Beschluss vom Oberlandesgericht Stuttgart - 2 Ws 214/06

Tenor

Auf die sofortige Beschwerde des Verurteilten wird der Beschluss des Landgerichts - Strafvollstreckungskammer - Ulm vom 8. September 2006

aufgehoben,

soweit die Strafaussetzung zur Bewährung aus dem Beschluss des Amtsgerichts Neu-Ulm vom 22. April 1998 widerrufen worden ist.

Die Gesamtstrafen von 1 Jahr und von 8 Monaten aus dem Gesamtstrafenbeschluss des Amtsgerichts Neu-Ulm vom 22. April 1998 werden nach Ablauf der Bewährungszeit

erlassen.

Die weitergehende Beschwerde wird als unbegründet

verworfen.

Der Beschwerdeführer trägt die Kosten des Beschwerdeverfahrens, allerdings wird die Beschwerdegebühr auf 1/4 ermäßigt. Der Staatskasse werden 3/4 der gerichtlichen Auslagen und 3/4 der dem Beschwerdeführer im Beschwerdeverfahren entstandenen notwendigen Auslagen auferlegt.

Gründe

 
I.
Weil der Verurteilte innerhalb der Bewährungszeiten straffällig geworden ist, hat die Strafvollstreckungskammer mit der angefochtenen Entscheidung die Strafaussetzungen zur Bewährung widerrufen, die dem Verurteilten
- mit Beschluss des Amtsgerichts Neu-Ulm vom 22. April 1998 und
mit Beschluss des Landgerichts Ulm vom 9. Mai 2003 gewährt worden sind.
Die zulässig, insbesondere fristgerecht eingereichte sofortige Beschwerde des Verurteilten hat teilweise Erfolg.
II.
Die sofortige Beschwerde ist begründet, soweit die mit Gesamtstrafenbeschluss des Amtsgerichts Neu-Ulm vom 22. April 1998 gewährten Strafaussetzungen widerrufen worden sind.
1. Mit diesem - seit 6. Mai 1998 rechtskräftigen - Beschluss hatte das Amtsgericht Neu-Ulm zwei Gesamtstrafen von 8 Monaten und von 1 Jahr Freiheitsstrafe gebildet und daneben eine Geldstrafe bestehen lassen. Grundlage für die Entscheidung waren folgende Erkenntnisse gewesen:
- Urteil des Amtsgerichts Neustadt vom 16. Dezember 1994, 5 Monate Freiheitsstrafe zur Bewährung wegen bis Dezember 1994 begangener Unterhaltspflichtverletzung,
- Strafbefehl des Amtsgerichts Neu-Ulm vom 16. Januar 1996, Geldstrafe von 20 Tagessätzen zu je 100 DM wegen einer am 17. August 1995 begangenen Beleidigung,
- Urteil des Amtsgerichts Ulm vom 11. Juni 1996, 5 Monate Gesamtfreiheitsstrafe zur Bewährung wegen zweier am 10. und am 14. Juli 1995 begangener Betrugstaten (Einzelstrafen 2 Monate und 4 Monate Freiheitsstrafe),
- Urteil des Amtsgerichts Neu-Ulm vom 22. Juli 1996, 1 Jahr Gesamtfreiheitsstrafe zur Bewährung wegen Betrugs in drei Fällen (Tatzeiten November 1993, Juni 1995 und Juli 1995), Einzelstrafen drei Mal jeweils 6 Monate Freiheitsstrafe.
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Die beiden Gesamtfreiheitsstrafen wurden zur Bewährung ausgesetzt; die Bewährungszeit war zunächst auf 5 Jahre festgesetzt worden. Zugleich war dem Verurteilten unter anderem aufgegeben worden, zusätzlich zu der bereits im Verfahren des Amtsgerichts Ulm (Urteil vom 11. Juni 1996) bezahlten Geldbuße weitere 500,-- DM an den Verein Frauen helfen Frauen e.V. Ulm zu entrichten. Diese Auflage hat der Verurteilte bis Juni 2002 erfüllt (vgl. Bl. 150 Bewährungsheft 10 StVK 346/2003).
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2. Weil der Verurteilte am 28. September 1998, also innerhalb der Bewährungszeit, tateinheitlich zwei Betrugstaten begangen hatte, wurde er mit Urteil des Amtsgerichts Ulm vom 29. Februar 2000 zu der Freiheitsstrafe von 8 Monaten verurteilt. Die Vollstreckung dieser Strafe wurde zur Bewährung ausgesetzt, weil der Verurteilte zwischen Tat und Urteil (vom 11. Januar 1999 bis zum 22. Juli 1999) erstmals Strafhaft verbüßt hatte.
