Beschluss vom Hamburgisches Oberverwaltungsgericht (1. Senat) - 1 Bf 72/17.Z

Tenor

Der Antrag des Klägers, die Berufung gegen das Urteil des Verwaltungsgerichts vom 24. März 2017 zuzulassen, wird abgelehnt.

Der Kläger trägt die Kosten des Zulassungsverfahrens.

Der Streitwert wird für das Zulassungsverfahren auf 10.000 Euro festgesetzt.

Gründe

I.

1

Der Kläger verfolgt mit seinem Zulassungsantrag sein Begehren auf Aufhebung der ihm gegenüber verfügten Ausweisung und Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis weiter.

2

Der Kläger ist pakistanischer Staatsangehöriger und gehört nach eigenem Vortrag der Glaubensgemeinschaft der Ahmadiyya an. Er wurde 1990 in Hamburg geboren. Der Kläger besuchte die Förderschule und erwarb während der Verbüßung einer Jugendhaftstrafe den Hauptschulabschluss. Zu einer von dem Kläger geplanten Heirat mit seiner langjährigen portugiesischen Verlobten kam es nicht. Die Mutter sowie die Schwester des Klägers leben in Hamburg.

3

Der Kläger ist seit 2007 mehrfach strafgerichtlich verurteilt worden, darunter wegen Vermögensdelikten mit Urteil des Landgerichts Hamburg vom 20. Juni 2014 zu einer Freiheitsstrafe von drei Jahren und zwei Monaten sowie mit Urteil des Amtsgerichts Hamburg vom 8. April 2015 wegen gefährlicher Körperverletzung und Beleidigung zu einer Freiheitsstrafe von einem Jahr.

4

Die Beklagte erteilte dem Kläger zuletzt eine bis zum 18. Juni 2014 gültige Aufenthaltserlaubnis. Mit Bescheid vom 30. April 2015 wies sie den Kläger aus, befristete die Wirkungen der Ausweisung auf sieben Jahre ab nachgewiesener Ausreise, lehnte die Verlängerung der Aufenthaltserlaubnis ab und drohte dem Kläger die Abschiebung nach Pakistan an. Den hiergegen - verspätet - erhobenen Widerspruch wies die Beklagte mit Widerspruchsbescheid vom 8. September 2015 zurück, und zwar ausweislich der Begründung des Widerspruchsbescheids als unzulässig sowie hilfsweise als unbegründet. Die dagegen erhobene Klage wies das Verwaltungsgericht Hamburg mit am 3. April 2017 zugestelltem Urteil vom 24. März 2017 ab.

5

Am 19. April 2017 hat der Kläger den Antrag auf Zulassung der Berufung gestellt, den er mit am 6. Juni 2017, Dienstag nach Pfingsten, eingegangenem Schriftsatz vom 30. Mai 2017 begründet hat. Wegen der Einzelheiten der Begründung wird auf den Schriftsatz vom 30. Mai 2017 verwiesen.

II.

6

Der zulässige Antrag auf Zulassung der Berufung hat keinen Erfolg. Die vom Kläger vorgetragenen Gründe, auf deren Prüfung das Gericht vorliegend beschränkt ist, rechtfertigen nicht die Zulassung der Berufung wegen der allein geltend gemachten ernstlichen Zweifel an der Richtigkeit des Urteils des Verwaltungsgerichts nach § 124a Abs. 5 Satz 2 i. V. m. § 124 Abs. 2 Nr. 1 VwGO.

7

Der Zulassungsgrund des § 124 Abs. 2 Nr. 1 VwGO ist schon dann erfüllt, wenn der Rechtsmittelführer im Zulassungsverfahren einen einzelnen die angefochtene Entscheidung tragenden Rechtssatz oder eine einzelne erhebliche Tatsachenfeststellung mit schlüssigen Gegenargumenten in Frage gestellt hat (vgl. BVerfG, Kammerbeschl. v. 16.1.2017, 2 BvR 2615/14, IÖD 2017, 52, juris Rn. 19 m.w.N.). Das ist hier weder hinsichtlich der Beurteilung der Ausweisung als rechtmäßig (1.) noch hinsichtlich der entsprechenden Bewertung der Befristung (2.) noch hinsichtlich der Beurteilung der Ablehnung der Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis als rechtmäßig (3.) der Fall.

