Beschluss vom Oberlandesgericht Karlsruhe - 1 Ws 318/04

Tenor

1. Auf die sofortige Beschwerde des Verurteilten wird der Beschluss des Landgerichts Z. vom 11. August 2004 aufgehoben.

2. Die Vollstreckung der restlichen Gesamtfreiheitsstrafe aus dem Urteil des Landgerichts U. vom 26. Oktober 1998 wird zum 29. April 2005 zur Bewährung ausgesetzt.

3. Der Verurteilte ist am 29. April 2005 aus der Haft zu entlassen.

4. a. Die Bewährungszeit wird auf drei Jahre festgesetzt.

b. Für deren Dauer wird der Verurteilte der Aufsicht und Leitung des für seinen künftigen Wohnsitz zuständigen Bewährungshelfers unterstellt.

c) Dem Verurteilten wird auferlegt, seinen neuen Wohnsitz und jeden Wechsel dem Landgericht Z. und seinem Bewährungshelfer mitzuteilen.

d) Dem Verurteilten wird auferlegt, sich noch während seiner Inhaftierung gemeinsam mit einem Psychologen oder einem Sozialarbeiter der Justizvollzugsanstalt Y. um Durchführung einer ambulanten therapeutischen Nachsorge entsprechend des Gutachtens des Sachverständigen Dr. W. vom 09. Januar 2005 zu bemühen und diese Therapie nach näherer Weisung des zuständigen Bewährungshelfers spätestens nach seiner Haftentlassung aufzunehmen.

5. Die mündliche Belehrung des Verurteilten über die Aussetzung des Strafrestes nach § 454 Abs. 4 StPO wird der Justizvollzugsanstalt Y. übertragen, die gebeten wird, die Niederschrift der Belehrung zu den Gerichtsakten zu übersenden.

6. Die Kosten des Beschwerdeverfahrens und die dem Verurteilten insoweit entstandenen notwendigen Auslagen trägt die Staatskasse.

