Beschluss vom Oberlandesgericht Karlsruhe - 20 UF 47/02

Tenor

1. Auf die Beschwerde der Pflegeeltern und des Vaters wird der Beschluss des Amtsgerichts – Familiengericht – Rastatt vom 10. April 2002 – 4 F 125/01 – unter Nr. 3 aufgehoben und in Nr. 1 und 2 wie folgt abgeändert:

Der Antrag der Mutter, die Verbleibensanordnung des Amtsgerichts – Vormundschaftsgericht – Wiesbaden vom 04. September 1998 – 44 VIII 219/93 – aufzuheben und die Herausgabe des betroffenen Kindes anzuordnen, wird zurückgewiesen.

2. Die gerichtlichen Kosten des Verfahrens in erster Instanz tragen die Pflegeeltern und die Mutter je zur Hälfte. Außergerichtliche Kosten werden nicht erstattet.

Das Beschwerdeverfahren ist gerichtsgebührenfrei. Gerichtliche Auslagen werden nicht erhoben. Außergerichtliche Kosten werden nicht erstattet.

3. Der Wert des Beschwerdegegenstands wird auf 5.000 EUR festgesetzt.

Gründe

 
I.
Das Verfahren betrifft das Kind A, geb. am ... 1992. Seine Eltern sind S. und A., die nicht miteinander verheiratet sind oder waren. Die Mutter ist die adoptierte Tochter der Pflegeeltern, der Eheleute I. und D., bei denen sich das betroffene Kind derzeit aufhält. Die Mutter möchte, dass ihr Kind zu ihr wechselt.
Die Kindesmutter war schon bald nach der Geburt von A. – die Angaben wechseln zwischen wenigen Wochen und drei Monaten – zu ihren Eltern, den jetzigen Pflegeeltern von A., gezogen. Vorher war die Lebensgemeinschaft mit dem Vater A. auseinandergegangen.
In der Folge hatte die Mutter erhebliche gesundheitliche Probleme, die auch zu stationären Aufenthalten führten. So hat das Jugendamt in seinem Bericht vom 06.07.1999 mitgeteilt, dass es Anfang 1994 zu einer Aufnahme in der Landespsychiatrie in ... gekommen und dort eine "Borderline Persönlichkeitsstörung in Kombination mit Alkoholabhängigkeit" diagnostiziert worden sei. Das Jugendamt hat in seinem Schreiben vom 10.12.1997 von stationären/ambulanten Klinikaufenthalten in der Zeit von März 1996 bis 28.05.1996 in der Psychiatrischen Klinik ..., in der Zeit vom 29.05.1996 bis 13.08.1996 in der Tagesklinik ... und in der Zeit vom 14.08.1996 bis 04.12.1996 in der Fachklinik ... berichtet. In diese Zeit fällt im August/September 1996 der Umzug der Pflegeeltern zusammen mit A. von W. nach G.. Die Mutter und die Pflegeeltern sind sich uneins, ob die Mutter von diesem Umzug im vorhinein etwas gewusst hat.
Ihren Antrag auf Gewährung von Hilfe zur Erziehung gemäß § 33 KJHG (Vollzeitpflege) begründete die Kindesmutter am 20.12.1996 damit, dass sie sich eine stabile Lebenssituation aufbauen wolle und A. bis dahin bei den Großeltern verbleiben solle, die ihn bislang schon überwiegend versorgt hätten.
Es besteht Streit zwischen der Kindesmutter und den Pflegeeltern über die Frage, ob das Verhalten der Pflegeeltern von Anfang an auf ein systematisches Verdrängen der Kindesmutter im Hinblick darauf, dass die Pflegemutter keine eigenen Kinder bekommen konnte, gerichtet gewesen sei, oder ob die Pflegeeltern aus der Schwäche der Mutter heraus im Kindeswohlinteresse in die jetzige Position hineingewachsen sind.
