Beschluss vom Oberlandesgericht Stuttgart - 4 Ss 117/03

Tenor

Auf die Revision des Angeklagten wird das Urteil des Amtsgerichts Nagold vom 3. Dezember 2002 mit den zugehörigen Feststellungen

aufgehoben.

Die Sache wird zu neuer Verhandlung und Entscheidung, auch über die Kosten des Rechtsmittels, an eine andere Abteilung des Amtsgerichts

zurückverwiesen.

Gründe

 
I.
Das Amtsgericht – Jugendrichter – hat den Angeklagten wegen dreier tatmehrheitlich begangener Vergehen des wiederholten Verstoßes gegen eine räumliche Beschränkung nach dem Asylverfahrensgesetz zu drei Wochen Dauerarrest verurteilt. Mit der Revision rügt der Angeklagte die Verletzung formellen und materiellen Rechts.
II.
Die Revision hat mit der Verfahrensrüge Erfolg.
1.
Der mittelose, zur Zeit der Hauptverhandlung 17 Jahre alte Angeklagte stammt aus K. und hält sich seit Juni 2001 als Asylbewerber in Baden-Württemberg auf. Die der angefochtenen Entscheidung zugrundeliegenden Anklageschriften der Staatsanwaltschaft Tübingen vom 01. Oktober 2002, 13. November 2002 und 25. November 2002 sind ihm in deutscher Sprache mitgeteilt worden. In der Hauptverhandlung vom 3. Dezember 2002 wurden sie mündlich in die englische Sprache, die er nur teilweise beherrscht, übersetzt. Das Amtsgericht hat sodann das Hauptverfahren auch bezüglich der beiden zuletzt genannten Anklagen eröffnet und die Strafsachen zur gemeinsamen Verhandlung und Entscheidung verbunden. Eine Belehrung des Angeklagten über die Möglichkeit, die Aussetzung der Hauptverhandlung zu beantragen, ist nicht erfolgt.
Dieses Verfahren beanstandet der Angeklagte zu Recht; es entspricht nicht den Grundsätzen eines fairen Verfahrens.
Zunächst hätte dem Angeklagten im Zwischenverfahren eine in seine Muttersprache übersetzte Anklageschrift mitgeteilt werden müssen.
Die Anklageschrift (§ 200 StPO) hat eine doppelte Bedeutung: Sie bestimmt nicht nur den Prozessgegenstand, sondern dient auch der Information des Angeschuldigten. Dieser soll wissen, was ihm vorgeworfen wird, und ihn die Lage versetzen, seine Verteidigung darauf einzurichten und vorzubereiten (vgl. Meyer-Goßner, StPO, 46. Auflage, § 200 Rn. 2 m. w. N.). Nur die Mitteilung der Anklageschrift vor der Hauptverhandlung gemäß § 201 Abs. 1 StPO wahrt das Recht des Angeschuldigten aus Art. 6 Abs. 3 Buchstabe b MRK, über ausreichende Zeit und Gelegenheit zur Vorbereitung seiner Verteidigung zu verfügen (vgl. OLG Karlsruhe Justiz 1992, 131). Die Anklageschrift ist deshalb einem Ausländer, der die deutsche Sprache nicht hinreichend beherrscht, zugleich mit einer Übersetzung in eine ihm verständliche Sprache – in aller Regel seine Muttersprache – bekanntzugeben (vgl. BVerfGE 64, 135; Nr. 181 Abs. 2 der Richtlinien für das Strafverfahren und das Bußgeldverfahren – RiStBV –). Dies ist zwingend erforderlich und folgt sowohl aus dem Recht des Angeschuldigten aus Art 6 Abs. 3 Buchstabe a MRK, unverzüglich in einer für ihn verständlichen Sprache über die gegen ihn erhobenen Beschuldigungen in Kenntnis gesetzt zu werden, als auch seinem Anspruch aus Art. 6 Abs. 3 Buchstabe b MRK, seine Verteidigung gegebenenfalls unter Hinzuziehung eines Dolmetschers ausreichend vorbereiten zu können (vgl. OLG Düsseldorf VRS 100, 133 m. w. N.). Die unterbliebene Übersetzung der Anklageschrift im Zwischenverfahren konnte auch nicht durch deren Übersetzung in der Hauptverhandlung geheilt werden. Nur die Mitteilung der Anklageschrift schon vor der Hauptverhandlung wahrt nämlich das Recht jedes Angeklagten aus Art. 6 Abs. 3 Buchst. b MRK, über ausreichende Zeit und Gelegenheit zur Vorbereitung seiner Verteidigung zu verfügen (OLG Düsseldorf a. a. O.).
