Beschluss vom Oberlandesgericht Stuttgart - 4 Ws 328/15

Tenor

Auf die sofortige Beschwerde des Verurteilten wird der Beschluss des Landgerichts Strafvollstreckungskammer - Tübingen vom 17. September 2015

aufgehoben.

Dem Verurteilten wird im Verfahren über seinen Antrag auf Aussetzung der Restfreiheitsstrafe aus dem Urteil des Landgerichts Stuttgart vom 13. Februar 2013 zur Bewährung Frau Rechtsanwältin ..... als Verteidigerin

bestellt.

Die Kosten des Beschwerdeverfahrens und die notwendigen Auslagen des Verurteilten im Beschwerdeverfahren trägt die Staatskasse.

Gründe

 
I.
Der Verurteilte verbüßt die gegen ihn vom Landgericht - Große Strafkammer - Stuttgart mit Urteil vom 13. Februar 2013 verhängte Gesamtfreiheitsstrafe von vier Jahren und drei Monaten. Zweidrittel der Strafe waren am 10. September 2015 verbüßt. Das Strafende ist auf den 10. Februar 2017 notiert.
Mit Beschluss vom 17. September 2015 hat das Landgericht - Strafvollstreckungskammer - Tübingen den Antrag der Wahlverteidigerin, Rechtsanwältin ...., auf Beiordnung als Verteidigerin im Verfahren über die Entscheidung der Reststrafenaussetzung zur Bewährung zum Zweidritteltermin abgelehnt.
Hiergegen richtet sich die Beschwerde vom 17. September 2015, der die Strafvollstreckungskammer nicht abgeholfen hat.
II.
Die Beschwerde ist zulässig und hat in der Sache Erfolg.
1.
Eine Pflichtverteidigerbestellung kommt im Vollstreckungsverfahren gemäß § 140 Abs. 2 StPO analog in Betracht, wenn die Schwere des Vollstreckungsfalles für den Verurteilten oder die besondere Schwierigkeit der Sach- oder Rechtslage im Vollstreckungsverfahren die Bestellung gebietet oder die Unfähigkeit des Verurteilten, sich selbst zu verteidigen, ersichtlich ist (vgl. BVerfG, NJW 2002, 2773; OLG Hamm, NStZ-RR 2008, 219). Dabei fordert das Strafvollstreckungsverfahren als Beschlussverfahren die Mitwirkung eines Verteidigers in weit geringerem Maße als das Erkenntnisverfahren (vgl. dazu BVerfG aaO). Aus diesem Grund sind im Vollstreckungsverfahren die drei abschließend genannten Merkmale des § 140 Abs. 2 StPO einschränkend zu beurteilen (OLG Hamm aaO; OLG Köln, NStZ-RR 2010, 326). Eine Beiordnung kommt daher regelmäßig nur in Ausnahmekonstellationen von besonderem Gewicht oder besonderer Komplexität, etwa bei Fragen der Überprüfung der Unterbringung in der Sicherungsverwahrung, bei komplexen Strafzeitberechnungen, bei Vollstreckungshilfeverfahren oder rechtlich oder tatsächlich schwierigen oder folgenreichen Konstellationen in Betracht (Laufhütte/Willnow in KK, 7. Auflage, § 141 Rn. 11 mwN).
2.
Zu Recht hat die Strafvollstreckungskammer ausgeführt, dass die Schwere des Vollstreckungsfalles angesichts der verbleibenden Reststrafe - das Strafende ist auf den 10. Februar 2017 notiert - eine Verteidigerbestellung vorliegend nicht gebietet (vgl. BVerfG, NJW 1992, 2947, 2954; KG, StV 2007, 96 (verneinend) - für den Fall einer elfmonatigen Freiheitsstrafe; OLG Brandenburg, StV 2007, 95 (bejahend) - für den Fall einer Reststrafe von drei Jahren und sieben Monaten).
3.
Mit der Strafvollstreckungskammer ist der Senat auch der Ansicht, dass der Verurteilte zur eigenen Verteidigung nicht unfähig erscheint. Die im Diagnostikbericht der Justizvollzugsanstalt 0. vom 11. Juni 2015 festgestellte und im Gutachten der Sachverständigen Dr. B. vom 4. September 2015 aufgegriffene kombinierte Persönlichkeitsstörung (ICD-10: F61.0) mit dissozialen und narzisstischen Zügen des Verurteilten steht ersichtlich nicht seiner Fähigkeit zur Selbstverteidigung entgegen, zumal er als intelligent, unbeeinträchtigt konzentrationsfähig und mit eher überdurchschnittlichen sprachlichen Fähigkeiten beschrieben wird (Diagnostikbericht, S. 5; Gutachten Dr. B„S. 13).
