Beschluss vom Oberlandesgericht Karlsruhe - 2 Ws 211/19

Tenor

1. Auf die sofortige Beschwerde des Verurteilten wird der Beschluss des Landgerichts Freiburg vom 27. Mai 2019 aufgehoben.

2. Die Bewährungszeit wird um ein Jahr und sechs Monate auf vier Jahre und sechs Monate verlängert.

3. Die Befristung der Therapieweisung in der Fassung des Beschlusses der Strafvollstreckungskammer vom 15. Januar 2019 wird mit Einverständnis des Verurteilten bis einschließlich Ende Dezember 2019 verlängert.

4. Der Verurteilte darf keine alkoholischen Getränke zu sich zu nehmen und hat alkoholabstinent zu leben. Zur Überprüfung der Abstinenz hat er sich pro Quartal mindestens einmal und höchstens dreimal auf schriftliche Aufforderung der Strafvollstreckungskammer jeweils innerhalb von zwei Tagen nach Zugang der Aufforderung Urinkontrollen zur Untersuchung auf Alkoholabbauprodukte beim ... zu unterziehen.

Die Kosten der Kontrollen sind vom Verurteilten zu zahlen. Sofern er dazu nicht in der Lage ist, sind die Kosten von der Staatskasse zu tragen. Im letztgenannten Falle hat der Verurteilte unter Angabe konkreter Tatsachen darzulegen, aus welchen Gründen er zur Zahlung nicht in der Lage ist, und dies auf Aufforderung durch Vorlage entsprechender Belege gegenüber dem Bewährungshelfer nachzuweisen.

