Beschluss vom Hanseatisches Oberlandesgericht (1. Strafsenat) - 1 Ws 14/15

Tenor

Auf die Beschwerde des Angeklagten gegen die Haftfortdauerentscheidung des Landgerichts Hamburg vom 22. Januar 2015 wird der Haftbefehl des Amtsgerichts Hamburg - In der Fassung des Strafkammerbeschlusses vom 8. September 2014 - aufgehoben.

Der Angeklagte ist in dieser Sache unverzüglich aus der Untersuchungshaft zu entlassen.

Gründe

I.

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Gegen den Angeklagten wird seit dem 7. Mai 2013 Untersuchungshaft vollstreckt. Mit Urteil vom 1. September 2014 hat das Landgericht ihn nach 47-tägiger Hauptverhandlung wegen versuchter räuberischer Erpressung in zwei Fällen, in einem Fall in Tateinheit mit zweifacher Nötigung, und der zweifachen tateinheitlichen versuchten Nötigung und des versuchten Betrugs zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von drei Jahren verurteilt, den Haftbefehl „nach Maßgabe“ des verkündeten Urteils aufrechterhalten und dessen weitere Vollstreckung angeordnet. Gegen das Urteil hat der Angeklagte fristgerecht Revision eingelegt; die Revisionsbegründungsfrist läuft gegenwärtig. Gegen die Haftfortdauerentscheidung wendet sich der Angeklagte - nachdem eine frühere Haftbeschwerde mit Senatsbeschluss vom 16. September 2014 - 1 Ws 99/14 verworfen worden war - mit seinem am 16. Januar 2015 beim Landgericht eingegangenen Antrag auf Aufhebung des Haftbefehls, hilfsweise auf Aussetzung des Vollzugs. Dies hat die Strafkammer mit Beschluss vom 22. Januar 2015 abgelehnt. Hiergegen hat der Angeklagte abermals eine Beschwerde erhoben, der die Strafkammer nicht abgeholfen hat (Bl. 2493 d.A.).

Il.

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Die zulässige Beschwerde hat in der Sache Erfolg. Die materiellen Voraussetzungen für eine Haftfortdauer liegen nicht mehr vor (§112 StPO).

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1. Zwar sind die erforderlichen dringenden Verdachtsgründe für sämtliche der angefochtenen Entscheidung zugrunde liegenden Tatvorwürfe auch weiterhin gegeben (§ 112 Abs. 1 Satz 1 StPO).

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a) Die Beurteilung des dringenden Tatverdachts, die das erkennende Gericht während laufender Hauptverhandlung vornimmt, untersteht nur in eingeschränktem Umfang der Nachprüfung durch das Beschwerdegericht (vgl. BGH, Beschl. v. 19. Dezember 2013 - StB 21/03, StV 2004, 143). Ist der Angeklagte in erster Instanz verurteilt worden, so belegt dies regelmäßig den dringenden Tatverdacht (BGH, Beschl v. 8. Januar 2004 - 2 StE 4/02-5 - StB 20/03, NStZ 2004, 276). In diese tatgerichtliche Beurteilung hat das Beschwerdegericht deshalb nur dann einzugreifen und diese durch eine abweichende eigene Bewertung zu ersetzen, wenn der Inhalt der angefochtenen Haftentscheidung grob fehlerhaft ist und den dringenden Tatverdacht aus Gründen annimmt, die in tatsächlicher oder rechtlicher Hinsicht nicht vertretbar sind (BGH, a.a.O.; HansOLG Hamburg, Beschl. 14. Juni 2012 - 3 Ws 98/12; Graf in KK-StPO, 7. Aufl., § 112 Rn. 7a m.w.N.).

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b) Solches ist hier weder anhand der nunmehr abgesetzten schriftlichen Urteilsgründe ersichtlich noch zum Gegenstand des Beschwerdevorbringens gemacht worden (vgl. bereits die in dieser Sache auf frühere Haftbeschwerden hin ergangenen Senatsbeschlüsse vom 25. März 2014 - 1 Ws 41/14 und vom 16. September 2014 - 1 Ws 99/14).