Dieser Dissens führte zum Verfahren vor dem Amtsgericht – Vormundschaftsgericht – W., das mit dem Antrag der Pflegeeltern, der Kindesmutter das Sorgerecht, hilfsweise das Aufenthaltsbestimmungsrecht, vorab im Wege der vorläufigen Anordnung, zu entziehen, eingeleitet worden war. Im Rahmen dieses Verfahrens wurde am 01.06.1998 ein psychologisches Sachverständigengutachten von der Sachverständigen Dipl.-Psychologin, Forensischen Psychologin und Psychotherapeutin G. schriftlich erstattet. In der mündlichen Verhandlung vom 04.09.1998 haben die Pflegeeltern ihren Antrag, anzuordnen, dass die elterliche Sorge der Kindesmutter für A. ruht, zurückgenommen, darüber hinaus haben die Kindesmutter und die Pflegeeltern eine Umgangsvereinbarung geschlossen und die Kindesmutter hat dem Antrag der Pflegeeltern, eine Verbleibensanordnung zugunsten der Pflegeeltern zu treffen, zugestimmt. Mit Beschluss vom 04.09.1998 ist angeordnet worden, dass A. bei den Pflegeeltern verbleibt.
In der Folge kam es zu Differenzen der Kindesmutter und der Pflegeeltern bezüglich des Umgangs der Mutter mit ihrem Kinde. Durch Beschluss des Familiengerichts Rastatt vom 05.08.1999 ist der Umgang geregelt worden. Danach ist die Mutter berechtigt, das Kind an jedem ersten Wochenende eines Monats von Samstag, 12:00 Uhr, bis Sonntag, 17:00 Uhr, zu sich zu nehmen. Außerdem darf sie das Kind einmal monatlich bei den Pflegeeltern besuchen. Ferner ist durch Beschluss des Amtsgerichts Rastatt vom 18.12.2000 der Umgang der Mutter während der Schulferien geregelt worden. Das Verfahren 4 F 16/99 des Amtsgerichts Rastatt betraf die Androhung und Festsetzung eines Zwangsgeldes gegen die Pflegeeltern. Ihren Antrag vom 31.03.2000, das Aufenthaltsbestimmungsrecht auf sich zu übertragen, hat die Mutter zurückgenommen, nachdem die Pflegeeltern erklärt hatten, dass regelmäßiger Umgang und Ersatzwochenenden für ausgefallenen Umgang "kein Thema" seien.
Das vorliegende Verfahren ist mit Schreiben des Kreisjugendamtes Rastatt vom 02.04.2001 eingeleitet worden. Es hat beantragt, der Mutter im Wege der einstweiligen Anordnung die elterliche Sorge zu entziehen und das Umgangsrecht auszusetzen. Im Rahmen dieses Verfahrens hat die Kindesmutter beantragt, die Verbleibensanordnung des Amtsgerichts – Vormundschaftsgerichts – W. vom 04.09.1998 aufzuheben und die Herausgabe des Kindes an die Kindesmutter anzuordnen.
Die Pflegeeltern sind diesen Anträgen entgegengetreten.
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Das Familiengericht hat die Beteiligten persönlich angehört.
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Durch Beweisbeschluss vom 11.07.2001 wurde ein schriftliches Sachverständigengutachten eingeholt. Der Sachverständige B. hat sein schriftliches Gutachten vom 25.01.2002 im Schlusstermin vom 10.04.2002 mündlich erörtert.
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Dem Kind war eine Verfahrenspflegerin beigeordnet worden. Diese hatte Gelegenheit, sich zu äußern.
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Das Jugendamt hat ebenso Stellung genommen.
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Erstinstanzlich waren die Akten des Amtsgerichts Rastatt – 4 F 16/99, 4 F 88/99, 4 F 88/00, 4 F 168/00 – sowie die Akten des Vormundschaftsgerichts Wiesbaden – 44 VIII 219/93 – beigezogen.
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Mit Beschluss vom 10.04.2002 hat das Amtsgericht – Familiengericht – Rastatt die Verbleibensanordnung des Amtsgerichts – Vormundschaftsgerichts – Wiesbaden vom 04.09.1998 – 44 VIII 219/93 – aufgehoben. Zugleich hat es die Herausgabe des betroffenen Kindes an die Kindesmutter angeordnet. Darüber hinaus hat das Familiengericht das Umgangsrecht der Pflegeeltern geregelt.