8

1. Das Verwaltungsgericht hat die Ausweisung des Klägers, die die Beklagte auf der Grundlage des bei Erlass des Bescheides vom 30. April 2015 und des Widerspruchsbescheides vom 8. September 2015 geltenden Rechts erlassen hatte, zutreffend am neuen Ausweisungsrecht – §§ 53 ff. AufenthG wurden grundlegend durch den am 1. Januar 2016 in Kraft getretenen Art. 1 des Änderungsgesetzes vom 27. Juli 2015 (BGBl. I S. 1386) geändert – gemessen und sie hiernach als rechtmäßig angesehen. Die hiergegen gerichteten Angriffe des Klägers begründen keine ernstlichen Zweifel an der Richtigkeit des Urteils.

9

a. Das gilt zunächst für die vom Kläger geltend gemachten Bedenken bezogen auf den vom Verwaltungsgericht zugrunde gelegten Prognosemaßstab bei der Beurteilung einer von dem Kläger ausgehenden Gefahr für die öffentliche Sicherheit und Ordnung.

10

aa. Der Kläger führt eingangs aus, zu Recht gehe das Verwaltungsgericht davon aus, dass er sich zur Vorbereitung seiner Entlassung im offenen Vollzug befinde, weil die Justizvollzugsanstalt keine Flucht- und Missbrauchsgefahr mehr annehme. Diese Prognose habe er durch sein Verhalten im offenen Vollzug auch bestätigt, denn er habe nicht nur keine weiteren Straftaten begangen, sondern sich auch an die Regeln des Vollzugs gehalten und sämtliche Anforderungen erfüllt. Er gehe insbesondere im Rahmen des Freigangs einer Beschäftigung außerhalb der Justizvollzugsanstalt nach und habe ein Antigewalt- und Kompetenztraining erfolgreich abgeschlossen.

11

Mit diesem Vortrag stellt sich der Kläger nicht gegen die Ausführungen des Verwaltungsgerichts. Insbesondere liegt darin kein Angriff gegen die Feststellung des Verwaltungsgerichts, das Anti-Aggressionstraining könne selbst bei erfolgreichem Abschluss lediglich als erster Schritt zur Bewältigung der Aggressionsproblematik des Klägers - und nicht als entscheidende Veränderung der Lebensumstände - gesehen werden.

12

bb. Der Kläger meint sodann, soweit das Verwaltungsgericht zu dem Ergebnis komme, sein weiterer Aufenthalt gefährde die öffentliche Sicherheit und Ordnung der Bundesrepublik Deutschland aus spezialpräventiven und generalpräventiven Gründen, sei der dem zugrunde gelegte Prognosemaßstab bedenklich, weil das Verfahren zur Strafrestaussetzung anhängig sei und der zu erwartenden positiven Entscheidung der Strafvollstreckungskammer maßgebliche Bedeutung für die Beurteilung der Wiederholungsgefahr zukomme.