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2. Auch besteht der Haftgrund der Fluchtgefahr aus den Gründen des Senatsbeschlusses vom 16. September 2014 fort (§ 112 Abs. 2 Nr. 2 StPO). In diese Prüfung war lediglich ergänzend - den Fluchtanreiz weiter prägend - einzustellen, dass der Angeklagte durch Urteil des Amtsgerichts Hamburg-Wandsbek am 17. September 2014 wegen Untreue zu einer bedingten Freiheitsstrafe von acht Monaten verurteilt worden ist. Hiergegen führt gegenwärtig die Anklagebehörde die Berufung mit dem Ziel einer höheren und nicht zur Bewährung ausgesetzten Freiheitsstrafe.

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3. Die Fortdauer der nahezu zwei Jahre andauernden Untersuchungshaft erweist sich nunmehr gleichwohl aber als unverhältnismäßig.

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a) Art. 2 Abs. 2 Satz 2 GG garantiert die Freiheit der Person. In diesem Freiheitsgrundrecht ist das in Haftsachen geltende verfassungsrechtliche Beschleunigungsgebot angelegt (vgl. BVerfG, Beschl. v. 19. Oktober 1977 - 2 BvR 1309/76, BVerfGE 46, 194, 195). Dieses gebietet es den Strafverfolgungsbehörden und den Strafgerichten, alle möglichen und zumutbaren Maßnahmen zu ergreifen, um die notwendigen Ermittlungen mit der gebotenen Schnelligkeit abzuschließen und eine gerichtliche Entscheidung über die einem Beschuldigten vorgeworfenen Taten herbeizuführen (vgl. BVerfG, Beschl. v. 3. Mai 1966 - 1 BvR 58/66, BVerfGE 20, 45, 50; BVerfG [Kammer], Beschl. vom 29. Dezember 2005 - 2 BvR 2057/05, NJW 2006, 677, 678). Allerdings fallen Verzögerungen nach dem erstinstanzlichen Urteil geringer ins Gewicht als vor diesem Zeitpunkt (vgl. KG, Beschl. v. 7. März 2014 - 4 Ws 21/14). An den zügigen Fortgang des Verfahrens sind dabei umso strengere Anforderungen zu stellen, je länger die Untersuchungshaft schon andauert (vgl. nur BVerfG [Kammer], Beschl. v. 30. Juli 2014 - 2 BvR 1457/14 m.w.N.).

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b) Diesen sich aus Art. 2 Abs. 2 Satz 2 GG ergebenden Anforderungen an die Durchführung eines Strafverfahrens wird die Verfahrensgestaltung hier nach Verkündung des Urteils gegen den Angeklagten nicht mehr gerecht.

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aa) Der Verfahrensgang stellt sich für den Senat - entsprechend der dienstlichen Stellungnahme des Strafkammervorsitzenden und der durch den Senat eingeholten Stellungnahme der Präsidentin des Landgerichts - wie folgt dar:

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(1) Das Urteil war am 1. September 2014 verkündet worden. Die schriftlichen Urteilsgründe wurden am 15. Dezember 2014 zu den Akten gebracht (Bi. 2214 d.A.). Die Urteilsabsetzungsfrist des § 275 Abs. 1 Satz 2 StPO wurde hierdurch vollständig ausgeschöpft. Die Urteilsgründe weisen einen Umfang von 233 Seiten auf.