5. Die Kosten des Rechtsmittels und die notwendigen Auslagen des Verurteilten trägt die Staatskasse.

Gründe

 
I.
Der im Jahr 2008 wegen einer Tat der Verbreitung, des Erwerbes und Besitzes von kinderpornographischer Schriften sowie einer Tat des Betruges zum Nachteil einer Bank mit einer Gesamtgeldstrafe vorbestrafte Verurteilte wurde durch das Landgericht F mit Urteil vom 17.07.2013 wegen Vergewaltigung zu einer Freiheitsstrafe von drei Jahren und drei Monaten verurteilt. Mit Beschluss vom 06.05.2016, rechtskräftig seit dem 20.05.2016, hat das Landgericht - Strafvollstreckungskammer - F die Vollstreckung der Reststrafe zur Bewährung ausgesetzt und die Entlassung des Verurteilten nach Verbüßung von zwei Dritteln zum 10.06.2016 angeordnet. Die Bewährungszeit wurde auf drei Jahre festgesetzt.
Der Verurteilte ist in der Folge wegen einer am 14.07.2017 und damit in der Bewährungszeit begangenen, als „Sexueller Missbrauch einer widerstandsunfähigen Person“ bezeichneten, richtigerweise als „Sexueller Übergriff“ im Sinne von § 177 Abs. 2 Nr. 1 StGB zu bezeichnender Straftat, zunächst durch das Amtsgericht L mit Urteil vom 13.09.2018 zu einer Freiheitsstrafe von elf Monaten verurteilt worden. Auf die Berufung des Angeklagten hat das Landgericht F den Strafausspruch mit Urteil vom 18.02.2019 dahin abgeändert, dass die verhängte Freiheitsstrafe zur Bewährung ausgesetzt wurde. Der Verurteilung lag zugrunde, dass der Verurteilte, der nach einer privaten Feier neben einer 17-jährige Frau liegend übernachtete, der jungen Frau, während diese schlief, seine Hand unter ihre Hose und Unterwäsche führte und seine Hand auf die nackte Scheide legte.
Nach schriftlicher Anhörung des Verurteilten hat die Strafvollstreckungskammer mit dem angefochtenen Beschluss die Reststrafenaussetzung zur Bewährung unter Hinweis auf die neue Verurteilung durch das Amtsgericht L i.V.m. dem Urteil des Landgerichts F nach § 56f Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 StGB widerrufen.
Gegen den Beschluss wendet sich der Verurteilte mit der sofortigen Beschwerde, mit der er geltend macht, dass - entsprechend dem Antrag der Staatsanwaltschaft F, die eine Verlängerung der Bewährung um anderthalb Jahre beantragt hatte - mildere Maßnahmen nach § 56f Abs. 2 StGB ausreichend seien.
Die Generalstaatsanwaltschaft Karlsruhe hat beantragt, die sofortige Beschwerde als unbegründet zu verwerfen.
II.
Die nach § 453 Abs. 2 Satz 3 StPO zulässige sofortige Beschwerde des Verurteilten hat in dem aus der Beschlussformel ersichtlichen Umfang Erfolg.
1. Zutreffend geht die Strafvollstreckungskammer allerdings zunächst davon aus, dass sich die in den Verurteilten bei der Strafaussetzung zur Bewährung gesetzte Erwartung, er werde sich in Zukunft straffrei führen, nicht erfüllt hat. Der Verurteilte ist wegen eines innerhalb der Bewährungszeit begangenen Sexualdelikts verurteilt worden.
2. Dies führt vorliegend jedoch - insoweit entgegen der Ansicht der Generalstaatsanwaltschaft - nicht zum Widerruf der Bewährung nach § 56f Abs. 1 StGB. Es kann nämlich nicht unberücksichtigt bleiben, dass dem Verurteilten in der Berufungsinstanz durch das Landgericht F noch einmal eine Strafaussetzung zur Bewährung gewährt worden ist.
a) Zwar besteht für das für die Entscheidung über den Widerruf einer Strafaussetzung zur Bewährung berufene Gericht keine Bindungswirkung an die Prognose des die neue Straftat aburteilenden Tatrichters (OLG München, Beschluss vom 21.03.2012 - 3 Ws 239/12, juris Rn. 16 m.w.N.; BVerfG [Vorprüfungsausschuss], Beschluss vom 19.04.1985 - 2 BvR 1269/84, NStZ 1985, 357), so dass es nicht daran gehindert ist, die Strafaussetzung zu widerrufen, obwohl das Gericht, das über die neue Straftat zu urteilen hatte, eine Bewährungsstrafe verhängt hat (vgl. MüKoStGB/Groß, 3. Aufl. 2016, StGB § 56f Rn. 30). Jedoch kommt nach im Grundsatz einhellig in der Rechtsprechung der Obergerichte und in der Literatur vertretener Auffassung der sach- und zeitnäheren Prognose des neuen Tatrichters eine erhebliche Bedeutung zu (OLG Frankfurt, Beschluss vom 06.02.2009 - 3 Ws 106/09, juris; OLG Hamm, Beschluss vom 07.10.2002 - 2 Ws 385/02, juris; OLG Düsseldorf, Beschluss vom 22.11.1993 - 3 Ws 644/93, StV 1994, 198; OLG Köln, Beschluss v. 19.03.1993 - 2 Ws 115-116/93, BeckRS 1993, 123339; krit. Fischer, StGB, 66. Aufl. 2019, § 56f Rn. 8b). Dieser hat die besseren Erkenntnismöglichkeiten hinsichtlich des voraussichtlichen weiteren Lebenswegs des Straftäters und hat in der Hauptverhandlung einen persönlichen Eindruck von dem Verurteilten gewinnen können (vgl. BVerfG [Vorprüfungsausschuss], Beschluss vom 19.04.1985 - 2 BvR 1269/84, NStZ 1985, 357). Es erscheint daher regelmäßig geboten, die Einschätzung des Tatrichters als Indiz heranzuziehen und von dessen Prognose nur ausnahmsweise abzuweichen (siehe hierzu BeckOK StGB/Heintschel-Heinegg, 42. Ed. 1.5.2019, StGB § 56f Rn. 4; Schönke/Schröder/Kinzig, 30. Aufl. 2019, StGB § 56f Rn. 9; zur streitigen Beurteilung der Reichweite der Indizwirkung im Einzelnen vgl. MüKoStGB/Groß a.a.O. § 56f Rn. 30 f. m.N. in FN 105 ff.).
