflationsrate und damit der Kaufkraftverlust für das zur Verfügung stehende Einkommen auch in Form von staatlichen Transferleistungen derzeit erheblich ist. Die Inflationsrate bezogen auf den Verbraucherpreisindex für Deutschland (VPI) im September 2022 beträgt nach vorläufigen Berechnungen des statistischen Bundesamtes 10 % gemessen an dem Gesamtindex im vergleichbaren Vorjahresmonat, also im Vergleich zu September 2021 (vgl. https://www.destatis.de/DE/Presse/Pressemitteilungen/2022/09/PD22_413_611.html). Im August betrug die Inflationsrate 7,9 % zum vergleichbaren Vorjahresmonat, im Juli 7,5 %, im Juni 7,6 %, im Mai 7,9 %, im April 7,4 % (vgl. https://www.destatis.de Fachserie 17, Reihe 7 Tabelle 1.1 und https://www.destatis.de/DE/Themen/Wirtschaft/Konjunkturindikatoren/Basisdaten/vpi041j.html). Diese Werte sind jedoch nicht ohne weiteres auf die regelsatzrelevanten Güter, die vom SGB II-Regelbedarf erfasst werden sollen, zu übertragen. Der Verbraucherpreisindex misst die durchschnittliche Preisveränderung aller Waren und Dienstleistungen, die von privaten Haushalten für Konsumzwecke gekauft werden. Die Teuerungsraten zwischen den einzelnen Warengruppen bzw. bezogen auf die regelsatzrelevanten Abteilungen unterscheiden sich erheblich. Die höchste Teuerungsrate besteht im Bereich Energie, insbesondere Heizungsenergie. Hier haben sich die Verbraucherpreise im August 2022 um 35,6 % erhöht, im Juli 2022 waren es 35,7 % und im Juni 2022 38 % jeweils gegenüber den Werten im Vorjahresmonat. Diese Kosten werden jedoch grundsätzlich in tatsächlicher Höhe vom Antragsgegner als Heizkosten übernommen. Soweit die Gesamtteuerungsrate auf Erhöhungen in dieser Warengruppe zurückgeht, ist sie für die Bemessung der Regelleistungen nicht relevant. Regelbedarfsrelevant ist hier allein der Bedarf für Haushaltsenergie. Deutlich verteuert haben sich einerseits die Preise für Nahrungsmittel. So betrugen diese Erhöhungen jeweils zum Vorjahresmonat im August 2022 16,6 %, im Juli 14,8 %, im Juni 12,7 % im Mai 11,1 %, im April 8,6 %. Deutlich niedrigere Verbraucherpreiserhöhungen gab es demgegenüber in den Bereichen Bekleidung und Schuhe, Beherbergung, Post und Telefonkommunikation oder Gesundheitspflege. In einzelnen Abteilungen wie dem Verkehr kam es sogar zeitweise zu Preissenkungen aufgrund des 9-Euro Tickets in der Zeit von Juni bis August 2022.

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Soweit das Sozialgericht zu den jeweils im Regelbedarf enthaltenen statistischen Teilwerten Einzelberechnungen auf der Grundlage der für das Jahr 2022 rechnerisch ermittelten Inflationsraten in den Abteilungen vorgenommen hat, dürfte es in der Tendenz die Teuerungsrate zutreffend erfasst haben. Allerdings beruht das gesetzliche Konzept der Dynamisierung der Regelbedarfsstufen auf einer eigenständigen Methodik der regelbedarfsrelevanten Fortschreibung der Regelbedarfsstufen nach dem SGB II unter Bezug auf das SGB XII und beinhaltet eine Kombination nicht der allgemeinen sondern der regelbedarfsrelevanten Teuerungsrate (70%) und der Einkommensentwicklung (30%, zum statistischen Konzept vgl. Elbel/Wolz, Berechnung eines regelbedarfsrelevanten Verbraucherpreisindex für die Fortschreibung der Regelbedarfsstufen nach dem SGB XII, Statistisches Bundesamt, Wirtschaft und Statistik, Dezember 2012, S. 1122 ff). Für den aktuellen Vergleichszeitraum vom 1. Juli 2021 bis zum 30. Juni 2022 im Verhältnis zum vorausgehenden Vergleichszeitraum vom 1. Juli 2020 bis zum 30. Juni 2021 hat das Statistische Bundesamt eine regelbedarfsrelevante Preisentwicklung von 4,7 % und eine Entwicklung der Nettolöhne und -gehälter je Arbeitnehmer von 4,16 % ermittelt, woraus sich für den Mischindex eine für 2023 aufgrund der aktuellen gesetzlichen Vorgaben (§ 28 a SGB XII) zu berücksichtigende Veränderungsrate von 4,54 % ergibt (zu den konkreten Zahlen vgl. Regierungsentwurf Bürgergeld, S 137).