Gründe

 
I.
U. wurde durch Urteil des Landgerichts Stuttgart vom 26.10.1998 wegen versuchten Totschlages zu einer Freiheitsstrafe von zehn Jahren verurteilt, weil er am 29.11.1995 in Esslingen auf seinen ehemaligen aus der Türkei stammenden Landsmann T. mit einer Pistole sechs Schüsse abgefeuert hatte und diesen hierdurch lebensgefährlich verletzte. Nach Festnahme in Belgien und erfolgter Auslieferung befindet er sich seit dem 02.12.1997 in Haft, welche in der Justizvollzugsanstalt Y. vollzogen wird. Zwei Drittel der Strafe waren am 01.08.2004 verbüßt, das Strafende ist auf den 02.12.2007 notiert.
Mit Beschluss vom 11.08.2004 hat die Strafvollstreckungskammer nach Einholung eines Sachverständigengutachtens durch den Arzt für Psychiatrie Dr. W. die Aussetzung der Vollstreckung der Restfreiheitsstrafe nach Verbüßung von mehr als Zwei Dritteln der Strafe zur Bewährung abgelehnt, weil sich der Verurteilte nicht zureichend mit seiner Straftat auseinandergesetzt und diese deshalb nicht zureichend aufgearbeitet habe, weshalb ihm keine günstige Prognose gestellt werden könne.
Gegen die Entscheidung der Strafvollstreckungskammer wendet sich der Gefangene mit dem Rechtsmittel der sofortigen Beschwerde, mit welcher er seine vorzeitige Entlassung anstrebt.
Der Senat hat ergänzende Stellungnahmen des beauftragten Sachverständigen sowie des Psychologischen Dienstes der Justizvollzugsanstalt Y. eingeholt und dem Verurteilten über seine Verteidigerin rechtliches Gehör gewährt. Diese hat sich hierzu mit Schriftsatz vom 13.01.2005 geäußert.
II.
Die gemäß § 454 Abs. 3 Satz 1 StPO statthafte sofortige Beschwerde ist zulässig, insbesondere form- und fristgemäß erhoben.
Sie ist auch begründet.
1. Die Verantwortungsklausel des §§ 57 Abs. 1 S. 1 Nr. 2 StGB fordert als Voraussetzung für eine vorzeitige bedingte Entlassung die Wahrscheinlichkeit des Erfolges der Aussetzung der Vollstreckung, wobei insbesondere die Kriterien des „Sicherheitsinteresses der Allgemeinheit“ und des „Gewichts des bei einem Rückfall bedrohten Rechtsgutes“ dem Wahrscheinlichkeitsurteil Grenzen setzen. In diesem Rahmen setzt das mit der Aussetzung der Vollstreckung zur Bewährung verbundene „Erprobungswagnis“ zwar keine Gewissheit künftiger Straffreiheit voraus; es genügt deshalb, wenn - eindeutig festzustellende - positive Umstände die Erwartung i.S. einer wirklichen Chance rechtfertigen, dass der Verurteilte im Falle seiner Freilassung nicht mehr straffällig, sondern die Bewährungszeit durchstehen werde.
Die Anforderungen, welche an die Erfolgsaussichten der Prognose zu stellen sind, werden dabei desto strenger, je höher das Gewicht des bedrohten Rechtsguts ist. Bei der danach gebotenen Abwägung aller entscheidungserheblichen Umstände kommt dem Sicherheitsinteresse der Allgemeinheit und dem Gewicht des bei einem Rückfall bedrohten Rechtsguts insbesondere dann besondere Bedeutung bei, wenn der Verurteilung ein Verbrechen gegen das Leben zugrunde lag (OLG Karlsruhe StV 2002, 322 m.w.N.). Dies bedeutet aber nicht, dass bei derartigen Gewaltdelikten eine vorzeitige Entlassung grundsätzlich ausgeschlossen ist; das verfassungsrechtlich verankerte Gebot bestmöglicher Sachaufklärung (BVerfGE 70, 297 ff., 309) erfordert dann aber auch zum Schutz der Bevölkerung vor gefährlichen Rechtsbrechern verstärkt, dass sich der Richter ein möglichst umfassendes Bild über die zu beurteilende Person verschafft. Diesem Gesichtspunkt hat der Gesetzgeber dadurch Rechnung getragen, dass nach der Neufassung des § 454 Abs. 2 Satz 1 Nr. 2 StPO hierzu das Gutachten eines Sachverständigen einzuholen ist, wenn das Gericht erwägt, die Vollstreckung des Restes einer zeitigen Freiheitsstrafe von mehr als zwei Jahren wegen einer Straftat der in § 66 Abs. 3 Satz 1 StGB bezeichneten Art, namentlich - wie hier - eines Verbrechens gemäß § 57 StGB zur Bewährung auszusetzen (OLG Karlsruhe NStZ-RR 2000, 125 f.).
2. Nach Maßgabe dieser Grundsätze hält der Senat ebenso wie der Sachverständige in seiner ergänzenden Stellungnahme vom 09.01.2005 und die Justizvollzugsanstalt Y. in ihrer Erklärung vom 22.10.2004 eine bedingte Entlassung unter Erteilung von Auflagen und Weisungen für verantwortbar.
