Beschluss vom Oberlandesgericht Stuttgart - 4 Ws 213/22

Tenor

Die sofortige Beschwerde des Verurteilten gegen den Beschluss des Landgerichts – 21. Strafvollstreckungskammer - Stuttgart vom 2. Mai 2022 wird als unbegründet

v e r w o r f e n.

Der Beschwerdeführer trägt die Kosten seines Rechtsmittels.

Gründe

 
I.
Der Verurteilte (VU.) befindet sich derzeit in der JVA S. zum Vollzug eines Strafrests aus einem Urteil des AG S. vom 15.1.2014. Ursprünglich waren in diesem Urteil 2 Jahre und 6 Monate Gesamtfreiheitsstrafe gegen ihn verhängt worden. Bereits am 30.12.2015 waren hiervon 2/3 vollstreckt. Am 10.7.2020 hatte die Strafvollstreckungskammer (StVK.) des LG S. u. a. den Strafrest aus dieser Verurteilung zur Bewährung ausgesetzt, am 14.7.2020 war der VU. aus Strafhaft entlassen worden. Wegen Bewährungsversagens wurde diese Strafrestaussetzung zur Bewährung bereits am 21. 1.2021 von der StVK. widerrufen. Am 6.5.2021 wurde er in anderer Sache in Untersuchungshaft genommen. Seit 22.6.2021 wurde der Rest aus dem Urteil des AG S. vom 15.1 2014 vollstreckt.
Nachdem der VU. am 3.12.2021 vom LG S., rechtskräftig seit 3.12.2021, wegen neuer Taten, die z. T. in der Bewährungszeit begangen worden waren, zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von 4 Jahren und 2 Monaten verurteilt und dabei auch die Unterbringung in einer Entziehungsanstalt nach § 64 StGB mit einem Monat Vorwegvollzug angeordnet worden war, wurde von der Vollstreckungsbehörde am 10.12.2021 nach § 44b StVollstrO die Vollstreckung der Gesamtfreiheitsstrafe aus dem Urteil des AG S. vom 15.1.2014 mit Wirkung vom 3.12.2021 für die Vollstreckung der vorweg zu vollziehenden Strafe und der Unterbringung in einer Entziehungsanstalt aus dem Urteil des LG S. unterbrochen . Ab 27.12.2021, als der Vorwegvollzug erledigt war, befand sich der VU. in Organisationshaft in Vorbereitung einer Aufnahme in eine Maßregelvollzugseinrichtung.
Mit Beschluss vom 6.4.2022, rechtskräftig seit 15.4.2022, hat die StVK. des LG S. festgestellt, dass der weitere Vollzug der Organisationshaft unzulässig ist. Dabei fand sich im Tenor auch der Satz „Der Verurteilte ist mit Eintritt der Rechtskraft dieses Beschlusses freizulassen“.
Nach Rechtskraft dieses Beschlusses hat die Vollstreckungsbehörde die Vollstreckungsreihenfolge erneut umgestellt; seit 16.4.2022 wird der Rest von zunächst noch 106 Tagen aus dem Urteil des AG S. vom 15.1.2014 vollstreckt. Das Strafende ist auf 30.7.2022 notiert. Für den 14.7.2022 ist der Beginn des Maßregelvollzugs vorgesehen.
Mit Schreiben vom 14. und 19.4.2022 hat der VU. seine sofortige Freilassung verlangt und beantragt, die weitere Vollstreckung der Reststrafe aus dem Urteil des AG S. vom 15.1.2014 für unzulässig zu erklären. Die StVK. hat die Einwendungen des VU. gegen die weitere Vollstreckung der Gesamtfreiheitsstrafe zurückgewiesen. Hiergegen wendet sich dessen sofortige Beschwerde.
II.
Die zulässige sofortige Beschwerde hat in der Sache keinen Erfolg. Die StVK. hat zu Recht und mit zutreffenden Erwägungen, denen sich der Senat zur Vermeidung von Wiederholungen anschließen kann, die Einwendungen gegen die Zulässigkeit der weiteren Vollstreckung der Reststrafe aus dem Urteil des AG S. vom 15.1.2014 zurückgewiesen.