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Allerdings ist die derzeitige Inflationsrate absehbar auch für den regelsatzrelevanten Preisindex, der auch die deutlich erhöhten Kosten für Nahrungsmittel und Haushaltsstrom beinhaltet, höher als die auf den Jahresvergleich bezogene Inflationsrate. Welche Schlussfolgerungen daraus für eine Anpassung der Regelleistungen aufgrund dieser Teuerungsrate zu ziehen sind, ist zuvörderst Aufgabe des Gesetzgebers. Dabei ist zu berücksichtigen, dass die Ermittlung von Regelbedarfen, die ein menschenwürdiges Existenzminimum gewährleisten, stets nur annäherungsweise möglich ist. Sie muss sich auf Daten zu komplexen Verhältnissen stützen, die für die jeweils aktuell geforderte Deckung eines existenzsichernden Bedarfs nur begrenzt aussagekräftig sind. Zwar muss die Bestimmung des menschenwürdigen Existenzminimums nach der erforderlichen Gesamtbetrachtung auf im Ausgangspunkt tragfähigen Grundannahmen, Daten und Berechnungsschritten beruhen, jedoch schlagen Bedenken hinsichtlich einzelner Berechnungspositionen nicht ohne Weiteres auf die verfassungsrechtliche Beurteilung durch. Gleichzeitig darf der Gesetzgeber ernsthafte Bedenken, die auf tatsächliche Gefahren der Unterdeckung verweisen, nicht einfach auf sich beruhen lassen und fortschreiben. Er ist vielmehr gehalten, bei den periodisch anstehenden Neuermittlungen des Regelbedarfs zwischenzeitlich erkennbare Bedenken aufzugreifen und unzureichende Berechnungsschritte zu korrigieren (BVerfG, Beschluss vom 23. Juli 2014 - 1 BvL 10/12, u.a., juris Rn 141).

26

Eine solche Reaktion des Gesetzgebers ist erfolgt, indem nach § 73 SGB II für den Monat Juli 2022 von Amts wegen eine Einmalzahlung auch zum Inflationsausgleich in Höhe von 200 € gewährt wurde. Der Antragsteller fällt in den Anwendungsbereich des § 73 SGB II, da er im Juli 2022 leistungsberechtigt nach dem SGB II war und sein Bedarf sich nach der Regelbedarfsstufe 1 richtet. Die Einmalzahlung erfolgte nach dem Wortlaut der Norm zum Ausgleich der mit der COVID-19-Pandemie in Zusammenhang stehenden Mehraufwendungen, die beispielsweise für den Kauf spezieller Hygieneprodukte und Gesundheitsartikel, aber auch in Folge der pandemiebedingten Inflation entstanden sind (BR-Drucksache 125/22, S. 14). Die ursprünglich im Gesetzgebungsverfahren mit 100 € vorgesehene Leistungshöhe ist vor dem Hintergrund des Beschlusses in der Besprechung des Bundeskanzlers mit den Regierungschefinnen und Regierungschefs der Länder vom 07. April 2022 über die Einbeziehung der aus der Ukraine geflüchteten Menschen in den Anwendungsbereich des SGB II auf 200 € verdoppelt worden und soll auch dem unmittelbaren pauschalen Ausgleich für etwaige aktuell bestehende finanzielle Mehrbelastungen in Anbetracht aktueller Preissteigerungen dienen (BT-Drucksache 20/1768, S. 27). Mit der Einmalzahlung i.H.v. 200 € hat der Gesetzgeber nicht die reguläre Fortschreibung der Regelbedarfsstufen abgewartet (BVerfG, Beschluss vom 23. Juli 2014 – 1 BvL 10/12, juris Rn. 144), sondern die durch die Pandemie und die Inflation entstandenen zusätzlichen Kosten bei den SGB II-Leistungen berücksichtigt (vgl. LSG Baden-Württemberg, Urteil vom 20. Juli 2022 – L 3 AS 1169/22, juris Rn. 20 - 28).