13

Diese Ausführungen sind nicht geeignet, erhebliche Zweifel an der Richtigkeit des verwaltungsgerichtlichen Urteils zu begründen. Wie der Kläger selbst ausführt, wäre gegebenenfalls eine Entscheidung der Strafvollstreckungskammer von Bedeutung für die Beurteilung der Wiederholungsgefahr. Eine Entscheidung der Strafvollstreckungskammer lag zum Zeitpunkt des Erlasses der verwaltungsgerichtlichen Entscheidung am 24. März 2017 indes noch nicht vor, so dass das Verwaltungsgericht eine solche auch nicht berücksichtigen konnte. Dass das Verwaltungsgericht gehalten gewesen wäre, eine Entscheidung der Strafvollstreckungskammer abzuwarten, hat der Kläger weder behauptet, noch ist dies der Fall. Der Kläger hat - zu Recht - auch nicht geltend gemacht, dass die Strafvollstreckungskammer eine für ihn positive Entscheidung gefällt habe. Ein solcher Vortrag hätte mit Blick auf die Rechtsprechung des OVG Hamburg (Beschl. v. 27.5.2009, 5 Bf 18/08.Z, Leitsatz in NordÖR 2009, 475, juris) relevant werden können, wonach Änderungen der tatsächlichen Verhältnisse, die nach materiellem Recht entscheidungserheblich sein können und vom Rechtsmittelführer innerhalb der Begründungsfrist für den Antrag auf Zulassung der Berufung vorgetragen worden sind, bei der Beurteilung des Zulassungsgrundes des § 124 Abs. 2 Nr. 1 VwGO zu berücksichtigen sind. Vielmehr ergibt sich aus einem in der Ausländerakte befindlichen Vermerk der Beklagten vom 8. Juni 2017, dass laut Strafvollstreckungskammer der Antrag auf vorzeitige Entlassung mit Beschluss vom 16. Mai 2017 abgelehnt und wohl von einer Haftverbüßung bis zum regulären Haftende - 22. Oktober 2018 - auszugehen sei. Vor diesem Hintergrund ist der Vortrag des Klägers in seiner Antragsbegründung vom 30. Mai 2017, es sei mit einer “positiven Entscheidung der Strafvollstreckungskammer zu rechnen“, für das Gericht nicht nachvollziehbar.

14

cc. Soweit der Kläger unter Bezugnahme auf den Beschluss des Bundesverfassungsgerichts vom 19. Oktober 2016 (2 BvR 1943/16, InfAuslR 2017, 8, juris Rn. 21) eine “verfassungsrechtlich gebotene substantielle Begründung“ für die Prognose einer Wiederholungsgefahr zu fordern und beim erstinstanzlichen Urteil zu vermissen scheint, kann sich der Kläger nicht auf das von ihm wiedergegebene Zitat des Bundesverfassungsgerichts stützen. Das Bundesverfassungsgericht hat festgestellt, jedenfalls soweit die Prognose der Wiederholungsgefahr Bedeutung im Rahmen einer grundrechtlich erforderlichen Abwägung habe, bedürfe es einer substantiierten Begründung, wenn von der strafgerichtlichen Einschätzung abgewichen werden solle. Dieses Zitat betrifft den Fall, dass die Strafvollstreckungskammer - anders als hier - eine (positive) Strafaussetzungsentscheidung gefällt hat (vgl. BVerfG a. a. O., juris Rn. 21; vgl. auch BVerfG, Beschl. v. 27.8.2010, 2 BvR 130/10, NVwZ, 2011, 35, juris Rn. 36).

15

dd. Der Kläger führt weiter aus, das Verwaltungsgericht bemühe sich zwar, die verfassungsrechtlich gebotene substantielle Begründung im konkreten Einzelfall zu finden. Dabei gehe die Kammer jedoch teilweise von falschen Voraussetzungen aus, als sie nämlich ausführe, der Maßstab hinsichtlich der Gefahrenprognose sei ein anderer als der, den das Strafrecht zugrunde zu legen habe. Es gehe hier um die Frage, ob das Misslingen der Resozialisierung von der deutschen Gesellschaft oder der des Heimatlandes zu tragen sei. Diesen Maßstab habe das Bundesverfassungsgericht zumindest für den Personenkreis der sogenannten faktischen Inländer, dem der Kläger angehöre, erheblich eingeschränkt. Es bestünden im Übrigen erhebliche Zweifel, dass es einen derartigen Unterschied gebe, wie ihn das Verwaltungsgericht ausführe, dass nämlich die verwaltungsrechtliche Prognoseentscheidung längerfristig als die strafrechtliche gefasst sei.

