Beschluss vom Oberlandesgericht Stuttgart - 1 Ss 137/06

Tenor

Auf die Revision des Angeklagten wird das Urteil des Landgerichts Ellwangen vom 24. Januar 2006 mit den Feststellungen aufgehoben .

Die Sache wird zu neuer Verhandlung und Entscheidung, auch über die Kostendes Rechtsmittels, an eine andere Strafkammer des Landgerichts zurückverwiesen .

Gründe

 
Das Landgericht hat die Berufung des Angeklagten, mit der er sich gegen seine Verurteilung durch das Amtsgericht Heidenheim wendete, verworfen. Die hiergegen gerichtete Revision des Angeklagten beanstandet die Verletzung des § 329 Abs. 1 Satz 1 StPO zu Recht.
I. Nach den Feststellungen blieb der Angeklagte der Berufungsverhandlung am 24. Januar 2006 fern, nachdem er dem Landgericht drei Atteste - ausgestellt von seinem Hausarzt, dem Zahnarzt und dem Neurologen - vorgelegt hatte. Der Hausarzt bescheinigte dem Angeklagten unter dem 20. Januar 2006, er sei am 24. Januar 2006 verhandlungsunfähig, da eine Vereiterung des gesamten Ober- und Unterkieferbereichs zu allgemeiner Schwäche, Essunfähigkeit, Schluck- und Sprechproblemen führe und mit der chronischen Erkrankung sowie dem reduzierten Allgemeinzustand des Angeklagten zusammenwirke. Der Neurologe attestierte am 23. Januar 2006 für den Folgetag ebenfalls Verhandlungsunfähigkeit, weil der Angeklagte schmerzgeplagt und wegen der entzündlichen bewegungseingeschränkten Mund-Kiefer-Region kaum in der Lage sei, zu sprechen. Nach dem Attest des Zahnarztes war der Angeklagte im Zeitraum vom 17. bis zum 27. Januar 2006 arbeitsunfähig.
Die Strafkammer hat die Entschuldigung als nicht ausreichend erachtet. Sie hat vor dem Hintergrund des langwierigen Berufungsverfahrens - beim 24. Januar 2006 handelte es sich um den 4. Verhandlungstermin - angenommen, der Angeklagte versuche „seine chronischen Grunderkrankungen zusammen mit den akuten gesundheitlichen Beeinträchtigungen gezielt dazu einzusetzen, das Verfahren zu verschleppen“. Er sei nicht verhandlungsunfähig, weil bei der Teilnahme an einer Hauptverhandlung keine Lebensgefahr oder schwerwiegende Dauerschäden zu befürchten seien. Da die Berufung auf den Rechtsfolgenausspruch beschränkt gewesen sei und die Sitzung nur etwa 1 ½ Stunden gedauert hätte, sei es ihm trotz seiner chronischen Grunderkrankung und der hinzukommenden akuten Erkrankung möglich und zumutbar gewesen, zu erscheinen.
II. Das Landgericht hat bei der Beurteilung der Frage, ob der Angeklagte verhandlungsunfähig war, einen unzutreffenden Maßstab angelegt und dadurch an den Begriff der genügenden Entschuldigung im Sinne von § 329 Abs. 1 S. 1 StPO überhöhte Anforderungen gestellt.
1. Verhandlungsfähigkeit bedeutet, dass der Angeklagte in der Lage sein muss, seine Interessen vernünftig wahrzunehmen, die Verteidigung in verständiger und verständlicher Form zu führen, Prozesserklärungen abzugeben und entgegenzunehmen (BVerfG NStZ-RR 1996, 38; BGH NStZ 1996, 242; Pfeiffer in KK-StPO 5. Aufl. Einl. Rn 126 m. w. N.).
Die Anforderungen an die Verhandlungsfähigkeit entziehen sich einer pauschalen Festlegung; sie sind je nach Verfahrensart und Verfahrenslage unterschiedlich. Steht die Beurteilung der Verhandlungsfähigkeit in den Tatsacheninstanzen in Rede, können sie nicht niedrig bemessen werden, weil die Einlassung des Angeklagten wesentliches Beweismittel ist, er selbst Anträge stellen und Zeugen befragen kann, vor Entscheidungen des Gerichts neben seinem Verteidiger gehört wird sowie sich persönlich - etwa zu strafzumessungserheblichen Umständen und im letzten Wort - äußern kann. Diese Rechte geben ihm die Möglichkeit, das Verfahren unabhängig von der Verteidigung mitzugestalten und sich zu verteidigen (BGH NStZ 1996, 242); sie können durch gesundheitliche Beeinträchtigungen in unterschiedlichem Umfang tangiert werden.