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Wegen dieses Bewährungsbruchs verlängerte das Amtsgericht Neu-Ulm mit Beschluss vom 20. Juni 2000 die Bewährungszeit um 1 Jahr 6 Monate bis zum 5. November 2004.
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3. Am 24. Oktober 2000 wurde das Urteil des Amtsgerichts Neu-Ulm vom 5. August 1999 rechtskräftig, mit dem der Verurteilte wegen Betrugs zu der Freiheitsstrafe von 6 Monaten verurteilt worden war. Der Verurteilte hatte am 1. April 1998 betrügerisch den Auftrag erteilt, Bilder herzustellen, die ihm am 3. April 1998 übergeben worden sind.
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Diese Verurteilung nahm das Amtsgericht Neu-Ulm zum Anlass, die Bewährungszeit am 14. Januar 2002 um ein weiteres Jahr zu verlängern. Der Beschluss ist dem Beschwerdeführer mit der Belehrung zugestellt worden, er könne hiergegen - einfache - Beschwerde einlegen.
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4. Durch Urteil des Amtsgerichts Ulm vom 13. Januar 2004 wurde der Beschwerdeführer wegen zweier am 20. Juni und am 28. August 2002 begangener Betrugstaten zu der Gesamtfreiheitsstrafe von 7 Monaten verurteilt. Die Vollstreckung dieser Straftaten wurde zur Bewährung ausgesetzt, da der Verurteilte sich nach Tatbegehung vom 12. November 2002 bis zum 20. Juni 2003 in Strafhaft befunden hatte. Die inzwischen für die Bewährungsaufsicht zuständige Strafvollstreckungskammer Ulm sah im Juli 2004 ausdrücklich davon ab, wegen dieser Verurteilung die Bewährung zu widerrufen oder andere Maßnahmen im Rahmen der Bewährungsaufsicht zu treffen, da die am 13. Januar 2004 abgeurteilten Taten bereits zwei Jahre zurück lagen und die Strafvollstreckungskammer davon ausging, die nach diesen Taten verbüßte Strafhaft habe den Verurteilten beeindruckt.
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5. Unter Einbeziehung der Einzelstrafen aus dem vorgenannten Urteil des Amtsgerichts Ulm vom 13. Januar 2004 wurde der Verurteilte durch Urteil des Amtsgerichts Ulm vom 27. September 2005 in Verbindung mit dem Berufungsurteil des Landgerichts Ulm vom 14. März 2006 wegen Betrugs zu der Gesamtfreiheitsstrafe von 8 Monaten und wegen Volksverhetzung, Beleidigung, versuchter Erpressung, Betrugs in 2 Fällen und Verletzung gewerberechtlicher Vorschriften zu der weiteren Gesamtfreiheitsstrafe von 2 Jahren 6 Monaten verurteilt. Diese Entscheidung ist rechtskräftig seit dem 31. August 2006. Folgende Straftaten wurden mit diesem Urteil abgeurteilt:
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- am 7. Dezember 2002 betrügerische Erlangung eines Darlehens in Höhe von 2.000,-- EUR
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- am 3. Februar 2004 betrügerische Bestellung von Tapeten im Wert von 255,27 EUR
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- am 9. Februar 2004 betrügerische Bestellung von Visitenkarten im Wert von 698,09 EUR
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- eine am 1. Mai 2004 begangene Beleidigung
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- in der Zeit bis Juni 2004 Volksverhetzung durch Herstellen des Klebeumbruchs eines Buches, dessen Herausgabe er plante und in welchem der Holocaust verharmlost wurde
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- eine am 19. Juni 2004 begangene versuchte Erpressung
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- in der Zeit zwischen April 2005 und September 2005 Verstoß gegen die Gewerbeordnung.