Auch aus der Einholung des Gutachtens zur Kriminalprognose resultiert vorliegend keine Unfähigkeit des Angeklagten zur Selbstverteidigung. Zwar kann die Einholung eines Prognosegutachtens über die fortbestehende Gefährlichkeit des Verurteilten (§ 454 Abs. 2 StPO) die Beiordnung eines Pflichtverteidigers jedenfalls dann als notwendig erscheinen lassen, wenn das ihn beschwerende Gutachten psychiatrischneurologische, psychoanalytische oder kriminologische Fragestellungen aufwirft, mit deren fachlicher Beurteilung der Verurteilte überfordert ist, was bei einem solchen Gutachten typischerweise zu vermuten ist (OLG Naumburg, StV 2014, 493). Abzustellen ist aber insoweit auf die Verständnismöglichkeiten des konkreten Verurteilten, mag auch bei der erwähnten Art von Gutachten dessen Überforderung zunächst typischerweise zu vermuten sein (OLG Schleswig, NStZ-RR 2008, 253).
Sowohl der Diagnostikbericht vom 11. Juni 2015 als auch das Gutachten vom 4. September 2015 enthalten zwar die Darstellung testpsychologischer Zusatzuntersuchungen (PCL-R, SORAG, SVR-20, „Dittmann-Liste" im Diagnostikbericht, S. 4 sowie PPI-R, RIST im Gutachten Dr. B., S. 14 bis 16) sowie Bewertungsverfahren zur Prognose (LSI-R, Static 99-R, FOTRES im Gutachten Dr. B, S. 16 bis 18), die dem nicht sachverständigen Verurteilten zunächst nicht unmittelbar zugänglich sind. Allein dieser Umstand lässt jedoch nicht auf eine Unfähigkeit zur ausreichenden Selbstverteidigung schließen. Es ist einem Sachverständigengutachten immanent, dass der Gutachter aufgrund seines besonderen Sachverstandes Schlussfolgerungen darlegt. Die Verständnismöglichkeit eines Sachverständigengutachtens beschränkt sich zumindest dann nicht auf ebenfalls Sachverständige, wenn der Gutachter seine Schlussfolgerung allgemeinverständlich darlegt. So liegt es hier. Den dargestellten Zusatzuntersuchungen und Bewertungsverfahren wird jeweils eine allgemeinverständliche Erläuterung angefügt. Der Senat erkennt nicht, dass der intelligente, unbeeinträchtigt konzentrationsfähige und eher überdurchschnittlich sprachlich befähigte Verurteilte die erläuterten Schlussfolgerungen nicht verstehen kann, zumal das Gutachten vom 4. September 2015 mit ihm in der mündlichen Anhörung vom 23. September 2015 besprochen wurde und er sich hierzu verständig äußerte.
4.
10 
Allerdings erscheint dem Senat vorliegend die Bestellung einer Verteidigerin aufgrund der Schwierigkeit der Sachlage geboten.
a)
11 
Erwägt die Strafvollstreckungskammer aufgrund des Ergebnisses eines Sachverständigengutachtens abweichend von der Stellungnahme der Justizvollzugsanstalt zu entscheiden, indiziert dies, dass die Sachlage bei der Beurteilung der Voraussetzungen der Aussetzung des Strafrestes zur Bewährung gemäß § 57 StGB nicht einfach gelagert ist (OLG Hamm, StRR 2009,403).
12 
Zwar hat die Strafvollstreckungskammer aufgrund des Ergebnisses des Gutachtens vom 4. September 2015 nicht erwogen, entgegen der Stellungnahme der Justizvollzugsanstalt R. vom 30. Juli 2015, die auf der Grundlage des Diagnostikberichts vom 11. Juni 2015 erging, zu entscheiden. Das Gutachten vom 4. September 2015 bestätigte vielmehr die Stellungnahme der Justizvollzugsanstalt und den dieser Stellung nähme zugrundeliegenden Diagnostikbericht. Es liegt jedoch eine vergleichbare Verfahrenslage vor.