1. Der Beschluss der SVK. vom 6.4.2022 führt nicht dazu, dass der VU. freizulassen wäre bzw. für andere Strafen ein Vollstreckungshindernis bestünde. Dieser Beschluss befasst sich in seinen Gründen ausschließlich mit der Frage der Zulässigkeit weiterer Organisationshaft. Die weitere Vollstreckung von Strafen aus anderen Erkenntnissen war nicht Gegenstand dieser Entscheidung. Daher hat – wie bereits die StVK. im angefochtenen Beschluss ausführlich und zutreffend dargelegt hat - der missverständlich im Tenor aufgeführte Satz „Der Verurteilte ist mit Eintritt der Rechtskraft dieses Beschlusses freizulassen“ keine über den Regelungsgehalt des Beschlusses hinausgehende Wirkung, insbesondere erfasst er nicht Strafen, für die Überhaft oder Anschlussvollstreckung notiert ist oder die sonst zur Vollstreckung anstehen. Dies ergibt sich bei einer die Begründung und den Streitgegenstand der Entscheidung mitbetrachtenden Auslegung des Beschlusses eindeutig.
2. Es besteht auch sonst kein Vollstreckungshindernis.
a) Eine unbillige Härte durch den Wegfall einer Möglichkeit zur Anrechnung von Therapiezeiten auf die Reststrafe aus dem Urteil des AG S. vom 15.1.2014 nach § 67 Abs. 6 StGB entsteht nicht. Eine Anrechnung wäre hier schon deswegen nicht möglich, weil die Strafe aus dem Urteil des AG S. vom 15.1.2014 schon lange zu mehr als Zweidritteln vollstreckt ist. § 67Abs. 6 iVm § 67 Abs. 4 StGB erlaubt die Zeit des Vollzugs der Maßregel auf die zu verbüßende Strafe anzurechnen, jedoch nicht über Zweidrittel der Strafe hinaus. Das letzte Strafdrittel kann nicht durch Anrechnung erledigt werden. Durch den Verweis auf Absatz 4 wird deutlich, dass die Anrechnung auf eine verfahrensfremde Strafe ebenfalls nur erfolgt, bis Zweidrittel der Strafe erledigt sind (Ziegler in BeckOK StGB, 53. Ed. 1.5.2022, StGB § 67 Rn. 12,17).
10 
Im Übrigen treffen die von der StVK. diesbezüglich ausgeführten Erwägungen zu.
11 
b) Sind mehrere Freiheitsstrafen nacheinander zu vollstrecken, unterbricht zwar die Vollstreckungsbehörde gemäß § 454b Abs. 2 Satz 1 Nr. 2 StPO die Vollstreckung der zunächst zu vollstreckenden Freiheitsstrafe, wenn Zweidrittel, mindestens jedoch 2 Monate, der Strafe verbüßt sind. Die Regelungen in § 454b Abs. 2 und Abs. 4 StGB sind auch dann anzuwenden, wenn zunächst Freiheitsstrafe und im Anschluss daran aus einem anderen Verfahren eine Maßregel nach § 64 StGB und eine daneben verhängte Freiheitsstrafe vollstreckt werden und zwar unabhängig davon, ob der Vollzug der Maßregel vor der Freiheitsstrafe erfolgt oder ein Vorwegvollzug nach § 67 Abs. 2 oder Abs. 3 StGB angeordnet ist. Diese Regelung beansprucht auch dann Geltung, wenn der Vollzug der Maßregel noch nicht begonnen hat, weil die Staatsanwaltschaft – trotz intensiver Bemühungen – keinen Therapieplatz für den VU. finden konnte. In einem solchen Fall stünde der Vollstreckung der Strafreste ein Vollstreckungshindernis entgegen (OLG Braunschweig, Beschluss vom 4.9.2020 – 1 Ws 205/20, juris).
12 
Eine solche Konstellation ist hier jedoch nicht gegeben. Der derzeit vollstreckte Strafrest aus dem Urteil des AG S. vom 15.1.2014 war bereits einmal nach der Verbüßung von (mehr als) 2/§ zur Bewährung ausgesetzt worden. Diese Strafaussetzung musste allerdings widerrufen werden. § 454b Abs. 2 Satz 1 Nr. 2 StPO gilt nicht für Strafreste, die auf Grund Widerrufs ihrer Aussetzung vollstreckt werden. Strafreste, die nach Widerruf ihrer Aussetzung vollstreckt werden, sind vollständig vorweg zu vollstrecken (vgl. auch § 43 Abs. 2 Nr. 1 Satz 2, Abs. 4 StVollstrO; BGH NStZ 2012, 467). Das Hinzutreten solcher Strafreste stellt sogar einen wichtigen Grund für die Änderung der Vollstreckungsreihenfolge dar (vgl. § 43 Abs. 4 StVollstrO; OLG Karlsruhe, StV 2019, 351).