Darüber hinaus kann nicht unberücksichtigt bleiben, dass der Angeklagte zur Zeit der Hauptverhandlung erst 17 Jahre alt und nicht verteidigt war.
Auch wurde er in der Hauptverhandlung, in der hinsichtlich der Anklagen vom 13. und 25. November 2002 die Eröffnung des Hauptverfahrens beschlossen wurde, nicht über sein Recht, Aussetzung zu verlangen (§ 217 Abs. 2 StPO), belehrt (vgl. Meyer-Goßner aaO § 203 Rn. 3).
2.
Obgleich der Angeklagte dieses Verfahren in der Hauptverhandlung nicht beanstandet hat, ist er mit diese Verfahrensrüge nicht im Revisionsverfahren ausgeschlossen, denn er war nicht verteidigt (vgl. OLG Düsseldorf a. a. O.). Hat der Angeklagte einen Verteidiger, so kann von diesem erwartet werden, dass er den Verfahrensmangel (hier: das Fehlen einer schriftlichen Übersetzung der Anklageschrift) in der Hauptverhandlung rügt und Vertagung beantragt (vgl. BGH/H MDR 1978, 111, bei unterbliebener Mitteilung der Anklageschrift). Unterlässt er das, so kann der Angeklagte sich auf diesen Mangel im Revisionsverfahren nicht mehr berufen (BGH NStZ 1982, 125). Hier hatte der Angeklagte aber keinen Verteidiger. Deshalb ist er mit der Rüge des Verstoßes gegen das Gebot des fairen Verfahrens, der schon durch die Mitteilung des Verfahrensablaufs hinreichend belegt ist (vgl. BGHSt 32, 44, 46 = NJW 1984, 2228), nicht ausgeschlossen.
3.
10 
Auf diesem Verfahrensmangel kann das Urteil beruhen. Der Senat vermag nicht auszuschließen, dass der Angeklagte sich anders verteidigt hätte, wenn ihm die Anklageschriften schon vor der Hauptverhandlung mit Übersetzung in eine ihm verständliche Sprache bekannt gegeben worden wären.
III.
11 
Damit kann dahinstehen, ob der Angeklagte mit der weiteren Verfahrensrüge (unterlassene Verteidigerbestellung) und der Sachrüge durchgedrungen wäre.
12 
Für das weitere Verfahren weist der Senat jedoch darauf hin, dass nach derzeitigem Sachstand ein Fall notwendiger Verteidigung nicht vorliegen dürfte. Dass der Angeklagte im Falle der Anwesenheit eines Verteidigers in der Hauptverhandlung auf die fehlende Übersetzung der Anklagen nicht berufen könnte, ist von der Frage der Notwendigkeit eines Verteidigers zu trennen. Die Unkenntnis der deutschen Sprache und die Mittellosigkeit des Angeklagten gebieten für sich allein noch nicht die Beiordnung eines Pflichtverteidigers (vgl. BGHSt 46, 178; st. Rspr. OLG Stuttgart). Dem Angeklagten sind jedoch spätestens zusammen mit der Ladung zur neuen Hauptverhandlung die Anklagen und die Eröffnungsbeschlüsse (auch der am 3. Dezember 2002 verkündete) in übersetzter Form mitzuteilen. Außerdem wird sicherzustellen sein, dass in der Hauptverhandlung ein Dolmetscher für eine Sprache zugegen ist, die der Angeklagte ausreichend versteht. Offenbar spricht der Angeklagte die englische Sprache ebenfalls nur gebrochen.

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