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(2) Der Strafkammervorsitzende verfügte am 27. Januar 2015 die Urteilszustellung. Sie wurde noch am selben Tage durch die Geschäftsstelle bewirkt (§36 Abs. 1 StPO; Bl. 2492 d.A.). Die Sitzungsniederschrift - „154 Seiten/92 Anlagen/20 beteiligte Protokollführer“ (Bl. 2481 d.A.) - war tags zuvor fertiggestellt worden (Bl. 2492 d.A,). Hierzu hat der Strafkammervorsitzende in Aktenvermerken im Einzelnen ausgeführt, dass ihm eine Durchsicht des Entwurfs über das Protokoll der Hauptverhandlung erstmals am „Sonntag, 4. Januar 2015, ca. 18:30h“ möglich gewesen ist (Bl. 2459 d.A.).

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Eine frühere Bearbeitung des Entwurfs sei ihm wegen „zahlreicher weiterer dienstlicher Aufgaben mit hoher Priorität“ nicht möglich gewesen (a.a.O.). Hierzu zählten etwa fristgemäße Urteilsabsetzungen in diesem Verfahren sowie in drei weiteren umfangreichen - wegen vollstreckter Untersuchungshaft besonders zügig zu fördernden - Strafsachen, die Fertigstellung der Sitzungsniederschrift in einem weiteren umfangreichen Verfahren mit vollstreckter Untersuchungshaft sowie ein auch im Januar 2015 noch verhandeltes weiteres Verfahren. Überdies seien durch die Strafkammer als Beschwerdegericht in Verkehrsstrafsachen im letzten Quartal 2014 insgesamt 131 Beschwerden zu bearbeiten gewesen (a.a.O.). Ferner weist der Strafkammervorsitzende in diesem Vermerk darauf hin, dass sich die „Belastungssituation im Kammervorsitz“ zudem „durch die zwischenzeitliche Neubesetzung beider Beisitzerstellen“ erhöht habe (a.a.O.).

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(3) Schließlich verfügte der Strafkammervorsitzende am 4. Januar 2015 „an 17 Protokollführer- und führerinnen“, die von ihm vorgenommenen Änderungen im Entwurf über die Sitzungsniederschrift anhand des „Umlaufzettels ... abzuarbeiten“ (a.a.O.). Dieses verzögerte sich - ersichtlich auch deshalb weil einzelne Urkundsbeamten krankgeschrieben waren (Bl. 2481 d.A.).

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bb) Die vollständige Ausschöpfung der Urteilsabsetzungsfrist durch die Strafkammer erweist sich vor dem Hintergrund der vorstehenden verfassungsrechtlichen Maßgaben hier für sich besehen noch als unbedenklich.

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(1) Ausdruck des verfassungsrechtlichen Beschleunigungsgebots bildet nach Ergehen eines strafrechtlichen Urteils auch die Urteilsabsetzungsfrist des § 275 Abs. 1 StPO (vgl. HansOLG Hamburg, Beschl. v. 18. Oktober 1982 - 2 Ws 292/82, JR 1983, 259). Mit dieser Bestimmung, die für das erkennende Gericht gestaffelt nach der Dauer der Hauptverhandlung eine Frist zur Niederlegung der schriftlichen Urteilsgründe festlegt, hat der Gesetzgeber zunächst in abstrakter Form zum Ausdruck gebracht, welchen Zeitraum er für die Fertigstellung eines Urteils nach Ende der Hauptverhandlung noch als angemessen ansieht. Gleichwohl handelt es sich hierbei um eine Höchstfrist, die, vor allem in Haftsachen, das Gericht nicht von der Verpflichtung entbindet, die Urteilsgründe des bereits verkündeten Urteils unverzüglich, das heißt ohne vermeidbare justizseitige Verzögerungen, schriftlich niederzulegen (vgl. BGH, Urteil v. 12. Dezember 1992 - 4 StR 436/91, NStZ 1992, 398). Das Gebot der bestmöglichen Verfahrensförderung ergreift damit auch den Prozess der Urteilserstellung. Mit dem verfassungsrechtlichen Beschleunigungsgebot in Haftsachen ist demnach eine Vorgehensweise nicht vereinbar, welche die Urteilserstellung von vornherein auf das zeitlich fixierte Ende der Frist des § 275 Abs. 1 StPO ausrichtet (vgl. BGH, a.a.O.).