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Das Familiengericht hat im Konflikt zwischen der Mutter und den Pflegeeltern auf Grundlage des verfassungsrechtlich geschützten Elternrechts gemäß Art. 6 GG der Mutter das Vorrecht eingeräumt. Dieses natürliche Vorrecht müsse nur zurücktreten, wenn die Unterbringung des Kindes bei der Mutter auf keinen Fall zu verantworten wäre, wovon im Streitfall auch nicht nur ansatzweise ausgegangen werden könne. Das Familiengericht hat sich insoweit den Ausführungen des zuständigen Jugendamts, der Verfahrenspflegerin, insbesondere auch des psychologischen Sachverständigen angeschlossen. Die Erkenntnisse des Jugendamtes und der Verfahrenspflegerin deckten sich mit den Erkenntnissen des Gerichts. Danach stehe eine angemessen Betreuung und Versorgung des Kindes bei seiner Mutter außer Zweifel. Die Beziehung zu der Lebensgefährtin der Mutter, Frau B., bestehe nunmehr schon seit mehreren Jahren. Diese könne den Familienunterhalt für eine dreiköpfige Familie decken, so dass die Kindesmutter sich intensiv und ausschließlich um die Betreuung des betroffenen Kindes kümmern könnte. Die Beziehung habe sich zwischenzeitlich derart entwickelt, dass sie durchaus in der Lage ist, dem Familiengepräge einen stabilisierenden Charakter zu verleihen. Der Sachverständige habe bei der Kindesmutter einerseits und bei den Pflegeeltern andererseits jeweils eine Erziehungseignung festgestellt, allerdings in qualitativ unterschiedlichem Ausmaß. Die bedingte Erziehungsgeeignetheit der Kindesmutter beruhe auf einer "latenten Alkoholgefahr" und darauf beruhenden gewissen Persönlichkeitsstörungen. Bei den Pflegeeltern habe der Sachverständige eine uneingeschränkte Erziehungseignung festgestellt, abgesehen von der Tatsache, dass Verlustängste zu Instrumentalisierungsversuchen des Kindes und zu kindeswohlgefährdender Umgangsrechtsvereitelung geführt hätten. Diese graduell unterschiedliche Erziehungseignung der Kindesmutter und der Pflegeeltern führten jedoch nicht zum Ausschluss der Rückführung des Kindes zur Kindesmutter. Eine solche könne nämlich nur dann versagt werden, wenn ein Aufenthaltswechsel voraussichtlich zu schweren und nachhaltigen körperlichen oder seelischen Schäden führen würde. Hierfür sei konkret nichts dargelegt und auch nichts ersichtlich. Auch dem Sachverständigengutachten sei nicht zu entnehmen, dass die Rückführung mit ziemlicher Sicherheit zu schweren nachhaltigen Schäden oder Entwicklungsstörungen führen werde. Das Aufzeigen eines beträchtlichen geistigen und sozialen Gefälles würde keinesfalls genügen, um eine Verbleibensanordnung aufrechtzuerhalten. Der Wechsel zur Mutter stelle auch keinen Wechsel zu Unzeit dar. Der bestehende Loyalitätskonflikt des betroffenen Kindes ändere sich durch einen Wechsel nicht. Das Kind habe ein Kontakt- und Liebesbedürfnis zur Mutter ebenso wie zu den Pflegeeltern. Dieser Konflikt bestehe unabhängig davon, ob das Kind zu seiner Mutter zurückgeführt werde oder ob es bei den Pflegeeltern verbleibe. Ein gewisses Risiko bei einem Wechsel zum leiblichen Elternteil sei hierbei hinzunehmen. Vergleichbare Risiken in dieser Richtung seien jedoch nicht erkennbar, nachdem eine positive und tragfähige Beziehung zwischen Kind und Mutter vorliege.
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Zwar werde mit zunehmender Dauer von Pflegeelternverhältnissen ein Herausreißen des Kindes aus der Pflegefamilie zunehmend problematischer. Die Mutter bemühe sich jedoch schon seit langem, ein echtes Eltern-Kind-Verhältnis mit dem Ergebnis einer Rückführung A.s herzustellen, was wegen der extremen Verweigerungshaltung der Pflegeeltern allerdings ohne Erfolg gewesen sei. Dies könne nicht zu Lasten der Mutter gehen. Schließlich sprächen auch die Umgangsvereitelungen der Pflegeeltern für einen Wechsel zur Mutter.
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Gegen diesen ihnen am 16.04.2002 zugestellten Beschluss haben die Pflegeeltern mit am 17.04.2002 eingegangenem Schriftsatz Beschwerde eingelegt. Sie beantragen, den Beschluss zu ändern und das Verbleiben des Kindes bei den Pflegeeltern anzuordnen.
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Der Vater hat mit am 26.04.2002 eingegangenem Schriftsatz Anschlussbeschwerde erhoben. Der angefochtene Beschluss war ihm am 16.04.2002 zugestellt worden. Auch er beantragt, unter Abänderung des Beschlusses den weiteren Verbleib des Kindes bei den Pflegeeltern anzuordnen.
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Die Mutter bittet um Zurückweisung der Beschwerden.