13 
Es bleibt zwar auch in den Fällen der Vollstreckung widerrufener Strafreste für die Vollstreckungsbehörde weiterhin die Möglichkeit, nach § 43 Abs. 4 StVollStrO aus wichtigem Grund eine abweichende Reihenfolge anzuordnen. Ob ein wichtiger Grund vorliegt, stellt eine Ermessensentscheidung der Vollstreckungsbehörde dar. Sie wäre gerichtlich (nur) im Verfahren nach § 23 EGGVG nachprüfbar.
14 
Eine Ermessensreduzierung auf null, die bereits jetzt eine Durchgriffsentscheidung des Senats eröffnen würde und hier möglicherweise bereits im Verfahren nach § 458 StPO als Vollstreckungshindernis zu beachten wäre, ist dabei nur in Ausnahmefällen gegeben, etwa wenn die Kriminalprognose zum Zeitpunkt der Entscheidung über die Reihenfolge bereits mit hoher Wahrscheinlichkeit wieder günstig erscheint oder die Kriminalprognose in absehbarer Zeit hinreichend belegbar sicher wieder günstig wird.
15 
Ein solcher Fall liegt hier jedoch nicht vor. Rein faktisch verliert der VU. durch die nun seitens der Vollstreckungsbehörde gewählte Vollstreckungsreihenfolge voraussichtlich zwar die theoretische Möglichkeit, dass auch der Strafrest aus dem Urteil des AG S. vom 15.1.2014 nochmals zur Bewährung ausgesetzt werden könnte, da er voll verbüßt sein wird, bis eine (einheitliche) Prüfung mit Maßregel und Gesamtstrafe aus dem Urteil des LG S. vom 3.12.2021 anstünde. Angesichts der in kürzester Zeit in ganz erheblicher Weise gescheiterten Bewährung und der Vielzahl in kürzester Zeit begangener einschlägiger Bewährungsbrüche vermag der Senat selbst für das Ende einer Therapie derzeit keine relevante Chance auf eine ausreichend positive Kriminalprognose zu sehen, zumal völlig offen erscheint, ob eine Therapie erfolgreich verlaufen wird. Das Bedürfnis, einem VU. nach einem Bewährungsversagen im Kontext des § 454b StPO die Chance auf abermalige Strafaussetzung zu gewähren, wiegt ohnehin deutlich geringer (BGH NStZ 2012, 467).
16 
c) Aus der Unzulässigkeit weiterer Organisationshaft erwächst hier auch kein Vollstreckungshindernis dergestalt, dass die Vollstreckungsbehörde deswegen zwingend rückwirkend – wie vom VU. und seinem Verteidiger beantragt - die Vollstreckungsreihenfolge umzustellen hätte, um einen durch staatliche Versäumnisse durch den seit Jahren eklatanten Mangel an ausreichen Plätzen im Maßregelvollzug und die dadurch absehbar unzulässige Organisationshaft eingetretenen Nachteil des VU. auszugleichen.
17 
Zwar könnte unter Umständen ein solcher Nachteilsausgleich auch durch rückwirkende „Umbuchung“ und neue Strafzeitberechnung hergestellt werden (vgl. KG, StraFo 2011, 108-110). Zwingend erforderlich scheint dies dem Senat allerdings derzeit nicht.
18 