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Die angefochtene Entscheidung stützt den Bewährungswiderruf auf die diesem Urteil zu Grunde liegenden Taten.
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6. Der Widerruf der Strafaussetzung zur Bewährung aus dem Gesamtstrafenbeschluss des Amtsgerichts Neu-Ulm vom 22. April 1998 verstößt gegen den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit.
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Zwar ist eine Verhältnismäßigkeitsprüfung im Rahmen des § 56 f StGB in der Literatur nicht unumstritten. Allerdings enthält bereits § 56 f Abs. 2 StGB eine Konkretisierung des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes. Darüber hinaus muss in seltenen Ausnahmefällen auf das verfassungsrechtliche Verhältnismäßigkeitsprinzip zurückgegriffen und auf eine Reaktion nach § 56 f StGB verzichtet werden (so auch Groß in Münchner Kommentar StGB, § 56 f Rdn. 21 m. w. N., Zweibrücken MDR 1989, 477; Hamm, 3 Ws 342/02, www.burhoff.de). Ein solcher Ausnahmefall liegt hier vor.
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a) Die am 14. Januar 2002 beschlossene Verlängerung der Bewährungszeit war rechtswidrig; denn sie stützte sich auf Straftaten, die der Verurteilte vor Erlass des Gesamtstrafenbeschlusses vom 22. April 1998 begangen hat. Dies ist nach inzwischen einhelliger Meinung in Rechtsprechung und Literatur nicht zulässig (vgl. OLG Stuttgart, StV 2003, 346; Tröndle/Fischer, StGB, 53. Auflage, § 56 f Rdn. 3a m. w. N.; soweit die Staatsanwaltschaft Memmingen in ihrer Stellungnahme vom 2. November 2006 auf die Entscheidung des 1. Strafsenats des Oberlandesgerichts Stuttgart vom 28. Mai 1984 verweist, hat dieser seine frühere Rechtsprechung inzwischen aufgegeben, vgl. Die Justiz 1989, 19 f).
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Vorliegend darf der materiell rechtsfehlerhafte Verlängerungsbeschluss bei der - im Beschwerdeverfahren implizit zu prüfenden - Frage, wann die Bewährungszeit endete nicht berücksichtigt werden. Dies gilt (unabhängig davon, ob der Beschwerdeführer die Verlängerungsentscheidung ausdrücklich angefochten hat) zumindest dann, wenn die Verlängerung der Bewährungszeit - wie hier - von dem Beschwerdeführer mit der einfachen Beschwerde angefochten werden kann und daher nicht rechtskraftfähig ist. Die Bewährungszeit endete somit bereits am 5. November 2004.
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b) Der Widerruf der Strafaussetzung zur Bewährung ist zum jetzigen Zeitpunkt nicht mehr verhältnismäßig.
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Zwar hat der Beschwerdeführer innerhalb der - am 5. November 2004 endenden - Bewährungszeit erneut erhebliche Straftaten begangen. Auch steht dem Widerruf der Bewährung weder - für sich allein - der Umstand entgegen, dass die Bewährungszeit bereits abgelaufen ist, noch der Gesichtspunkt des Vertrauensschutzes. Ein solcher kommt dem Beschwerdeführer nicht zu, da er - fälschlicherweise - davon ausgegangen war, die Bewährungszeit ende erst am 5. November 2005 und er bereits mit Schreiben vom 21. Dezember 2005 und erneut mit Schreiben vom 11. April 2006 zur Frage des Widerrufs der Bewährung schriftlich angehört worden ist.
