Beschluss vom Hanseatisches Oberlandesgericht (12. Zivilsenat) - 12 WF 98/21

Tenor

Auf die sofortige Beschwerde der Mutter wird der Beschluss des Amtsgerichts Hamburg-Wandsbek, Az. 733 F 250/20 vom 4. März 2021 abgeändert. Der Mutter wird Verfahrenskostenhilfe ohne Ratenzahlung unter Beiordnung von Rechtsanwältin P. für das Verfahren erster Instanz bewilligt.

Gründe

1

I. Die Mutter verfolgt mit ihrer sofortigen Beschwerde ihren in erster Instanz erfolglos gestellten Antrag auf Bewilligung von Verfahrenskostenhilfe in einem Vaterschaftsanfechtungsverfahren weiter.

2

Zwischen den Beteiligten ist ein Abstammungsverfahren anhängig. Der Antragsteller möchte mit dem am 12. Oktober 2020 eingeleiteten Verfahren rechtlicher Vater des am 20. Februar 2018 geborenen Betroffenen werden. Der Antragsteller und die Mutter führten eine Beziehung aus der ein weiterer älterer gemeinsamer Sohn hervorgegangen ist. Er versichert an Eides statt mit der Mutter in der Empfängniszeit sexuell verkehrt zu haben. Der rechtliche Vater erkannte die Vaterschaft des Betroffenen am 8. Juni 2020 an. Unter dem 26. April 2021 gaben die rechtlichen Eltern eine Erklärung zur Ausübung der gemeinsamen elterlichen Sorge für den Betroffenen ab. Am 27. Mai 2021 heirateten die Mutter und der rechtliche Vater einander. Sie sind unter der gleichen Anschrift gemeldet, haben seit dem 8. Juli 2021 ein weiteres gemeinsames Kind und beziehen als Bedarfsgemeinschaft Leistungen nach dem Sozialgesetzbuch II.

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Die Mutter ist dem Antrag entgegengetreten. Sie trägt vor, dass sie sich im Dezember 2019 dem rechtlichen Vater zugewandt habe. Seit dieser Zeit seien sie ein Liebespaar. Sie plane mit ihm eine Zukunft. Er übernehme die Verantwortung für die Kinder. Es bestehe zwischen dem Betroffenen und dem rechtlichen Vater eine enge Bindung. Er liebe seinen Sohn, füttere, wickele, streichele, beruhige, singe ihm vor und fördere seine geistige und körperliche Entwicklung.

4

Das Amtsgericht hat den Antrag der Mutter auf Bewilligung von Verfahrenskostenhilfe mit Beschluss vom 4. März 2021 zurückgewiesen. Die Voraussetzungen einer sozial-familiären Beziehung lägen nicht vor. Dagegen wendet sich die Mutter mit ihrer sofortigen Beschwerde. Das Amtsgericht verkenne, dass der Antragsteller die primäre Darlegungs- und Beweislast trage, dass zwischen dem rechtlichen Vater und dem Kind keine sozial-familiäre Beziehung bestehe.

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II. Die gemäß §§ 76 Abs. 1, 2 FamFG, 567ff ZPO zulässige sofortige Beschwerde der Mutter hat in der Sache Erfolg.

6

Gemäß §§ 76 Abs. 1 FamFG, 114 Abs. 1 ZPO erhält eine Partei, die nach ihren persönlichen und wirtschaftlichen Verhältnissen die Kosten der Prozessführung nicht aufbringen kann, auf Antrag Verfahrenskostenhilfe, wenn die beabsichtigte Rechtsverteidigung hinreichende Aussicht auf Erfolg bietet und nicht mutwillig erscheint. Diese Voraussetzungen liegen vor.

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Gemäß § 1600 Abs. 2 BGB setzt die Anfechtung eines Vaterschaftsprätendenten voraus, dass zwischen rechtlichem Vater und Kind keine sozial-familiäre Beziehung besteht. Eine sozial-familiäre Beziehung besteht gemäß § 1600 Abs. 3 S. 1 BGB, wenn der rechtliche Vater für das Kind tatsächliche Verantwortung trägt. Eine Übernahme tatsächlicher Verantwortung liegt gemäß § 1600 Abs. 3 S. 2 BGB in der Regel vor, wenn der rechtliche Vater mit der Mutter des Kindes verheiratet ist oder mit dem Kind längere Zeit in häuslicher Gemeinschaft zusammengelebt hat.