21 
Auf Antrag der Pflegeeltern mit Schriftsatz vom 17.04.2002 und gleichlautendem Antrag des Vaters mit Schriftsatz vom 26.04.2002 ist mit Beschluss des Oberlandesgerichts Karlsruhe vom 30.04.2002 die Vollziehung der Aufhebung der Verbleibensanordnung und der Herausgabe ausgesetzt worden.
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Die Beteiligten, insbesondere auch das Kind, sind persönlich angehört worden. Wegen der Ergebnisse wird auf die entsprechenden Protokolle Bezug genommen.
23 
Das Jugendamt erhielt Gelegenheit zur Äußerung; auf die Jugendamtsberichte wird verwiesen. Die Verfahrenspflegerin erhielt Gelegenheit zur Äußerung. Auf ihre Stellungnahme wird Bezug genommen.
24 
Das Gericht hat Sachverständigenbeweis erhoben. Auf den Beschluss vom 22.07.2002 hat der Sachverständige Dipl.-Psych. B. am 19.09.2002 ein ergänzendes Gutachten vorgelegt. Auf den Beschluss vom 29.11.2002 hat der Sachverständige Dipl.-Psych. Dr. S. am 09.07.2003 ein schriftliches Sachverständigengutachten erstattet, das er aufgrund des Beschlusses vom 13.10.2003 schriftlich ergänzt hat. In der mündlichen Verhandlung hat der Sachverständige sein Gutachten mündlich erläutert.
25 
Die Akten des Amtsgerichts – Vormundschaftsgerichts – Wiesbaden – 44 VIII 219/93 – sowie die Akten des Amtsgerichts – Familiengericht – Rastatt – 4 F 16/99, 4 F 88/00 und 4 F 168/00 – waren beigezogen.
II.
26 
Die gemäß §§ 621 e Abs. 1 und 3, 621 Abs. 1 Nr. 3 ZPO zulässigen Beschwerden sind auch begründet. Die Anordnung mit Beschluss des Amtsgerichts – Familiengericht – Wiesbaden vom 04.09.1988 – 44 VIII 219/93 –, dass das betroffene Kind A. bei den Pflegeeltern I. und D. verbleibt, war aufrechtzuerhalten. Denn der Wechsel A.s von den Pflegeeltern zu seiner Mutter würde derzeit sein Kindeswohl gefährden (§ 1632 Abs. 4 BGB). Damit war auch der Antrag der Mutter auf Herausgabe des Kindes zurückzuweisen. Die für den Fall des Wechsels getroffene Umgangsregelung zugunsten den Pflegeeltern ist obsolet geworden.
27 
Eine Anschlussbeschwerde ist in Verfahren zur Regelung der elterlichen Sorge und der Herausgabe des Kindes nicht zulässig. Denn in diesen Verfahren gilt das Verbot der Schlechterstellung des Beschwerdeführers nicht (vgl. Zöller/Philippi, ZPO, 24. Aufl., § 621 e Rn 55 a.E. m.w.N.) und es fehlt am Rechtsschutzbedürfnis, wenn – wie hier – die Anschließung kein dem Hauptrechtsmittel entgegengesetztes Ziel verfolgt (vgl. Johannsen/Henrich/Sedemund-Treiber, Eherecht, 4. Aufl., § 629 a ZPO Rn 9 m.w.N.) Im Hinblick auf die Zielrichtung der Anschlussbeschwerde des Vaters hat der Senat diese als Beschwerde umgedeutet (vgl. zur Umdeutung Zöller/Gummer/Heßler a.a.O. § 524 Rn 4).
28 
1. Die Trennung eines Kindes von seinem leiblichen Eltern ist der stärkste vorstellbare Eingriff in das Elternrecht des Art. 6 Abs. 2 Satz 1 GG (BVerfG FamRZ 2000, 1489). Dabei gebührt den Eltern der Schutz des Art. 6 Abs. 3 GG nicht nur im Augenblick der Trennung der Kinder von der Familie, sondern auch, wenn es um Entscheidungen über die Aufrechterhaltung dieses Zustandes geht (BVerfG FamRZ 1985, 39, 41).
29 
Die verfassungsrechtliche Gewährleistung des Elternrechts in Art. 6 Abs. 2 Satz 1 GG dient in erster Linie dem Schutz des Kindes (BVerfGE 61, 358, 371 = FamRZ 1982, 1179). Das Kindeswohl ist damit grundsätzlich die oberste Richtschnur der im Bereich des Kindschaftsrechts zu treffenden Entscheidung der Instanzgerichte (vgl. BVerfG FamRZ 2000, 1489 m.w.N.).