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Darüber hinaus ist ein Gesetzgebungsverfahren angestoßen worden, welches eine Neuberechnung des Regelbedarfs in Richtung auf ein Bürgergeld zum Gegenstand hat. Ausdrücklich verweist der Regierungsentwurf darauf, dass in den vergangenen Jahren bereits mehrere Einmalzahlungen auf den Weg gebracht wurden, um die außergewöhnlichen Preisentwicklungen abzufedern. Dies sei jedoch angesichts der aktuell schnell steigenden Preise nicht ausreichend, weshalb eine angemessene Erhöhung der Regelbedarfe notwendig sei, da die bisherige Fortschreibung der Regelbedarfe die Inflationsentwicklung erst im Nachgang abbilde. Daher sei es geboten, künftig die zu erwartende regelbedarfsrelevante Preisentwicklung bei der Fortschreibung der Regelbedarfe stärker zu berücksichtigen, womit auch der im Beschluss des BVerfG vom 23. Juli 2014 enthaltenen Vorgabe einer zeitnahen Reaktion auf eine offensichtliche und erhebliche Diskrepanz zwischen der tatsächlichen Preisentwicklung und der bei der Fortschreibung der Regelbedarfsstufen berücksichtigten Entwicklung der Preise für regelbedarfsrelevante Güter und Dienstleistungen entsprochen werden solle (veröffentlicht unter www.bmas.de: Regierungsentwurf). Der Entwurf eines Zwölften Gesetzes zur Änderung des Zweiten Buches Sozialgesetzbuch und anderer Gesetze - Einführung eines Bürgergeldes beinhaltet in § 134 SGB XII-E einen neuen Dynamisierungsfaktor, indem einerseits eine Basisfortschreibung wie bisher und andererseits eine ergänzende Fortschreibung bezogen auf einen zeitnahen Vergleich zwischen der Entwicklung im 2. Quartal des Vorjahres im Verhältnis zu dem Vorjahreswert vorgenommen wird. Da im 2. Quartal 2022 der regelbedarfsrelevante Preisindex um 6,9 % höher war als im maßgeblichen Vorjahresquartal (2. Quartal 2021) werden die aufgrund der Fortschreibung ermittelten Werte nach dem Gesetzentwurf um 6,9 % erhöht. Daraus errechnet sich aus der derzeitigen Regelbedarfsstufe 1 in Höhe von 449 € ab dem 1. Januar 2023 ein (gerundeter) Wert von 502 € für alleinstehende Erwachsene. Dieser Wert soll im Gesetz festgelegt werden. Damit ist ein geeigneter Mechanismus vorgesehen, der auf aktuell deutliche Preiserhöhungen in die Zukunft gerichtet reagieren kann. Der Gesetzgeber nimmt so die Verpflichtung wahr, konkrete Vorschläge im Gesetzgebungsverfahren zu prüfen, um so bei stark steigender Preisentwicklung eine zeitnahe Reaktion für existenzsichernde Leistungen gewährleisten zu können. Damit soll verhindert werden, dass es zu einer offensichtlichen und erheblichen Diskrepanz zwischen der tatsächlichen Entwicklung der Preise von regelbedarfsrelevanten Gütern und Dienstleistungen im Vergleich zu der bei der Fortschreibung der Regelbedarfe längerfristig zu berücksichtigenden Entwicklungen kommt. Als Folgewirkung sollen die Regelbedarfe zum 1. Januar 2023 deutlich ansteigen. Dass diese Veränderungen nicht ad hoc möglich sind, sondern in einem komplexen demokratischen Gesetzgebungsverfahren geprüft und entwickelt werden, ist ebenfalls verfassungsrechtlich legitimiert und demokratisch geboten. Eine Verfassungswidrigkeit eines solchen Anpassungsmechanismus käme allenfalls dann in Betracht, wenn über einen längeren Zeitraum hinweg betrachtet die Anpassung der Regelleistung so niedrig ausfiele, dass diese in ihrem Niveau insgesamt nicht mehr existenzsichernd wäre (vgl. zu dem damals deutlich sachwidrigen § 20 Abs. 4 Satz 1 SGB II: BSG, Urteil vom 27. Februar 2008 – B 14/7b AS 32/06 R, juris).

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Die Kostenentscheidung ergeht entsprechend § 193 Abs. 1 Satz 1 SGG. Sie orientiert sich am Ausgang des Verfahrens.

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Diese Entscheidung ist unanfechtbar (§ 177 SGG).


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