Ebenso wenig wie eine Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung automatisch die Verhandlungsunfähigkeit einschließt, führt nicht jede Erkrankung zur Verhandlungsunfähigkeit eines Angeklagten. Bei der Überprüfung der Verhandlungsfähigkeit kommt es nicht allein auf die medizinische Schwere einer Gesundheitsstörung an. Entscheidend ist vielmehr, in welchem Ausmaß eine Erkrankung die einem Angeklagten in der konkreten Verfahrenssituation zu gewährleistenden Mitwirkungsmöglichkeiten beeinträchtigt. Des weiteren hat das Gericht die Schwierigkeit des Verhandlungsgegenstands und den jeweiligen Verfahrensstand in seine Beurteilung einzubeziehen (BGH StV 1989, 239, 240; Rieß in Löwe/Rosenberg, StPO 25. Aufl. § 205 Rn 14 a, 15; Julius in HK-StPO 3. Aufl. § 205 Rn 4). Gleiches gilt, wenn ein Angeklagter im Strafbefehlsverfahren (vgl. § 412 S. 1 StPO) oder ein Betroffener im Verfahren wegen Ordnungswidrigkeiten (vgl. § 74 Abs. 2 OwiG) unter Berufung auf seine Verhandlungsunfähigkeit ausbleibt.
Soweit bei der Prüfung der Verhandlungsfähigkeit ein großzügigerer Maßstab angelegt wird, gilt dies für das Revisionsverfahren (dazu BVerfG NStZ 1995, 391; BGHSt 41, 16; 41, 69, 71) oder betrifft geistige, körperliche oder psychische Beeinträchtigungen, die die Fähigkeit zur Wahrnehmung der Verteidigungsrechte dauerhaft oder über einen längeren Zeitraum hinweg einschränken (vgl. OLG Düsseldorf NJW 1998, 395; BayObLG NStZ 1989, 131).
Davon ausgehend begründen die von zwei Ärzten bescheinigten erheblichen Einschränkungen der Sprechfähigkeit hier ernste Zweifel an der Verhandlungsfähigkeit des Angeklagten. Denn eine eigene Darstellung der die Person und die Lebenssituation prägenden Umstände konnte für eine neue Strafzumessung - und damit für den Kerngegenstand der auf den Rechtsfolgenausspruch beschränkten Berufung sowie die Entscheidungsgrundlage des Gerichts - erhebliche Bedeutung gewinnen. Diese Frage braucht indes hier nicht abschließend entschieden zu werden. Denn wenn das Landgericht sich auf eine Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts (NJW 2002, 51) beruft und danach davon ausgeht, gegen einen Beschuldigten dürfe das Strafverfahren nur dann nicht betrieben werden, wenn und solange dadurch die konkrete Gefahr für das Leben oder einer schwerwiegenden Gesundheitsschädigung bestehe, legt es jedenfalls eine hier nicht einschlägige Sonderform der Verhandlungsunfähigkeit zugrunde: In dem von der Strafkammer angeführten Ausnahmefall ist ein Angeklagter zur Interessenwahrnehmung in der Lage, wegen der mit einer Verhandlung verbundenen Gesundheitsgefährdung ist ihm diese jedoch nicht zumutbar (vgl. Rieß aaO § 205 Rn 17). Diese Konstellation ist auf den hier zu beurteilenden Fall, bei dem gerade die Fähigkeit des Angeklagten zur Wahrnehmung seiner Interessen in Rede steht, nicht übertragbar.
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2. Die unzutreffende Beurteilung der Verhandlungsfähigkeit hat zur rechtsfehlerhaften Annahme, der Angeklagte sei nicht genügend entschuldigt, geführt.
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Nach einhelliger obergerichtlicher Rechtsprechung ist § 329 Abs. 1 S. 1 StPO eine eng auszulegende Ausnahmevorschrift, die sich bei der Frage der genügenden Entschuldigung in Zweifelsfällen zu Gunsten des Angeklagten auswirkt (OLG Stuttgart Justiz 2004, 126 m. zahlr. N.; BayObLG StV 2001, 338). Entscheidend ist nicht, ob er sich genügend entschuldigt hat, sondern ob er genügend entschuldigt ist. Für die Klärung dieser Rechtsfrage kommt es allein auf die wirkliche Sachlage an; dem Berufungsgericht steht dabei kein Ermessensspielraum zu (OLG Karlsruhe StraFo 1999, 25; OLG Düsseldorf StV 1987, 9; Ruß in KK-StPO 5. Aufl. § 329 Rn 8). Es ist gehalten, bei Anhaltspunkten für ein berechtigtes Fernbleiben von Amts wegen im Wege des Freibeweises, etwa durch Heranziehung eines Sachverständigen, Erkundigungen beim behandelnden Arzt oder durch eine amtsärztliche Untersuchung zu klären, ob das Ausbleiben genügend entschuldigt ist (BayObLG aaO; OLG Hamm NStZ-RR 1998, 281; OLG Celle StraFo 1997, 79).