30 
Es ist aus verfassungsrechtlicher Sicht geboten, die Tragweite einer Trennung des Kindes von seiner Pflegefamilie – unter Berücksichtigung der Intensität entstandener Bindungen – einzubeziehen und die Erziehungsfähigkeit der Eltern auch im Hinblick auf ihre Eignung zu berücksichtigen, die negativen Folgen einer eventuellen Traumatisierung des Kindes gering zu halten. Nur so wird neben dem Elternrecht aus Art. 6 Abs. 2 Satz 1 GG auch dem allgemeinen Persönlichkeitsrecht des Kindes aus Art. 2 Abs. 1 GG i.V.m. Art. 1 Abs. 1 GG (vgl. BVerfGE 24, 119, 144 = FamRZ 1968, 578) und der Grundrechtsposition der Pflegefamilie aus Art. 6 Abs. 1 und 3 GG Rechnung getragen (vgl. zu einer Entscheidung nach §§ 1666, 1666 a BGB: BVerfG FamRZ 2000, 1489 m.w.N.).
31 
Schon die Wendung in § 1632 Abs. 4 BGB "wenn und solange" fordert flexible Lösungen, die im Wege eines gleitenden Übergangs auf ein Zueinanderfinden von Kind und leiblichen Eltern nach einer Umstellungsphase gerichtet sind (vgl. BVerfG FamRZ 1985, 39, 42 m.w.N.).
32 
2. Der Senat ist der Überzeugung, dass ein Wechsel A.s von den Pflegeeltern I. und D. zu seiner Mutter S. mit großer Wahrscheinlichkeit bei A. eine schwere und nachhaltige Schädigung in körperlicher, zumindest aber in seelischer Hinsicht bewirken würde. Er stützt seine Überzeugung in der Hauptsache auf das mündlich erläuterte Gutachten des Sachverständigen Dr. S. Dieser verfügt gerichtsbekannt über langjährige, insbesondere auch forensische Erfahrung im Bereich der Kinderpsychologie und damit über die erforderliche Sachkunde. Seine Ausführungen sind im einzelnen nachvollziehbar und in sich widerspruchsfrei. Der Senat sieht keinen Anlass, an der Sachkunde des Sachverständigen Dr. S. aufgrund der Ausführungen im Schriftsatz des Prozessvertreters der Mutter vom 11.12.2003 zu zweifeln.
33 
a) Der Wechsel von den Pflegeeltern zu der Kindermutter bedeutete für A. ein hochgradig kritisches Lebensereignis.
34 
aa) Mit einem solchem Wechsel wäre die Trennung von seinen zentralen Bezugspersonen verbunden. Die Pflegeltern sind schon aufgrund der Dauer des Zusammenlebens mit dem Kind seine Hauptbezugspersonen. Ausweislich des Family-Relations-Tests, den das Kind vorher nicht gekannt hat, haben die Pflegeeltern es gut verstanden, dem Kind ein familiäres "Setting" zu bieten, in dem es emotionalen Halt, Sicherheit und Geborgenheit findet. Zwar bestehen emotionale Bindungen auch zu beiden Elternteilen und zur neuen Familie des Vaters. Die Pflegemutter ist für A. jedoch die zentrale Bezugsperson, die auch als sehr feinfühlig erlebt wird (vgl. Gutachten Dr. S. vom 09.07.2003, Seite 46 f.). Auf die Fragen, weshalb das Kind praktisch seit seiner Geburt bei den Pflegeeltern lebt, ob diese es etwa der Mutter faktisch weggenommen haben, ob sie sich, so wie es die Mutter behauptet, des betroffenen Kindes auf die gleiche Art und Weise bemächtigt haben, wie sie dies mit seiner Mutter getan haben sollen, kommt es in vorliegendem Zusammenhang nicht an. Denn mit der Entscheidung über die Aufrechterhaltung der Verbleibensanordnung soll nicht ein bestimmtes Verhalten in der Vergangenheit pönalisiert, sondern eine am Kindeswohl orientierte Regelung nach aktueller Lage der Dinge getroffen werden.
