Beschluss vom Oberlandesgericht Stuttgart - 1 Ausl 218/15

Tenor

Es wird festgestellt, dass die Voraussetzungen für die Leistung von Rechtshilfe aufgrund des Ersuchens des Schwerstrafgerichts Bakirköy-Istanbul, 11. Kammer, vom 28. Juli 2014

v o r l i e g e n .

Gründe

 
I.
Das türkische Generalkonsulat in Stuttgart hat mit Schreiben vom 18. November 2014 ein Rechtshilfeersuchen des Schwerstrafgerichts Bakirköy-Istanbul, 11. Kammer, vom 28. Juli 2014 übermittelt. Dem Ersuchen liegt ein Strafverfahren gegen mehrere Angeklagte, darunter gegen die deutsche Staatsangehörige H. zugrunde. Mit Anklageschrift der Hauptstaatsanwaltschaft zu Bakirköy vom 13. März 2013 (Az. 2013-749) wird der Angeklagten und 15 weiteren Personen zur Last gelegt, bis zum 26. Juni 2005 als Mitglieder einer Organisation, die zum Zwecke der Begehung von Taten des Exports von Betäubungsmitteln gegründet wurde, mit Betäubungsmitteln Handel getrieben zu haben. Die Angeklagte H. wird beschuldigt, in der Zeit von Februar 2005 bis April 2005 in mehreren Fällen bei in der Türkei wohnhaften Mitangeklagten Heroin gekauft zu haben. Das Schwerstrafgericht Bakirköy-Istanbul, 11. Kammer, bittet im Wege der Rechtshilfe um Vernehmung der in Deutschland lebenden Angeklagten zu der gegen sie erhobenen Anklage.
Das Landgericht Tübingen hat am 26. November 2014 die Rechtshilfe bewilligt und die Sache mit Schreiben vom 26. Januar 2015 an das für die Vornahme der Rechtshilfehandlung zuständige Amtsgericht Reutlingen übersandt.
Das Amtsgericht Reutlingen hat am 8. Juni 2015 beschlossen, die Sache gemäß § 61 Abs. 1 IRG dem Oberlandesgericht zur Entscheidung vorzulegen. Es vertritt die Auffassung, dass die Leistung von Rechtshilfe unzulässig sei. Die Vernehmung der Angeklagten würde gegen das Doppelbestrafungsverbot verstoßen, da die Angeklagte aufgrund derselben Vorwürfe bereits durch Urteil des Amtsgerichts Reutlingen vom 19. Dezember 2005 zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von zwei Jahren und sechs Monaten verurteilt wurde. Darüber hinaus laufe die erbetene Rechtshilfe ins Leere, weil eine spätere Auslieferung der Angeklagten aufgrund ihrer deutschen Staatsangehörigkeit nur im Rahmen des § 80 Abs. 1 Nr. 1 IRG in Betracht käme, was zu einer neuerlichen Strafvollstreckung in Deutschland und damit faktisch eben doch zu einer Doppelbestrafung führen würde.
Die Generalstaatsanwaltschaft Stuttgart hat mit Schreiben vom 1. Juli 2015 die Akten vorgelegt und erklärt, dass vor dem Hintergrund des § 9 IRG und dem Umstand, dass eine Auslieferung wegen der deutschen Staatsangehörigkeit der Angeklagten weder zur Strafverfolgung noch zur Strafvollstreckung zulässig sein dürfte, die Zulässigkeit der beantragten Beschuldigtenvernehmung zumindest fraglich sein dürfte.
II.
Die Vorlage der Sache durch das Amtsgericht Reutlingen ist nach § 61 Abs. 1 Satz 1 IRG zulässig. Entgegen der Auffassung des Amtsgerichts liegen die Voraussetzungen für die Leistung von Rechtshilfe vor.
1.
Rechtsgrundlage für die Gewährung von Rechtshilfe ist vorliegend Art. 1 Abs. 1 EuRhÜbK, vgl. § 1 Abs. 3 IRG. Unter diese Rechtshilfeverpflichtung fällt auch die Vernehmung einer deutschen Staatsangehörigen, gegen die in der Türkei Anklage erhoben wurde, durch einen deutschen Richter (vgl. OLG Celle, Beschluss vom 5. Februar 2013, 1 Ausl 60/12, juris Rn. 9; OLG Karlsruhe, NJW 1990, 2208, zitiert nach juris; OLG Köln, Beschluss vom 12. Februar 2004, Ausl 25/04, zitiert nach juris).
2.
Grundsätzlich umfasst der Sachverhalt, aufgrund dessen die Angeklagte - zusammen mit ihrem damaligen Ehemann V. H. - vom Amtsgericht Reutlingen am 19. Dezember 2005 wegen jeweils zehn Verbrechen des gemeinschaftlichen unerlaubten Handeltreibens mit Betäubungsmitteln in nicht geringer Menge in Tateinheit mit je einem Verbrechen des gemeinschaftlichen unerlaubten Besitzes von Betäubungsmitteln in nicht geringer Menge, wobei die Taten aufgrund von Betäubungsmittelabhängigkeit begangen wurden, zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von zwei Jahren und sechs Monaten verurteilt wurde, auch die Taten, die - hinsichtlich der Angeklagten H. - der Anklageschrift der Hauptstaatsanwaltschaft zu Bakirköy vom 13. März 2013 zugrunde liegen. Entscheidend ist insoweit der gleiche Lebenssachverhalt und nicht die jeweils unterschiedliche rechtliche Würdigung der Ereignisse nach deutschem und nach türkischem Recht. Der Strafklageverbrauch steht der Leistung von Rechtshilfe vorliegend aber nicht entgegen.