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Andererseits fällt im Rahmen einer Verhältnismäßigkeitsprüfung erheblich ins Gewicht, dass die den zu widerrufenden Gesamtfreiheitsstrafen aus dem Beschluss des Amtsgerichts Neu-Ulm vom 22. April 1998 zugrunde liegenden Taten in der Zeit zwischen dem 18. November 1993 und dem 18. Juli 1995 begangen worden sind. Sie liegen also mehr als 11 Jahre, teilweise sogar 13 Jahre zurück. Der Verurteilte war schon vor Erlass des Gesamtstrafenbeschlusses vom 22. April 1998 wegen der diesem Beschluss zugrunde liegenden Taten seit dem Jahr 1995 unter Bewährung gestanden aufgrund des Urteils des Amtsgerichts Neustadt vom 16. Dezember 1994. Dies hat eine faktische Bewährungszeit von mehr als 9 Jahren zur Folge. Legte man die Verlängerungsentscheidung vom 14. Januar 2002 zugrunde, wären es sogar rund 10 1/4 Jahre.
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Die Bewährungszeit aus dem Gesamtstrafenbeschluss des Amtsgerichts Neu-Ulm ist inzwischen seit mehr als 2 Jahren abgelaufen. Das Urteil des Amtsgerichts Ulm vom 27. September 2005 wurde zwar erst am 31. Oktober 2006 rechtskräftig. Die Taten, die Anlass für einen Widerruf bilden könnten, hat der Verurteilte allerdings in der Zeit bis Juni 2004 begangen. Es ist nicht ersichtlich, dass ein zeitnaher Widerruf an Umständen gescheitert ist, die dem Verurteilten anzulasten sind, zumal dem Urteil des Landgerichts Ulm vom 14. März 2006 entnommen werden kann, dass der Beschwerdeführer - jedenfalls was den gravierenden Tatvorwurf der Volksverhetzung betrifft - bei den Ermittlungen sofort zur Zusammenarbeit mit der Polizei bereit gewesen ist.
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In Anbetracht dieser Gesamtumstände hält es der Senat für unverhältnismäßig, zum gegenwärtigen Zeitpunkt die Bewährung noch zu widerrufen. Deshalb ist die angefochtene Entscheidung aufzuheben, soweit die Bewährungen aus dem Gesamtstrafenbeschluss des Amtsgerichts Neu-Ulm vom 22. April 1998 widerrufen worden sind.
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Gleichzeitig ist der für diesen Fall gem. § 56 g Abs. 1 Satz 1 StGB vorgesehene Straferlass auszusprechen. Zwar kann in Einzelfällen der Prüfungsumfang im Rahmen des Straferlasses ein anderer sein als bei der Frage der Strafaussetzung zur Bewährung. Vorliegend ist die Sache jedoch entscheidungsreif; eine andere Entscheidung als der Straferlass ist ausgeschlossen. Wie ausgeführt, kommt ein Widerruf der Strafaussetzung zur Bewährung nicht mehr in Betracht; auch eine nachträgliche Verlängerung der Bewährungszeit ist nicht mehr möglich, da die längstmögliche Bewährungszeit von 7 ½ Jahren längst verstrichen ist.
III.
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Dagegen ist die sofortige Beschwerde unbegründet, soweit sie sich gegen den Widerruf der Strafaussetzung zur Bewährung aus dem Beschluss des Landgerichts Ulm vom 9. Mai 2003 wendet.
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Durch die dem Urteil des Amtsgerichts Ulm vom 27. September 2005 zugrunde liegenden innerhalb der Bewährungszeit begangenen Taten hat der Verurteilte gezeigt, dass die Erwartung, die der Strafaussetzung zur Bewährung zugrunde lag, sich nicht erfüllt hat.
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Mildere Maßnahmen als der Widerruf der Strafaussetzung zur Bewährung kommen insofern nicht in Betracht. Anders als in Bezug auf den Gesamtstrafenbeschluss des Amtsgerichts Neu-Ulm vom 22. April 1998 liegen hier auch keine gravierenden Umstände vor, die einen Widerruf als unverhältnismäßig erscheinen ließen.
IV.
38 
Die Kostenentscheidung beruht auf § 473 Abs. 4 StPO.

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