Beschluss vom Oberlandesgericht Naumburg (1. Strafsenat) - 1 Rv 9/16

Tenor

1. Auf die Revision des Angeklagten wird das Urteil der 4. kleinen Strafkammer des Landgerichts Dessau-Roßlau vom 28. September 2015 (4 Ns 507 Js 23449/13) mit den Feststellungen aufgehoben.

2. Die Sache wird zu neuer Verhandlung und Entscheidung, auch über die Kosten des Rechtsmittels, an eine andere Berufungskammer des Landgerichts Dessau-Roßlau zurückverwiesen.

Gründe

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Das Amtsgericht Wittenberg hat den Angeklagten am 26. März 2014 wegen gefährlichen Eingriffs in den Straßenverkehr in Tateinheit mit versuchter gefährlicher Körperverletzung zu einer Geldstrafe von 70 Tagessätzen zu je 100,00 Euro verurteilt. Auf die Berufung des Angeklagten hat die 4. kleine Strafkammer des Landgerichts Dessau-Roßlau vom 28. September 2015 (5 Ns 507 Js 23449/13) die amtsrichterliche Entscheidung abgeändert und den Angeklagten bei Beibehaltung des Schuldspruchs zu einer Geldstrafe von 60 Tagessätzen zu je 72,00 Euro verurteilt.

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Hiergegen wendet sich der Angeklagte mit seiner Revision, die eine Verletzung formellen und materiellen Rechts rügt und es vor allem als verfahrensfehlerhaft beanstandet, dass sich das Berufungsgericht auf die Verlesung der Niederschrift über die Aussage der Zeugin ... vor dem Amtsgericht gestützt hat.

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Die zulässige Revision des Angeklagten hat mit der formgerecht erhobenen Verfahrensrüge vorläufig Erfolg. Die Generalstaatsanwaltschaft hat in ihrer Zuschrift vom 9. Februar 2016 hierzu ausgeführt:

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"…Das Berufungsgericht hat die Verlesung auf § 251 Abs. 2 Nr. 1 StPO gestützt. Danach kann die Vernehmung eines Zeugen durch die Verlesung der Niederschrift über eine seine frühere richterliche Vernehmung ersetzt werden, wenn dem Erscheinen des Zeugen in der Hauptverhandlung für eine längere oder ungewisse Zeit Krankheit, Gebrechlichkeit oder andere nicht zu beseitigende Hindernisse entgegenstehen.

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Daneben kann nach § 251 Abs. 1 Nr. 2 StPO, dessen Anwendung hier ebenfalls in Betracht zu ziehen ist, die Vernehmung auch durch die Verlesung einer Niederschrift über eine Vernehmung ersetzt werden, wenn der Zeuge verstorben ist oder aus einem anderen Grund in absehbarer Zeit gerichtlich nicht vernommen werden kann.

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Im Ergebnis ermöglichen die in Abs. 1 Nr. 2 genannten Hinderungsgründe bereits die nach Abs. 2 Nr. 1 gestattete Verlesung, weshalb Abs. 2 Nr. 1 weithin leerläuft (Meyer- Goßner/Schmitt, StPO 58. Aufl. § 251, Rn. 20).

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Das Landgericht Dessau-Roßlau hat einen Hinderungsgrund für die Vernehmung der Zeugin in der Hauptverhandlung darin gesehen, dass diese - …

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...

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[ Anm: Die Kürzung des Textes an dieser Stelle erfolgt zum Schutz von persönlichen Angaben zur Zeugin.]

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Grundsätzlich kann eine Verlesung auch dann in Betracht kommen, wenn der Krankheitszustand eines Zeugen sein Erscheinen vor dem erkennenden Gericht nicht schlechterdings unmöglich macht. Es genügt auch, wenn die Vernehmung in der Hauptverhandlung dem Zeugen aller Voraussicht nach eine erhebliche Verschlechterung eines ernstlichen Leidens zufügen würde; ob dies der Fall ist, entscheidet das Tatgericht nach freiem Ermessen (BGHSt9, 297/300).

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Dass das Berufungsgericht hier gestützt auf das Attest der Ärztin für Notfallmedizin, und praktische Ärztin Dipl.-med H. vom 20.04.2015 nebst Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung vom 01.04.2015 davon ausgegangen ist, dem Erscheinen der Zeugin in der Hauptverhandlung stehe ein Hinderungsgrund entgegen, lässt auch Rechtsfehler nicht erkennen.

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§ 251 Abs. 1 Nr. 2, Abs. 2 Nr. 1 StPO setzt aber weiter voraus, dass der Zeuge in absehbarer Zeit nicht gerichtlich vernommen werden kann bzw. dass eine Vernehmung in der Hauptverhandlung für eine längere oder ungewisse Zeit nicht möglich ist. Dafür, ob ein Zeuge in absehbarer Zeit gerichtlich nicht vernommen werden kann, gibt es keinen für alle Fälle gültigen Maßstab. Die dem Tatgericht obliegende Entscheidung, ob diese Voraussetzung gegeben ist, erfordert vielmehr eine Abwägung der Bedeutung der Sache und der Wichtigkeit der Zeugenaussage für die Wahrheitsfindung einerseits gegen das Interesse an einer reibungslosen und beschleunigten Durchführung des Verfahrens andererseits unter Berücksichtigung der Pflicht zur erschöpfenden Sachaufklärung, § 244 Abs. 2 StPO (OLG München – Beschluss vom 18.01.2006 – 4 St RR 252/05 – m. w. N.).

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Die Beurteilung durch das Tatgericht ist hier insoweit nicht frei von Rechtsfehlern.