35 
bb) Der mehrfach und konstant geäußerte Wille des Kindes, nicht zu seiner Mutter wechseln, sondern in G. bleiben zu wollen, ist ein Indiz dafür, dass dies die für ihn weitaus weniger belastende Variante darstellt. Das Kind befindet sich in einem massiven Loyalitätskonflikt. Der Senat sieht in der wohl unbegründeten Anzeige der Lebensgefährtin der Mutter durch das Kind den Ausdruck seiner seelischen Not mit dem Ziel, nicht zur Mutter wechseln zu müssen. Anhaltspunkte für eine Manipulation des Kindes durch die Pflegeeltern sind nicht ersichtlich. Die Verweigerungshaltung des Kindes etwa am Umgangswochenende der Mutter am 08./09.11.2003 und wohl auch am 06./07.12.2003 war auch nach Einschätzung des Senats voraussehbare Folge dessen, dass A. seine Bedürfnisse nicht hinreichend geachtet sieht. Auch aus dem Protokoll der richterlichen Anhörung A.s im Ermittlungsverfahren gegen die Lebensgefährtin der Mutter, Frau B., vom 01.04.2003 vermag der Senat nicht die weitreichenden Schlüsse der Mutter etwa im Schriftsatz ihres Prozessvertreters vom 20.11.2003, Seite 2 ziehen. Das Kind hat bei seinen richterlichen Anhörungen am 08.07.2002 und am 08.10.2003 nach Überzeugung des Senats seinen wahren Willen erklärt, nicht zur Mutter wechseln zu wollen.
36 
cc) Dagegen, dass es sich bei einem Wechsel zur Mutter um ein hochgradig kritisches Lebensereignis handelt, spricht nicht, dass A. sich bei der Mutter wohlfühlt und deutlichen Bedarf an Interaktion hat. Denn ein sicher gebundenes Kind lässt sich auf neue Situationen ein, im Wissen, dass ihm seine Bezugsperson erhalten bleibt, ihm die Unterstützung gewiss ist und es wieder ins gewohnte Umfeld zurückkehren kann (vgl. ergänzendes Gutachten Dr. S. vom 16.11.2003, Seite 4).
37 
b) Der Senat ist mit dem Sachverständigen Dr. S. der Überzeugung, dass der Wechsel von den Pflegeeltern zur Kindesmutter mit hoher Wahrscheinlichkeit bei A. zu Verhaltensstörungen, psychosomatischen Beschwerden, sozialem Rückzug, autoaggressiven Verhaltensweisen, zu Leistungsstörungen und zu einer Störung der emotionalen Beziehung zur Mutter führen würde (vgl. Gutachten Seite 57 und erg. Gutachten Seite 2). Diese Folgen hat der Sachverständige Dr. S. als häufige Folge von kritischen Lebensveränderungen genannt. Diese Prognose stützt der Senat darauf, dass bei A. verschiedene Faktoren hinzutreten, die nach den überzeugenden Ausführungen des Sachverständigen das Gefährdungspotential erhöhen.
38 
aa) So ist bei A. auf dem Hintergrund der jahrelangen Auseinandersetzungen von einer erhöhten Vulnerabilität auszugehen, was sich in den ausgeprägten Somatisierungstendenzen zeigt. Eindrücklich ist insoweit etwa das von A. bei seiner richterlichen Anhörung vor dem Oberlandesgericht geschilderte Bauchweh bei der Abholung durch die Mutter. Auch der Senat sieht durch diese erhöhte Verletzbarkeit die Stressbewältigungsstrategien von A. eingeschränkt.
39 
bb) Darüber hinaus sind bei einem Wechsel nicht die Voraussetzungen gegeben, die es A. ermöglichten, die von ihm geforderte Anpassungsleistung unbeschadet zu leisten. Es steht nicht zu erwarten, dass A. das erforderliche hohe Maß an emotionaler und sozialer Unterstützung bei gleichzeitiger Stabilität und Harmonie seines familiären und sozialen Umfelds erfahren wird. Der Senat teilt die Bedenken des Sachverständigen Dr. S. hinsichtlich des mütterlichen Familiensystems.
40 
Der Mutter fehlt es nach den überzeugenden Ausführungen des Sachverständigen Dr. S. an der sog. Feinfühligkeit; sie ist damit nur eingeschränkt erziehungsgeeignet. Sie vermag die tatsächlichen Bedürfnisse des Kindes, sein Sicherheitsbedürfnis und seine Bindungen an den Vater und insbesondere die Pflegeeltern nicht voll zu erkennen.