Art. 2 Abs. 2 Satz 2, 104 Abs. 1 GG gebietet es der Vollstreckungsbehörde von Verfassungs wegen zwar, den Folgen einer Regelwidrigkeit im Rahmen der Strafzeitberechnung in geeigneter Weise entgegenzuwirken (BVerfG, NStZ 1998, 77). Die Strafvollstreckungsbehörde muss deshalb im Rahmen ihrer Strafzeitenberechnung dafür Sorge tragen, dass der VU. so gestellt wird, als sei seine Unterbringung rechtzeitig vollzogen worden. Regelwidrigkeiten, die der Strafvollstreckungsbehörde bei der Wahrnehmung ihrer Aufgaben unterlaufen, dürfen dem VU. nicht zum Nachteil gereichen (Maier in Münchner Kommentar zum StGB, 4. Aufl., § 67 Rn. 136 f). Dies gilt auch, wenn die Strafvollstreckungsbehörde selbst kein vorwerfbares Versäumnis trifft, sondern andere staatliche Stellen für die unzulässige Organisationshaft verantwortlich sind, weil die erforderlichen Ressourcen für eine gesetzeskonforme Vollstreckung von Strafurteilen nicht vorhanden sind.
19 
Der Ausgleich geschieht allerdings in der Regel dadurch, dass Organisationshaft auf den Teil der Freiheitsstrafe anzurechnen ist, dessen Vollzug sich nicht durch Anrechnung der Unterbringung erledigt, also auf das letzte Drittel (vgl. BVerfG, aaO). Diese Anrechnung durch eine Art „Naturalrestitution“ erfolgt ab dem Zeitpunkt, zu dem von Gesetzes wegen der Vollzug der Maßregel hätte einsetzen dürfen, also ab Rechtskraft des Urteils. Übersteigt die verbüßte Organisationshaft allerdings das Restdrittel der Strafe, so ist wegen des Übermaßverbots der überschießende Betrag von der Höchstfrist der Unterbringung in einer Entziehungsanstalt abzuziehen (Schöch in Leipziger Kommentar zum StGB, 12. Aufl., § 67 Rn. 38). Die verzögerte Überstellung in den Maßregelvollzug kann unter Umständen auch Schmerzensgeld- bzw. Schadensersatzansprüche auslösen (Trenckmann in: Kammeier/Pollähne, Maßregelvollzugsrecht, 4. Aufl. 2018, L.Vollstreckungsrecht der freiheitsentziehenden Maßregeln nach § 63 und § 64 StGB, L.118: Volckart/Grünebaum, Maßregelvollzug, 8. Aufl. 2015, II. Teil, rn. 56 a.E.; Volckart, R&P 2004, 179).
20 
Die Unzulässigkeit der überlangen Organisationshaft liegt darin begründet, dass das bloße Zuwarten auf einen mittel- oder langfristig und damit unangemessen spät frei werdenden Therapieplatz zu einer gesetzeswidrigen Umkehrung der Vollstreckungsreihenfolge hinsichtlich von Maßregel und daneben verhängter Freiheitsstrafe führt, und nicht darin, dass ein VU. überhaupt durch eine staatliche Maßnahme seiner Freiheit beraubt wird; dies beruht schon auf dem Urteil mit seinen kombinierten Rechtsfolgen. Im Fall des VU. besagt die Entscheidung des LG zur Unzulässigkeit der Organisationshaft auch nicht, dass er auch von sonstigem Freiheitsentzug, der aus anderen Urteilen herrührt, freizulassen sein müsste. Er würde sogar dadurch privilegiert, dass er nicht nur den widerrufenen Strafrest zu verbüßen hat, sondern dass er weitere Taten begangen hat, die zu einer neuen Verurteilung führten. Ohne die neue Verurteilung wäre es unstreitig gewesen, dass er den Strafrest nach Widerruf verbüßen muss.
21 
Dies alles zeigt, dass es derzeit offen erscheint, ob die unzulässig gewordene Organisationshaft hier im Einzelfall überhaupt zu relevanten Nachteilen für den VU. führen wird, und dass der Vollstreckungsbehörde verschiedenen Möglichkeiten offenstehen, wie sie eventuelle Nachteile ausgleicht. Eine Ermessensreduzierung auf Null, dass eine Umstellung der Vollstreckungsreihenfolge so zu wählen wäre, dass der Strafrest bereits voll verbüßt ist, und somit dies bereits im Verfahren nach § 458 StPO als Vollstreckungshindernis zu beachten wäre, sieht der Senat auch insoweit nicht.

Verwandte Urteile

Keine verwandten Inhalte vorhanden.

Referenzen