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Grundsätzlich trägt der Vaterschaftsprätendent die Feststellungslast für das Nichtbestehen der sozial-familiären Beziehung zwischen rechtlichem Vater und Kind. Die Mutter und den rechtlichen Vater trifft jedoch insbesondere dann eine sekundäre Darlegungslast die Voraussetzungen einer sozial-familiären Beziehung darzulegen, wenn der leibliche Vater keinen Einblick in die Beziehung hat (vgl. OLG Hamburg, Beschluss vom 29. Januar 2019 - 12 WF 165/18, juris Rn. 13, FamRZ 2019, 1335).

9

In zeitlicher Hinsicht kommt es abgesehen von dem Fall, dass der rechtliche Vater verstorben ist, für das Bestehen der sozial-familiären Beziehung auf den Zeitpunkt der letzten Tatsacheninstanz an. Die Anfechtung der Vaterschaft durch den leiblichen Vater ist unbegründet, wenn zum Schluss der letzten Tatsacheninstanz eine sozial-familiäre Beziehung zwischen rechtlichem Vater und Kind besteht, auch wenn eine solche zum Zeitpunkt der Einreichung des Antrags noch nicht vorlag. Dies hat der Bundesgerichtshof nunmehr eindeutig – und gegen die Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts vom 25. September 2018 – klargestellt (vgl. BGH, Beschluss vom 24. März 2021 – XII ZB 364/19; Billhardt, jurisPR-FamR 16/2021 Anm. 5). Damit besteht für die rechtlichen Eltern die Möglichkeit, eine sozial-familiäre Beziehung im Laufe des Verfahrens zu begründen.

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Die Mutter ist ihrer Darlegungslast für eine sozial-familiäre Beziehung nachgekommen. Sie hat mit der Heirat am 27. Mai 2021 insbesondere die Voraussetzungen der Regelvermutung des § 1600 Abs. 3 S. 2 BGB dargelegt. Die Regelvermutung besteht auch dann, wenn der rechtliche Vater die Vaterschaft für das Kind anerkannt hat und erst später die Mutter heiratet (vgl. Reuß in: BeckOGK, Stand 1.5.2021, § 1600 Rn. 93).

11

Zwar wird bei der Regelvermutung des § 1600 Abs. 3 S. 2 BGB von der herrschenden Meinung zwischen der Übernahme der Verantwortung und dem Tragen der Verantwortung unterschieden. Insoweit wird angenommen, dass mit einer Heirat nicht das Tragen von tatsächlicher Verantwortung im Sinne des § 1600 Abs. 3 S. 1 BGB vermutet wird, sondern lediglich, dass Verantwortung widerleglich (anfänglich) übernommen wurde. Letzteres soll für das Bestehen einer sozial-familiären Beziehung nicht ausreichen, weil diese nach §1600 Abs.3 S.1 BGB voraussetzt, dass der rechtliche Vater die einmal übernommene Verantwortung (noch) trägt, diese also auch über den Zeitpunkt ihrer erstmaligen Übernahme hinaus weiterhin von ihm wahrgenommen wird (vgl. BGH, Beschluss vom 30. Juli 2008 – XII ZR 150/06, juris Rn. 14, FamRZ 2008, 1821; Reuß in: BeckOGK, Stand 1.5.2021, § 1600 Rn. 93).

12

Diese Unterscheidung der herrschenden Meinung überzeugt jedoch nicht. Soweit der Bundesgerichtshof darauf abstellt, dass die Übernahme der Verantwortung nur anfänglich wirkt, entspricht dies nicht dem Wortlaut der Vorschrift. Denn der Wortlaut („verheiratet ist“) knüpft nicht an den zurückliegenden (anfänglichen) Akt der Eheschließung an, sondern vielmehr an das verheiratet sein. Deswegen wird nach der Vorschrift während der gesamten Ehezeit fortlaufend die Verantwortung übernommen und damit auch im maßgeblichen Zeitpunkt der letzten Tatsacheninstanz.