13 
Zum Zeitpunkt der mündlichen Anhörung des Verurteilten am 31. Juli 2015 lagen der Strafvollstreckungskammer neben der Stellungnahme der Justizvollzugsanstalt der Diagnostikbericht vom 11. Juni 2015 vor. Obwohl dieser das allgemeine, aber auch einschlägige Rückfallrisiko im Hinblick auf Gewalt- und auch Sexualstraftaten beim Verurteilten als relativ hoch einschätzte, weitere, ähnlich gelagerte Straftaten, insbesondere im Beziehungsbereich wegen stark vorherrschender deliktfördernder und kulturell traditionell geprägter Einstellungen als wahrscheinlich ansah und aufgrund der Chronizität der Delinquenz des Verurteilten eine mehrjährige, intensive, multimodale Therapie mit Gruppenangeboten und Wohngruppenvollzug einschließlich hochfrequenter einzeltherapeutischer Gespräche, wie sie in der Sozialtherapeutischen Anstalt Baden-Württemberg (STA) angeboten wird, als - das ausschließliche Mittel der Wahl - indiziert ansah, sah sich die Strafvollstreckungskammer gleichwohl nach Durchführung der mündlichen Anhörung veranlasst, ein Gutachten einzuholen.
14 
Sie hat hierzu in der mündlichen Anhörung am 31. Juli 2015 ausgeführt: „Die Kammer erläutert, dass nach dem Ergebnis der heutigen Anhörung ein psychiatrisches oder psychologisches Sachverständigengutachten eingeholt werden wird. Die Kammer beabsichtigt nicht, ohne ein Sachverständigengutachten die Entlassung abzulehnen." Im Beschluss der Strafvollstreckungskammer vom 13. August 2015 heißt es unter Ziff. 1: „Da die Kammer erwägt, die Vollstreckung des letzten Drittels der Freiheitsstrafe aus dem Urteil des Landgerichts Stuttgart vom 13. Februar 2013 zur Bewährung auszusetzen, wird gemäß § 454 Abs. 2 StPO ein kriminalprognostisches Sachverständigengutachten eingeholt".
15 
Wenn aber die Strafvollstreckungskammer trotz des Vorliegens des - für den Senat deutlichen - Diagnostikberichtes zu verstehen gibt, dass sie in der vorliegenden Diagnostik und der Stellungnahme der Justizvollzugsanstalt noch keine ausreichende Entscheidungsgrundlage sieht, vielmehr die Einholung eines Gutachtens zur Gewinnung einer weiteren Entscheidungsgrundlage für erforderlich hält, ist von einer Schwierigkeit der Sachlage auszugeben.
b)
16 
In der vorliegenden Situation erscheint die beantragte Bestellung der Verteidigerin geboten. Die dem einzuholenden Sachverständigengutachten von der Strafvollstreckungskammer unter Umständen zugedachte Bedeutung gegenüber dem vorliegenden Diagnostikbericht und die möglicherweise erforderliche Auseinandersetzung mit gegensätzlichen Bewertungen führt zu einer schwierigen Sachlage und gebietet den rechtsanwaltlichen Beistand des Verurteilten.
5.
17 
Die Bestellung erstreckt sich auf das Verfahren über die Entscheidung zur Reststrafenaussetzung zur Bewährung (OLG Düsseldorf, StraFo 2011,371; OLG München, StraFo 2009,527; OLG Zweibrücken, NStZ 2010, 470; OLG Frankfurt, NStZRR 2003, 252). Die Ansicht des OLG Stuttgart in NJW 2000, 3367 steht nicht entgegen, da es sich im vorliegenden Verfahren der Entscheidung über eine Reststrafaussetzung zur Bewährung gem. § 57 StGB im Gegensatz zum dort entschiedenen Fall der erfolgten Bestellung einer Verteidigers „für das gesamte Vollstreckungsverfahren" in einer Unterbringungssache um einen klar abgrenzbaren Verfahrensabschnitt handelt, der eine auf diesen Abschnitt beschränkte Entscheidung ermöglicht.

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