41 
Auch fehlt es der Mutter an der erforderlichen Bindungstoleranz. Das folgt aus ihrer vom Sachverständigen auf Seite 49 seines Gutachtens vom 09.07.2003 wiedergegebenen Äußerung, es solle am besten keinen Kontakt zwischen dem Kind und den Pflegeeltern geben, da diese den Kontakt dazu nutzen würden, das Kind auf ihre Seite zu ziehen. An dieser Beurteilung änderte sich nichts, wenn die Mutter erklärt haben sollte, A. könne den Kontakt zu den Pflegeeltern halten, sie dagegen wolle keinen. Denn schon diese Einstellung der Mutter würde den Umgang mit den Pflegeeltern gefährden.
42 
cc) Problematisch ist das mütterliche Familiensystem auch aufgrund des Verhältnisses von A. zu der Lebensgefährtin der Mutter, Frau B. Denn es liegt auf der Hand, dass die – wohl unbegründeten – Vorwürfe des Kindes Frau B. gegenüber das Verhältnis beider schwer belastet: auf Seiten des Kindes, weil es Frau B. falsch beschuldigt hat und ihr unter die Augen treten muss, auf Seiten von Frau B., weil sie sich einem unbegründeten, existenzbedrohlichen Vorwurf ausgesetzt sieht. Das Kind hat bei seiner richterlichen Anhörung am 08.07.2002 erklärt, es möge Frau B. nicht sehr. Und auch bei seiner letzten richterlichen Anhörung am 08.10.2003 hat es deutlich zum Ausdruck gebracht, dass ihm an der Anwesenheit von Frau B., wenn es seine Mutter besucht, nichts gelegen ist. Etwas anderes folgt nicht aus dem am Schluss der mündlichen Verhandlung vor dem Senat am 21.11.2003 vorgelegten Schreiben des Kindes, das es wohl beim letzten Umgangswochenende bei der Mutter Ende September 2003 an die Verfahrenspflegerin und Dr. S. geschrieben hat. Denn der Senat ist überzeugt, dass das Kind bei seiner richterlichen Befragung seinen wahren Willen geäußert hat, als es auf die Frage, ob es eher gut oder ob es eher schlecht gewesen sei, dass Frau B. nicht da gewesen sei, erklärt hat: "Es war gut, dass Frau B. nicht da war." Auch dem Sachverständigen Dr. S. gegenüber hat das Kind mehrfach auf die Frage, wie es mit Frau B. zurechtkomme, geäußert: "Es geht" (vgl. etwa Gutachten Seite 27 und 42) und damit ein zumindest fehlendes Interesse an Frau B. zum Ausdruck gebracht.
43 
dd) Im Hinblick auf die fehlende Feinfühligkeit der Mutter und das problematische Verhältnis des Kindes zu Frau B. konnte offen bleiben, ob die Mutter darüber hinaus noch Alkoholprobleme hat, die sich bei einem Wechsel von A. zu ihr auf das Kindeswohl auswirken könnten, und ob die Stabilität des Familiensystems des weiteren durch Frau B. weiter geschwächt wird, sei es aufgrund deren Alkoholrückfalls, sei es aufgrund ihrer rigiden Haltung gegenüber den Pflegeltern, die sie etwa als "verlogenes Pack" abwertet (vgl. Gutachten Dr. S. vom 09.07.2003, Seite 6).
44 
3. Das Beibehalten der jetzigen Situation gefährdet das Kind nicht. Die Pflegeeltern sind erziehungsgeeignet.
45 
Bedenken könnten allerdings im Hinblick auf die Bindungstoleranz der Pflegeeltern bestehen. In der Vergangenheit hat es zahlreiche Gerichtsverfahren zwischen der Mutter und den Pflegeeltern gegeben, die die Regelung des Umgangsrechts der Mutter und die Durchsetzung des Umgangs zum Gegenstand hatten.
46 
Der Umgang ist der Mutter in der jüngeren Vergangenheit jedoch in noch befriedigender Weise eingeräumt worden, ohne dass geklärt werden müsste, ob in der Vergangenheit der Umgang durch die Pflegeeltern beeinträchtigt oder gar vereitelt worden ist: Bei objektiver Sicht der Dinge lag es nicht an den Pflegeeltern, dass der Ferienumgang im Sommer 2003 nicht zustande kam. Das Umgangswochenende Anfang Oktober 2003 wurde einverständlich auf Ende September 2003 vorverlegt. Anhaltspunkte für mangelnde Bindungstoleranz der Pflegeeltern ergeben sich hieraus nicht. Das Scheitern des Umgangs am Wochenende 08./09.11.2003 und wohl auch am 06./07.12.2003 beruht nicht auf einem Fehlverhalten der Pflegeltern. Vielmehr ist die Verweigerungshaltung von A. als eine Reaktion darauf zu verstehen, dass er seine Bedürfnisse als nicht hinreichend geachtet ansieht (vgl. bereits oben). Im Blick auch darauf, dass der Umgang des Vaters mit A. offenbar problemlos funktioniert, ist der Senat der Überzeugung, dass es auch zukünftig zu den erforderlichen Kontakten (vgl. hierzu unten Ziffer II 4 a.E.) zwischen A. und seiner Mutter kommt.