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Diesen Grundsätzen wird das angefochtene Urteil nicht gerecht:
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Die Ausführungen des Landgerichts lassen besorgen, es sei davon ausgegangen, eine Erkrankung entschuldige einen Angeklagten erst dann, wenn sie zur Verhandlungsunfähigkeit führt. Dies ist nicht der Fall; es genügt vielmehr, wenn die Teilnahme an der Hauptverhandlung wegen der Erkrankung unzumutbar ist (OLG Düsseldorf NStZ 1984, 331; StV 1987, 9; OLG Hamm aaO; Gössel in Löwe/Rosenberg, StPO 25. Aufl. § 329 Rn 36 m. w. N.). In die Beurteilung dieser Frage hätte das Landgericht die Einschränkung der Verteidigungsmöglichkeiten sowie die Bedeutung der Strafsache erkennbar einfließen lassen müssen (OLG Düsseldorf NJW 1973, 110; OLG Stuttgart Justiz 1988, 216; Frisch in SK-StPO § 329 Rn 20, 23; Gössel aaO Rn 33); diese waren - unabhängig von der voraussichtlichen Hauptverhandlungsdauer - mit Blick auf die oben dargestellten Erwägungen sowie darauf, dass sich das Rechtsmittel gegen die Verhängung einer mehrjährigen Freiheitsstrafe ohne Bewährung richtete, nicht gering zu veranschlagen.
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Im übrigen erbrachte die vom Landgericht im Rahmen seiner Aufklärungspflicht eingeholte Auskunft beim Zahnarzt keine weiteren Erkenntnisse. Nahe liegende Kontaktaufnahmen mit dem Hausarzt oder dem Neurologen unterblieben.
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Die Verfahrensgeschichte - wie dargelegt handelte es sich um den 4. Verhandlungstermin - enthob das Gericht nicht seiner Pflicht, den Zweifeln an einer genügenden Entschuldigung nachzugehen. Ob ein Absenken der hohen Anforderungen an die tatrichterliche Prüfungspflicht und Überzeugungsbildung, ob ein das Ausbleiben genügend entschuldigender Sachverhalt vorliegt (zusammenfassend Frisch aaO § 329 Rn 35; Ruß aaO Rn 8 ff; jew. m. w. N.), in Ausnahmefällen, etwa wenn feststeht, dass ein Angeklagter wiederholt eine Entschuldigung nur vorgetäuscht hat, in Betracht kommt, braucht der Senat hier nicht zu entscheiden. Regelmäßig wird sich aus dem Verfahrensablauf für die Beantwortung der allein entscheidungserheblichen Frage, ob ein Angeklagter am Hauptverhandlungstag entschuldigt ist, nichts herleiten lassen.
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So liegt es - entgegen der Auffassung des Landgerichts - auch hier. Das Vorbringen des Angeklagten, zum ersten Verhandlung am 17. April 2005 nicht erscheinen zu können, wurde amtsärztlich bestätigt; ein weiterer Hauptverhandlungstermin im August 2005 musste wegen der Mandatsniederlegung des Verteidigers, ein dritter Termin im November 2005 wegen eines akuten Infekts aufgehoben werden. Auch das vom Landgericht verwertete Gutachten führt nicht weiter, weil es sich auf die Fragestellung beschränkt, ob die Grunderkrankungen des Angeklagten zur Verhandlungsunfähigkeit führen, die davon unabhängigen gewichtigen Hinweise auf aktuell hinzugetretene gravierende Beeinträchtigungen aber nicht behandelt.
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Nach allem hätte die Strafkammer das Ausbleiben des Angeklagten entweder als genügend entschuldigt ansehen oder im Wege des Freibeweises weiter klären müssen, ob es sich lediglich um zum Zweck der Verfahrensverschleppung vorgeschobene Entschuldigungsgründe handelt. Der Fehler führt zur Aufhebung des angefochtenen Urteils. Eine Einstellung des Verfahrens nach § 206 a StPO kommt selbst im Falle unterstellter vorübergehender Verhandlungsunfähigkeit des Angeklagten nicht in Betracht, da nichts dafür spricht, dass seine Verhandlungsfähigkeit auf Dauer entfallen ist (BGH NStZ 1996, 242).

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