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(2) So lag es hier allerdings nicht. Eine vollständige Ausschöpfung der gesetzlichen Frist war nach der dienstlichen Stellungnahme des Strafkammervorsitzenden nicht von Anfang an beabsichtigt. Die Zeitspanne war vielmehr mit Blick auf den Umfang der Sache einerseits und die erhebliche Belastung der Strafkammer andererseits hier ersichtlich unumgänglich.

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Die Abfassung der schriftlichen Urteilsgründe mit 233 Seiten in dieser besonders streitig geführten Strafsache war - auch mit Blick auf die Beratung zwischen drei Berufsrichtern - schon für sich besonders zeitaufwändig. Den Möglichkeiten zu einer sorgfältigen Abfassung und Beratung der schriftlichen Urteilsgründe waren hier allerdings durch die besonders hohe Belastung des Spruchkörpers zeitlich enge Grenzen gesetzt. Denn während laufender Urteilsabsetzungsfrist in dieser Sache waren weitere drängende Dienstgeschäfte durch die Strafkammer, namentlich ihren Vorsitzenden, zu erledigten. Schon die Pflicht, den weiteren drei anhängigen Haftsachen zügig Fortgang zu geben, stand der Förderungspflicht in dem Verfahren des Beschwerdeführers jedenfalls gleich.

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Des Weiteren war die Strafkammer als Beschwerdegericht parallel mit mehr als 130 Beschwerdeverfahren in Verkehrsstrafsachen befasst, die - mit Blick auf die oftmals in Rede stehende (vorläufige) Entziehung der Fahrerlaubnis (§ 111a StPO) und damit im Einzelfall verbundenen erheblichen Nachteile für die Beschuldigten - ebenfalls zügig zu bearbeiten sind. Diese schon an sich signifikante Belastung des Spruchkörpers erfuhr hier durch den Wechsel beider eingearbeiteter Beisitzer nach Urteilsverkündung besondere Ausprägung. Über den ohnehin notwendigen Zeitbedarf zur optimalen Zusammenarbeit der Richter eines Spruchkörpers hinaus wechselte hier ein Proberichter in die Strafkammer, für dessen Fortbildung und - um zukünftig eine effektive Mitarbeit zu gewährleisten - Heranführung an die Aufgaben einer Großen Strafkammer der Vorsitzende ebenfalls die Verantwortung zu tragen und die hierfür notwendige Zeit ebenfalls aufzuwenden hatte.

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cc) Allerdings ist der Verfahrensfortgang nach Niederlegung der Urteilsgründe auf der Geschäftsstelle von justizseitigen Verfahrensverzögerungen gekennzeichnet. Zwar gilt dies nicht für den Zeitraum vom 15. Dezember 2014 bis zum 4. Januar 2015. Vor dem Hintergrund der Dauer vollstreckter Untersuchungshaft erweist sich hier aber die für eine Fertigstellung der Sitzungsniederschrift benötigte Zeitspanne vom 5. bis 26. Januar 2015 als unvertretbar.