47 
Anhaltspunkte für ein die Interessen des Kindes überlagerndes Eigeninteresse der Pflegeeltern an A. als "Ersatzkind", wie von der Mutter vorgetragen, sieht der Senat nicht.
48 
4. Die Abwägung zwischen Elternrecht der Mutter und Kindeswohl ergibt, dass das Elternrecht zurückstehen muss. Zwar führt das Verbleiben des Kindes bei den Pflegeeltern zu einer weiteren Verfestigung dieser Situation und zu schwindenden Chancen für einen zukünftigen Wechsel zur Mutter. Dies ist jedoch im Hinblick auf die wahrscheinliche massive Beeinträchtigung des Kindeswohls von A. hinzunehmen. Denn das Kindeswohl ist grundsätzlich die oberste Richtschnur der zu treffenden Entscheidung. Wegen des erheblichen Gefährdungspotentials ist es auch nicht zu verantworten, einen Wechsel zur Mutter zu versuchen. Dem grundsätzlichen Erfordernis eines gleitenden Wechsels des Kindes zu seiner Mutter steht diese – derzeit, wie auch in der Vergangenheit – auch durch ihr eigenes Verhalten im Wege. Bereits im Gutachten der Sachverständigen Dipl.-Psych. G., das im Verfahren vor dem Amtsgericht – Vormundschaftsgericht. Wiesbaden – 44 VIII 219/93 eingeholt worden war, kam die Sachverständige zu dem Ergebnis, dass das Kind bei den Pflegeeltern bleibe solle, "bis diese gemeinsam mit der Kindesmutter mit therapeutischer Unterstützung ihre Konflikte und Probleme miteinander soweit aufgearbeitet haben, dass eine unbefangene Kommunikation und gegenseitige Akzeptanz möglich ist." Auch der Sachverständige Dr. S. kommt zu dem Ergebnis, dass es dringend geboten sei, familientherapeutische Hilfe in Anspruch zu nehmen, um Druck von dem Kind zu nehmen und Positives für seine weitere Entwicklung beizutragen (Gutachten vom 09.07.2003, Seite 58). Im Gegensatz zu den Pflegeltern und dem Vater lehnt die Mutter familientherapeutische Maßnahmen ab.
49 
Obiges Abwägungsergebnis setzt voraus, dass der Umgang der Mutter mit A. weiter stattfindet. Denn aus dem Verhältnismäßigkeitsprinzip folgt, dass die Mutter ein Umgangsrecht haben muss (Palandt/Diederichsen, BGB, 63. Aufl., § 1632 Rn 15 m.w.N.).
5.
50 
a) Die Entscheidung über die gerichtlichen Kosten in erster Instanz folgt aus § 94 Abs. 3 Satz 2 Halbs. 1 i.V.m. Abs. 1 Nr. 3 KostO. Sie umfasst auch die gerichtlichen Auslagen (OLG Karlsruhe, Rpfl 1981, 76; Beschluss vom 21.09.1999 – 16 WF 88/99 –). Außergerichtliche Auslagen werden gemäß § 13 a Abs. 1 Satz 1 FGG nicht ersetzt.
51 
b) Das Verfahren in zweiter Instanz ist gerichtsgebühren- (§ 131 Abs. 1 Satz 2 und Abs. 3 KostO) und auslagenfrei (§ 131 Abs. 5, Abs. 1 Satz 2 KostO). Die Entscheidung über die außergerichtlichen Kosten folgt aus § 13 a Abs. 1 Satz 1 FGG.
52 
6. Der Beschwerdewert ergibt sich aus § 131 Abs. 2 i.V.m. § 30 Abs. 3, Satz 1, Abs. 2 KostO. Der Umfang des Verfahrens rechtfertigt die Erhöhung des regelmäßig anzusetzenden Wertes von 3.000 EUR.
53 
7. Die Voraussetzungen für die Zulassung der Rechtsbeschwerde nach § 621 e Abs. 2 ZPO liegen nicht vor.

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