10 
Dem Verurteilten kann eine günstige Prognose gestellt werden. Er befindet sich erstmals in Haft, sein Vollzugsverhalten ist einwandfrei, er hat sich im offenen Vollzug und in dem ihm seit Mai/Juni 2003 gewährten Freigang bewährt. Auch die Entlassbedingungen sind günstig. Er kann bei seiner Ehefrau Wohnsitz nehmen und hat eine Arbeitsstelle bei einer türkischen Baufirma in Aussicht.
11 
Diesen erheblichen Gesichtspunkten hat die Strafvollstreckungskammer nach Auffassung des Senats zu wenig Gewicht beigemessen.
12 
a. Inwieweit eine unzureichende Tataufarbeitung einen kriminalprognostisch negativen Umstand darstellt, lässt sich nicht für alle Fallgestaltungen einheitlich beantworten, denn die Ursachen hierfür können mannigfaltig sein. Manche Täter sind durch ihre Tat derart betroffen, dass sie allein deshalb nicht darüber reden können oder wollen. Auch kann insbesondere bei Affekttaten und bei fortbestehender Tatleugnung eine fehlende Schuldeinsicht- und Schuldverarbeitung als Indiz für eine Tatwiederholung ungeeignet sein. Anders ist dies aber zu beurteilen, wenn die mangelnde Tataufarbeitung ihre Ursache in einem fortbestehenden krankheits- oder emotional bedingten Persönlichkeitsdefizit hat und sich hierauf die Besorgnis gründet, ohne eine Überwindung dieser Störung könne es zu erneuter Straffälligkeit nach Haftentlassung kommen. In solchen Fällen ist - ungeachtet einer erfolgten therapeutischen Aufarbeitung - grundsätzlich eine aktive Auseinandersetzung des Verurteilten mit der Tat erforderlich, wobei sich dieser u.a. damit beschäftigen muss, welche Charakterschwächen zu seinem Versagen geführt haben. Auch muss er Tatsachen schaffen, die für eine Behebung dieser Defizite sprechen und die es wahrscheinlich machen, dass er künftigen Tatanreizen zu widerstehen vermag (vgl. hierzu Senat, Beschluss vom 26.07.2004, 1 Ws 189/04: Sexualstraftäter; OLG Karlsruhe StV 2002, 322 f.: Affekttat; Kröber R&P 1993, 140 ff.; Müller-Dietz StV 1990, 29 ff.).
13 
b. Den beim Verurteilten nach Bewertung des Sachverständigen noch vorhandenen Leugnungs- und Bagatellisierungstendenzen kommt eine solche ausschlaggebende negative prognostische Bedeutung nicht bei. Der Strafgefangene leugnet die Tatbegehung nicht, vielmehr bereut er diese und hat sich in Therapiegesprächen in der Justizvollzugsanstalt Y. mit den tatbegründenden Umständen eingehend und „zur vollsten Zufriedenheit“ des hiermit beauftragten Diplompsychologen auseinandergesetzt. Dass er Aspekte der Tathandlung verharmlost, wiegt deshalb nicht so schwer, weil sich die nach erfolgter „Ehrkränkung“ in der Tat zum Ausdruck gekommenen Aggressionen des Verurteilten lediglich gegen eine bestimmte Person, den vom Verurteilten als „Erzfeind“ bezeichneten T., richteten und dieser nach Ermittlungen des Senates zwischenzeitlich verstorben ist. Dass sich ähnliche Aggressionen auch gegen andere Personen orientieren könnten, steht derzeit nicht konkret zu befürchten.
14 
3. Entsprechend den Vorschlägen des Sachverständigen Dr. W. in seiner ergänzenden Stellungnahme vom 09.01.2005 hat es der Senat wegen der problematischen und histrionischen Persönlichkeitszüge des Verurteilten aber als geboten angesehen, diesem als Bewährungsauflage die Durchführung regelmäßiger ambulanter und deliktsorientierter Therapiegespräche nach näherer Weisung durch den Bewährungshelfer aufgegeben und zur Vorbereitung und Ermöglichung einer solchen Behandlungsmaßnahme von der Möglichkeit des § 454 a Abs. 1 StPO Gebrauch gemacht. Bis zu seiner Haftentlassung am 29.04.2005 wird der Verurteilte daher Gelegenheit haben, ggf. auch unter Einschaltung des Sachverständigen und Hilfestellungen des psychologischen Dienstes bzw. eines Sozialarbeiters der Justizvollzugsanstalt Y. nach einem geeigneten und behandlungsbereiten Therapeuten zu suchen.
IV.
15 
Die Kostenentscheidung folgt aus einer entsprechenden Anwendung des § 467 Abs. 1 StPO.

Verwandte Urteile

Keine verwandten Inhalte vorhanden.

Referenzen