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(1) In dieser Zeit sollten - erkennbar - 17 der eingesetzten 20 Urkundsbeamten der Geschäftsstelle die durch den Strafkammervorsitzenden im Entwurf der Sitzungsniederschrift vorgenommenen und in ihren Zuständigkeitsbereich fallenden Korrekturen prüfen und bei Richtigkeit genehmigen, sodass mit der Unterschrift des letzten Urkundsbeamten das Protokoll fertiggestellt und damit die notwendige rechtliche Voraussetzung für die Urteilszustellung geschaffen ist (vgl. § 273 Abs. 3 StPO). Dieses Vorgehen war - ausweislich der Stellungnahme der Präsidentin des Landgerichts - nicht etwa aufgrund unvorhersehbarer Umstände, sondern „aus organisatorischen Notwendigkeiten“ heraus erforderlich geworden. Hiernach verfügt das Landgericht über sechs „reine Protokollkräfte“, von denen drei „in Teilzeit tätig" sind und eine „dauerkrank" ist. Im Übrigen werde die Protokollführertätigkeit von den „Geschäftsstellenmitarbeitern“ übernommen, was allerdings bei „Krankheiten, Urlauben oder Präsenznotwendigkeiten in den Geschäftsstellenbereichen“ ausscheide. Bei einer 47-tägigen Hauptverhandlung liege es demnach auf der Hand, dass es zum Einsatz „mehrerer Protokollführer“ komme. Ferner sei die „Neubesetzung beider Beisitzerstellen“ langfristiger Personalplanung geschuldet; in einem Fall wegen einer anstehenden, bereits einmal aufgeschobenen Erprobung und im anderen Fall wegen eines abgelaufenen „Dienstleistungsauftrags“ und der deshalb anstehenden und bereits einmal aufgeschobenen Rückabordnung der in der Strafkammer eingesetzten Richterin an die Staatsanwaltschaft.

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(2) Die eingetretene Verfahrensverzögerung beruht auf diesen gerichtsorganisatorischen Begebenheiten und ist verfassungsrechtlich hier nicht hinnehmbar. Die Überlastung eines Gerichts fällt - anders als unvorhersehbare Zufälle und schicksalhafte Ereignisse - in den Verantwortungsbereich der staatlich verfassten Gemeinschaft. Dem Angeklagten darf nicht zugemutet werden, eine längere als die verfahrensangemessene Aufrechterhaltung des Haftbefehls nur deshalb in Kauf zu nehmen, weil der Staat es versäumt, seiner Pflicht zur verfassungsgemäßen Ausstattung der Gerichte zu genügen (vgl. nur BVerfG [Kammer], Beschl. v. 30. Juli 2014 - 2 BvR 1457/14 sowie bereits BVerfG, Beschl. v. 12. Dezember 1973 - 2 BvR 558/73, BVerfGE 36, 264, 275). Denn ebenso wie sich aus dem Beschleunigungsgebot die Pflicht der Gerichtsleitung ableitet, durch Ergreifen geeigneter organisatorischer Maßnahmen die beschleunigte Bearbeitung von Haftsachen sicherzustellen (vgl. BVerfGE a.a.O., S. 272), folgt daraus zugleich, solche gerichtsorganisatorische Maßnahmen zu unterlassen, die einer beschleunigten Bearbeitung von Haftsachen zuwiderlaufen (BVerfG [Kammer], Beschl. vom 29. Dezember 2005 - 2 BvR 2057/05, NJW 2006, 677, 679).

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(a) Die derzeit bestehende Organisation des Einsatzes von Urkundsbeamten der Geschäftsstellen in Hauptverhandlungen lässt es erkennbar nicht zu, dass sich die nach dem Gesetz mit der Erstellung der Sitzungsniederschrift betrauten Urkundspersonen - der Vorsitzende und der Urkundsbeamte der Geschäftsstelle - in zureichender und verfahrensökonomischer Art und Weise aufeinander einstellen und abstimmen. Die besondere Bedeutung der Sitzungsniederschrift gerade im erstinstanzlichen landgerichtlichen Rechtszug macht dies - gerade zur Vermeidung nachträglich umfangreicher Nachbesserungen - unabdingbar.