13

Soweit jedoch in ein Tragen von Verantwortung im Gegensatz zur Übernahme von Verantwortung ein auf die Zukunft bezogenes qualitatives Element („dauerhaft“ bzw. „nachhaltig“) hineingelesen wird (vgl. Rauscher in: Staudinger (2011), § 1600 Rn. 42ff) überzeugt auch dies letztlich nicht. Diese Auslegung findet bereits in der Gesetzesbegründung keine Grundlage. In dieser wird nicht zwischen einem Tragen und einer Übernahme der Verantwortung differenziert. Vielmehr wird die Übernahme von Verantwortung mit deren Wahrnehmung und damit einem Tragen gleichgesetzt, indem formuliert wird:

14

„Die sozial-familiäre Beziehung leitet das Bundesverfassungsgericht aus der Wahrnehmung tatsächlicher Verantwortung ab (vgl. Beschlussgründe: C.I.2.b.: „Elternverantwortung wahrnimmt“; C.I.4.: „sozial-familäre Verantwortungsgemeinschaft“). Der Gesetzentwurf übernimmt diese Wechselwirkung zwischen sozial-familiärer Beziehung und Verantwortungsübernahme (vgl. § 1600 Abs. 3 BGB-E). § 1600 Abs. 3 BGB-E gibt der Rechtspraxis hinsichtlich der vom Bundesverfassungsgericht neu eingeführten Begriffskategorie „sozial-familiäre Beziehung“ durch Regelannahmen Orientierungshilfe. So ist eine Übernahme tatsächlicher Verantwortung in der Regel anzunehmen, wenn der rechtliche Vater mit der Mutter des Kindes verheiratet ist oder mit dem Kind längere Zeit in häuslicher Gemeinschaft zusammengelebt hat.“ (vgl. BTDrs. 15/2253, Seite 11).

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Eine sprachliche Differenzierung zwischen den Begriffen „Übernahme“ und „Tragen“ gibt auch bezogen auf die Zukunft nichts her. Während mit der Übernahme der Verantwortung eine Zustandsänderung beschrieben wird, beschreibt das Tragen lediglich einen aktuellen Zustand. Auf die Zukunft bezogen unterscheiden sich die Begriffe nicht. Weder aus der Übernahme noch aus einem Tragen der Verantwortung kann geschlossen werden, dass diese auch in der Zukunft noch wahrgenommen wird. Auch ist sprachlich aus einem Tragen von Verantwortung im Gegensatz zu einer Übernahme von Verantwortung nicht zwingend ein größeres Gewicht („dauerhaft“ bzw. „nachhaltig“) zu entnehmen. Denn Verantwortung kann sowohl „dauerhaft“ bzw. „nachhaltig“ übernommen und getragen werden.

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Schließlich würde die Differenzierung innerhalb des Tatbestandes des § 1600 Abs. 3 BGB wenig Sinn ergeben, wenn die Regelvermutung nicht zur (widerleglichen) Vermutung eines Tatbestandsmerkmals der Vorschrift führen würde. Die Vorschrift hätte dann entgegen dem Willen des Gesetzgebers keinen praktischen Anwendungsbereich. Die gesetzliche Regelung würde ins Leere laufen. Eine andere Frage ist, ob die rechtspolitisch umstrittene gesetzliche Vermutung des § 1600 Abs. 3 S. 2 BGB einen Verstoß gegen die gemäß Art.6 GG verfassungsrechtlich gebotene Effektivität des Verfahrens zur Erlangung der rechtlichen Vaterstellung darstellt (vgl. Rauscher in: Staudinger (2011), § 1600 Rn. 44). Dies ist jedoch vorliegend nicht in Zweifel zu ziehen, da der leibliche Vater genügend Zeit hatte, auch die rechtliche Vaterschaft einzunehmen und keine Umstände vorgetragen hat, die gegen eine Wahrnehmung von Verantwortung durch den rechtlichen Vater sprechen.

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Letztlich kann die Streitfrage sogar offen bleiben. Denn auch von der herrschenden Meinung wird formuliert, dass eine übernommene Verantwortung auch noch weiterhin getragen wird, wenn von den Beteiligten keinerlei Hinweise vorgetragen werden und sich dem Gericht auch kein anderer Schluss aufdrängt (vgl. BGH, Beschluss vom 30. Juli 2008 – XII ZR 150/06, juris Rn. 18, FamRZ 2008, 1821; Reuß in: BeckOGK, Stand 1.5.2021, § 1600 Rn. 93). Dies ist vorliegend der Fall.

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