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Die Angaben der Zeugin ... , der einzigen Entlastungszeugin, sind für das Verfahren von großer Bedeutung. Anhaltspunkte dafür, dass die Zeugin von ihrem Zeugnisverweigerungsrecht Gebrauch machen würde, sind nicht ersichtlich.

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Zu berücksichtigen ist auch, dass es für eine Verurteilung bzw. Freispruch des Angeklagten maßgeblich auch auf die Glaubwürdigkeit der Zeugin ankommt. Es ist besonders wichtig, dass sich das Tatgericht im Interesse einer erschöpfenden Sachaufklärung nach Möglichkeit einen persönlichen Eindruck von der Zeugin verschafft.

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Es ist auch nicht ungewiss, wann die Zeugin für eine Vernehmung in der Hauptverhandlung wieder zur Verfügung stehen würde. Nach dem ärztlichen Attest soll die Zeugin zwar an keinem Gerichtstermin teilnehmen können; allerdings war sie ausweislich der o. a. Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung lediglich seit 17.03.2015 bis voraussichtlich 30.04.2015 arbeitsunfähig geschrieben. Zutreffend weist der Revisionsführer darauf hin, dass nicht ersichtlich sei, ob auch auf den Zeitpunkt des (Verlesungs-)Beschlusses vom 21.05.2015 eine Arbeitsunfähigkeit bestanden habe. Selbst wenn dies der Fall gewesen sein sollte, könnte diese aber nicht mit einer Verhandlungs- und Vernehmungsunfähigkeit gleichgesetzt werden. Es wäre zumindest entweder die Attestierung einer Reise- oder einer Verhandlungs- bzw. Vernehmungsunfähigkeit, deren Voraussetzungen sich jeweils von denen der Arbeitsunfähigkeit unterscheiden, erforderlich gewesen (LG Stuttgart, Beschluss vom 15.06.2015 – 6 Qs 2/15).

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Angesichts der ausschlaggebenden Bedeutung der Angaben der Zeugin ... für die der Urteilsfindung zugrunde liegenden Tatvorwürfe überwiegt hier das Interesse an einer erschöpfenden Sachaufklärung gegenüber dem Gebot der Verfahrensbeschleunigung.

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Dass der Angeklagte und seine Verteidiger – ausdrücklich oder stillschweigend – der Verlesung der Vernehmungsniederschrift vom 26.03.2014 zugestimmt hätten, lässt sich nicht mit der erforderlichen Sicherheit feststellen. Darauf, dass der Angeklagte und seine Verteidiger der Verlesung nicht widersprochen haben, kommt es dagegen nicht an (BGH, Beschluss vom 07.01.1986 – 1 StR 571/85 – m.w.N.).

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Ein Beruhen des Urteils auf dem Verfahrensfehler kann vorliegend nicht ausgeschlossen werden.

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Denn soweit in den Urteilsgründen ausgeführt wird, dass aus der Schilderung der Zeugin ... sich bereits per se Zeitfenster ergeben, in denen der Angeklagte das Haus, von dieser unbemerkt verlassen haben könnte (UA S. 10), insbesondere daraus, dass sich dieser auch nach den Bekundungen der Zeugin ... aus dem Badezimmer entfernt habe (UA S. 10), darf nicht verkannt werden, dass nach den erstinstanzlichen Feststellungen im Urteil des Amtsgerichts Wittenberg die Zeugin auch Folgendes angegeben hat. Sie habe sich in der Zeit zwischen Abendbrot und Eintreffen der Polizei durchgehend mit ihrem Mann zusammen aufgehalten. Lediglich für eine kurze Zeit von ca. 2 Minuten habe sich der Angeklagte vom Bad aus in ein anderes Zimmer begeben, um dort ein Lexikon zu holen (UA S. 3).

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Letztere Zeitangabe "ca. 2 Minuten" findet sich auch in der verlesenen Niederschrift (UA S. 9). Das auch im Berufungsurteil zugrunde gelegte Zeitfenster von "ca. 2 Minuten" dürfte jedoch nicht ausreichen, um aus dem Badezimmer zum Tatort zu gelangen, um dort die ihm vorgeworfene Tat zu verüben und anschließend in das häusliche Badezimmer zurückzukehren. Vor diesem Hintergrund kann nicht ausgeschlossen werden, dass die nochmalige Vernehmung der Zeugin ... vor dem erkennenden Berufungsgericht zu einem anderen Beweisergebnis geführt hätte (vgl. hierzu BGH NStZ 1993, 144, 145; NStZ 1986, 325; StV 1983, 443, 444).

25

Eines Eingehens auf das weitere Vorbringen der Revision bedarf es damit nicht. Allerdings sei darauf hingewiesen, dass für den Fall, dass im weiteren Verfahrensverlauf eine lang andauernde bzw. ständige Verhinderung der Zeugin, vor Gericht zu erscheinen, attestiert werden sollte, das Berufungsgericht zu prüfen haben, ob eine ergänzende amtsärztliche Begutachtung geboten erscheint.

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Aufgrund der aufgezeigten Rechtsmängel ist das angefochtene Urteil mit den zugrunde liegenden Feststellungen nach § 349 Abs. 4 StPO aufzuheben und die Sache an eine andere Strafkammer des Landgerichts Dessau-Roßlau zur erneuten Verhandlung und Entscheidung zurückzuverweisen."

27

Diesen zutreffenden Ausführungen tritt der Senat bei, weshalb das angefochtene Urteil mit den zugehörigen Feststellungen aufzuheben und die Sache zu neuer Verhandlung und Entscheidung, auch über die Kosten des Rechtsmittels, an eine andere Berufungskammer des Landgerichts Dessau-Roßlau zurückzuverweisen war.


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