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(b) Eine bessere Vorbereitung für die späterhin erforderliche Fertigstellung der Sitzungsniederschrift - etwa durch Erstellung von „Teilprotokollen“ - war hier dem Strafkammervorsitzenden ersichtlich verschlossen. Eine Erstellung von Teilprotokollen während laufender Hauptverhandlung - etwa abschnittsweise für jeden Hauptverhandlungstag - mag wünschenswert sein; dies ist aber weder rechtlich geboten, noch war es hier vor dem Hintergrund der signifikanten Belastung der Strafkammer möglich. Dessen ungeachtet bleibt festzuhalten, dass auch eine mehrwöchige Bearbeitungsdauer zur gebotenen Fertigstellung einer Sitzungsniederschrift für eine an nahezu 50 Hauptverhandlungstagen geführten Hauptverhandlung für sich noch nicht unvereinbar mit dem haftrechtlichen Zügigkeitsgebot sein muss. Dies gilt namentlich bei einem wegen einer besonders streitig geführten Hauptverhandlung sehr umfangreichen Protokollentwurf oder aber bei einer besonders hohen Belastung der Strafkammer durch andere anhängige und mit gleichrangiger Zügigkeit zu bearbeitender Verfahren. So lag es hier: Die Hauptverhandlung war einerseits erkennbar hochstreitig - auch mittels vorgetäuschter Verhandlungsunfähigkeit des Angeklagten - geführt worden. Andererseits bestand die - der Gerichtsleitung bekannte - hohe Belastung des Spruchkörpers durch drei weitere Haftsachen und eine Vielzahl ebenfalls zügig zu bearbeitender Beschwerdesachen.

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(c) Ferner wurde diese Belastungssituation der Strafkammer weiter verschärft durch den nach Urteilsverkündung in der hiesigen Sache vorgenommenen Austausch der beisitzenden Richter. Durch die hiermit fehlende Kontinuität in der kollegialen richterlichen Zusammenarbeit - wie auch den Umstand des Eintritts eines Berufsanfängers in den Spruchkörper - war der Vorsitzende in besonderem Maße in organisatorische Fragen ebenso eingebunden wie in solche der Ausbildung des richterlichen Nachwuchses. Dass jedenfalls beide Beisitzer in dieser auch für die Gerichtsleitung erkennbar besonders schwierigen Situation zwingend die Strafkammer verlassen mussten, ist weder ersichtlich noch für das „Stationenmodell“ - die Praxis der einjährigen Abordnung von Proberichtern etwa von der Staatsanwaltschaft zum Gericht - Voraussetzung. Einer schematischen Anwendung von Personalverwendungsmodellen geht die Pflicht zur bestmöglichen Förderung von Strafverfahren, die in die Freiheitsrechte eines Angeklagten eingreifen, erkennbar vor.

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(d) Mit Blick auf die Fehlzeiten der eingebundenen Urkundsbeamten in dem hier maßgeblichen Zeitraum hätte es hieran auch nichts geändert, wenn der Vorsitzende statt der Anordnung eines „Umlaufverfahrens“ den Versuch unternommen hätte, die Genehmigungen jeweils selbst einzuholen. Vor dem Hintergrund bestehender jedenfalls gleichrangiger Dienstpflichten betreffend weiterer anhängiger Haftsachen wäre solches auch aus arbeitsökonomischen Gründen nicht etwa naheliegend gewesen.

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(e) Der in diesem Verfahrensabschnitt eintretenden Verfahrensverzögerung vermochte auch der überobligatorische Einsatz des Strafkammervorsitzenden - etwa die Bearbeitung des Protokollentwurfs an einem Sonntagabend - nicht hinreichend entgegen zu wirken. Hinzu kommt, dass über den Jahreswechsel angesichts der erheblichen Anzahl beteiligter Protokollführer eine Fertigstellung der Sitzungsniederschrift ohnehin nicht zu erwarten war. Zu einem überobligatorischen Einsatz waren die Mitglieder der Strafkammer - die in der Zeit zuvor deswegen etwa weitgehend auf ihre Jahresurlaube und Fortbildungen verzichtet hatten - auch angesichts der signifikanten Belastung des Spruchkörpers dienstrechtlich nicht verpflichtet (vgl. BVerfG, Beseht, v. 23. Mai 2012 - 2 BvR 610/12 und 625/12 Tz. 15 ff.). Dies entbindet den Staat freilich nicht davon, der wertsetzenden Bedeutung des Freiheitsgrundrechts durch hinreichende organisatorische Maßnahmen Genüge zu tun.

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