Nach deutschem Recht verbürgt Art. 103 Abs. 3 GG den Grundsatz der Einmaligkeit der Strafverfolgung (vgl. Schomburg in Schomburg/Lagodny/Gleß/Hackner, Internationale Rechtshilfe in Strafsachen, 5. Auflage, Exkurs vor Art. 54 SDÜ, Rn. 5, S. 1667), verwehrt wird hierdurch grundsätzlich allerdings nur eine mehrmalige Verurteilung eines Straftäters durch deutsche Gerichte (BVerfGE 75, 1, juris Rn. 37; BVerfG, Beschluss vom 15. Dezember 2011, 2 BvR 148/11, juris Rn. 32). Art. 103 Abs. 3 GG i.V.m. § 59 Abs. 3 IRG hindert die Leistung von Rechtshilfe daher nicht, da vorliegend nicht das Verhältnis zwischen deutschen Gerichten betroffen ist. § 59 Abs. 3 IRG soll gewährleisten, dass die gesetzlichen Beschränkungen, die für innerdeutsche Verfahren gelten (wie die Einschränkungen bei Zwangsmaßnahmen, Beschlagnahmeverbote, Beachtung des Steuergeheimnisses u. ä.), auch bei der Leistung von Rechtshilfe für ausländische Staaten Beachtung finden (vgl. Lagodny in Schomburg/Lagodny/Gleß/Hackner, a.a.O., § 59 IRG, Rn. 31). Daraus kann jedoch nicht abgeleitet werden, es sei nur für solche ausländischen Verfahren Rechtshilfe zu leisten, die der deutschen Strafprozessordnung entsprechen (OLG Frankfurt, Beschluss vom 18.10.2000, 2 Ausl II 25/00, juris Rn. 6). Im Rechtshilferecht entscheidet über die Wirksamkeit eines Verfahrensaktes vielmehr das Recht, in dessen Geltungsbereich dieser Verfahrensakt vorgenommen wurde (OLG Celle, a.a.O., juris Rn. 11). Dies ist vorliegend das türkische Recht, auf dessen Grundlage das Schwerstrafgericht Bakirköy-Istanbul, 11. Kammer, entschieden hat, die Angeklagte in Deutschland richterlich vernehmen zu lassen. Diese Entscheidung - sowie die spätere Verwertbarkeit dieser Vernehmung - ist der Nachprüfung durch deutsche Stellen entzogen (OLG Celle, a.a.O., juris Rn. 11).
Eine umfassende Geltung des Grundsatzes ne bis in idem war bei Inkrafttreten des Grundgesetzes nicht anerkannt; vielmehr bezog sich dieser Grundsatz ausschließlich auf innerstaatliche Sachverhalte (BVerfG, Beschluss vom 4. Dezember 2007, 2 BvR 38/06, juris Rn. 11f.). Eine entsprechende Regel des Völkerrechts im Sinne des Art. 25 Satz 1 GG ist auch heute nicht feststellbar (BVerfGE 75, 1, juris Rn. 59; BVerfG, Beschluss vom 4. Dezember 2007, 2 BvR 38/06, juris Rn. 21; BVerfG, Beschluss vom 15. Dezember 2011, 2 BvR 148/11, juris Rn. 31; OLG Nürnberg, Beschluss vom 19. März 2014, 2 Ws 98/14, juris Rn. 26; Schomburg in Schomburg/Lagodny/Gleß/Hackner, a.a.O., Art. 54 SDÜ, Rn. 3). Vielmehr sehen Staaten gerade die Ausgestaltung und Ausübung ihrer Strafgewalt als wesentliches souveränes Recht an (BVerfG, Beschluss vom 4. Dezember 2007, 2 BvR 38/06, juris Rn. 30).
3.
10 
Von der Frage der Zulässigkeit der Rechtshilfeleistung in Form der Vernehmung der Angeklagten durch ein deutsches Gericht ist die (sich möglicherweise anschließende) Frage der Auslieferung der Angeklagten an die Türkei zu unterscheiden. Hierfür gelten gesonderte Vorschriften, insbesondere Art. 9 EuAlÜbk, der einer Mehrfachverfolgung durch beide Vertragsstaaten in Form eines Auslieferungshindernisses entgegenwirken soll, wenn der Verfolgte wegen derselben Tat im ersuchten Staat bereits rechtskräftig abgeurteilt wurde (OLG Karlsruhe, Beschluss vom 17. April 1985, 1 AK 15/08, zitiert nach juris). Dieses Auslieferungshindernis hat allerdings seinen Ursprung eher in dem Anspruch des Individualstaates, Entscheidungen der eigenen Justiz von äußeren Einflüssen freizuhalten und eigene Staatsangehörige vor einem Zugriff fremder Justizordnungen zu schützen (Schomburg in Schomburg/Lagodny/Gleß/Hackner, a.a.O., Exkurs zu Art. 54 SDÜ, Rn. 10, S. 1668).

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