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b) Das Landgericht F hat vorliegend in der Berufungsinstanz unter Berücksichtigung sämtlicher gegen den Verurteilten sprechenden Umstände bei eingehender Begründung dargelegt, in welchen Umständen es positive Ansätze gesehen hat, die es rechtfertigten, die verhängte Strafe zur Bewährung auszusetzen. Von dieser Einschätzung abzuweichen, sieht der Senat vorliegend keinen Anlass.
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Ein Abweichen von der tatrichterlichen Prognose wird zwar dann in Betracht kommen, wenn bis zum Zeitpunkt der Entscheidung über den Widerruf durch die weitere Entwicklung und Lebensführung des Verurteilten neue prognoserelevante Aspekte bekannt geworden sind (hierzu KG Berlin, Beschluss vom 10.12.1997 – 1 AR 1502/974 Ws 265/97, BeckRS 1997, 14896) oder aber die Prognose des die neue Tat aburteilenden Richters auf einer nicht nachvollziehbaren, nicht überzeugenden oder bloß formelhaften Auseinandersetzung mit den Gründen, die zur erneuten Strafaussetzung zur Bewährung geführt haben, beruht (OLG Hamm, Beschluss vom 06.02.2014 - III-1 Ws 36/14, juris; BVerfG, Beschluss vom 23.07.2007 - 2 BvR 1092/07, NStZ-RR 2008, 26; OLG Köln, Beschluss v. 19.03.1993 - 2 Ws 115-116/93, BeckRS 1993, 123339; MüKoStGB/Groß, a.a.O. § 56f Rn. 30 f.).
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So liegt es hier aber nicht. Die Strafkammer hat ihre Bewährungsentscheidung nicht lediglich formelhaft, sondern unter eingehender Berücksichtigung aller für und gegen den Verurteilten sprechenden Umstände schlüssig begründet. Dabei hat sie sich insbesondere auf die Ausführungen des Sachverständigen Dr. D und die Einschätzung des in der Hauptverhandlung ebenfalls gehörten Therapeuten des Verurteilten bei der Forensischen Ambulanz X (FAX) gestützt, die ihre persönliche Einschätzung vom Beschwerdeführer geschildert haben. Insgesamt hat die Strafkammer so den Eindruck gewonnen, dass der Verurteilte dazu übergegangen ist, nunmehr dem Therapeuten gegenüber offener und therapiemotivierter aufzutreten. Hieran hat sie die für die Legalprognose ersichtlich relevante Erwartung geknüpft, dass im Rahmen dieses verbesserten Verhältnisses zum Therapeuten mit dem Verurteilten Positives wie Mechanismen zum Bestehen in Belastungssituationen erarbeitet werden können. Diese neuere Entwicklung hatte sich zum Zeitpunkt der erstinstanzlichen Entscheidung des Amtsgerichts L offenbar noch nicht abgezeichnet. Angesichts der hohen Bedeutung, die das Landgericht unter nachvollziehbarer Begründung dieser positiven Entwicklung beigemessen hat, sind die vom Amtsgericht angeführten, für sich genommenen durchaus beachtlichen Gründe, mit der es die günstige Prognose noch verneint hatte, anders zu gewichten. Dies gilt insbesondere auch deshalb, weil sich zwischenzeitlich die vom Landgericht dargelegte positive Tendenz durch den aktuellen Bericht der FAX vom 14.06.2019 weiter bestätigt hat. Hiernach wird zwar weiterhin Bedarf zur therapeutischen Behandlung des Verurteilten gesehen, weswegen die Fortsetzung der therapeutischen Behandlung empfohlen wird. Der Verurteilte wird jedoch im Vergleich zu vorher als in seinen Aussagen authentischer beschrieben und fiel anders als in der Vergangenheit nicht mehr mit Äußerungen auf, die auf ein „Opfergefühl hinsichtlich der zwei Verurteilungen als Sexualstraftäter oder sein fragwürdiges Selbstbild als der ‚frühere Frauenschwarm´, dem keine Frau habe widerstehen können, hindeuteten“.
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3. Nach alledem hielt der Senat es für noch ausreichend, vom Widerruf der Bewährung abzusehen und stattdessen als mildere Maßnahme gemäß § 56f Abs. 2 Satz 1 Nr. 1 StGB die Weisung zur Fortführung der Therapie in dem aus dem Tenor ersichtlichem Umfang zu erteilen. Zudem hält es der Senat, da die Straftaten jeweils im Zusammenhang mit vorangegangenem Alkoholgenuss begangen worden waren und die Fortführung der Alkoholabstinenz für die Erwartung künftiger Straffreiheit ersichtlich von entscheidender Bedeutung ist, für unabdingbar, dem Verurteilten eine Alkoholabstinenzweisung zu erteilen und ihm aufzuerlegen, sich zum Nachweis dessen den im Tenor angeführten Kontrollen, zu denen er seine Zustimmung erteilt hat, zu unterziehen. Ausdrücklich sei darauf hingewiesen, dass grundsätzlich ebenso die Möglichkeit besteht, die Alkoholabstinenz mittels Haarprobenuntersuchungen zu kontrollieren, was allerdings das Vorhandensein einer gewissen Haarlänge voraussetzt (ca. 3 cm). Sollte sich für den Beschwerdeführer diese Untersuchungsmethode, für die er bereits sein Einverständnis erklärt hat, als leichter umsetzbar herausstellen und er über eine entsprechende Haarlänge verfügen, erschiene es dem Senat geboten, auf seine an die Strafvollstreckungskammer zu richtende Anfrage die Weisung entsprechend abzuändern.
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Schließlich war auch die Bewährung in dem aus dem Tenor ersichtlichen Umfang gemäß § 56f Abs. 2 Satz 1 Nr. 2 StGB zu verlängern.
III.
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Die Kostenentscheidung beruht auf einer entsprechenden Anwendung des § 467 Abs. 1 StPO.

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