16

Diese Kritik ist nicht stichhaltig. Das gilt schon deshalb, weil - wie oben zu cc. ausgeführt - die vom Kläger geltend gemachte Forderung einer substantiellen Begründung mangels (positiver) Strafaussetzungsentscheidung hier nicht einschlägig ist. Abgesehen davon entsprechen die kritisierten Ausführungen des Verwaltungsgerichts der in der verwaltungsgerichtlichen Entscheidung zitierten Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts (BVerwG, Urt. v. 15.1.2013, 1 C 10/12, NVwZ-RR 2013, 435, juris Rn. 19). Darin heißt es, es gehe bei der Aussetzungsentscheidung nach § 57 StGB um die Ermittlung, ob der Täter das Potenzial habe, sich während der Bewährungszeit straffrei zu führen. Im ausländerrechtlichen Ausweisungsverfahren gehe es demgegenüber um die Frage, ob das Risiko eines Misslingens der Resozialisierung von der deutschen Gesellschaft oder von der Gesellschaft im Heimatstaat des Ausländers getragen werden müsse. Die der Ausweisung zu Grunde liegende Prognoseentscheidung beziehe sich folglich nicht nur auf die Dauer der Bewährungszeit, sondern habe einen längeren Zeithorizont in den Blick zu nehmen. Denn es gehe hier um die Beurteilung, ob es dem Ausländer gelingen werde, über die Bewährungszeit hinaus ein straffreies Leben zu führen. Inwieweit das Bundesverfassungsgericht diesen Maßstab, “zumindest für den Personenkreis der sog. „faktischen Inländer“ mit Relevanz für den vorliegenden Fall “erheblich eingeschränkt“ habe, hat der Kläger nicht näher dargelegt.

17

ee. Der Kläger trägt weiter vor, das Argument des Verwaltungsgerichts, er habe sich weder von den Verurteilungen noch vom Vollzug von weiteren Straftaten abhalten lassen, verkenne, dass systematisch und nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts bei der Beurteilung der Prognose den aktuellen Umständen gegenüber den länger zurückliegenden Umständen Vorrang einzuräumen sei; mit zunehmender Dauer der Strafvollstreckung träten die Umstände, die die vollstreckungsgegenständlichen Taten beeinflusst hätten, in den Hintergrund.

18

Dass dies in dieser Absolutheit der Fall ist, ist der vom Kläger zitierten Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts nicht zu entnehmen. Der Kläger hat auch nicht dargelegt, dass dies im Übrigen der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts und der Systematik zu entnehmen sei. Soweit das Bundesverwaltungsgericht auf einen “längeren Zeithorizont“ (BVerwG, Urt. v. 15.1.2013, 1 C 10/12, NVwZ-RR 2013, 435, juris Rn. 19) abstellt, meint es keinesfalls, dass länger zurückliegende Umstände grundsätzlich nachrangig zu bewerten seien (vgl. auch BVerwG, Urt. v. 16.11.2000, 9 C 6/00, BVerwGE 112, 185, juris Rn. 16, 17 und BVerfG, Beschl. v. 19.10.2016, 2 BvR 1943/16, InfAuslR 2017, 8, juris Rn. 19).

19

Das Vorbringen des Klägers begründet auch keine Zweifel am Prognoseergebnis des Verwaltungsgerichts. Der Kläger bringt vor, soweit das Verwaltungsgericht ausführe, es sei nicht ersichtlich, dass sich seine Lebensumstände nach seiner Haftentlassung entscheidend verändern würden, verkenne es, dass er sich nunmehr seit knapp einem Jahr ohne weitere Verfehlung im offenen Vollzug befinde, seit sechs Monaten einer Erwerbstätigkeit nachgehe und sich als verlässlich und verabredungsfähig erwiesen habe. Er werde seine Erwerbstätigkeit auch nach der Haftentlassung fortführen und seinen Lebensunterhalt sichern können. Vor allem beabsichtige er, seine Verlobte, die portugiesische Staatsangehörige L., zu heiraten und eine Familie zu gründen. Zu der Eheschließung sei es bisher nur deshalb nicht gekommen, weil es für ihn als Inhaftierten sehr schwierig sei, die erforderlichen Papiere zu besorgen. Allein der Umstand, dass er eine Familie gründe und Verantwortung übernehme, stelle eine entscheidende Veränderung dar, die nach seiner Haftentlassung weiter bestehen bleiben werde. Ebenfalls dürfte der Umstand, dass er weiterhin mit seiner Verlobten, die im Haushalt seiner Mutter lebe, zusammenlebe, für die Beurteilung der Gefahrenprognose sowie für die Bewertung der zulasten der L. begangenen Straftat von Bedeutung sein. Insoweit sei von einem Täter-Opfer-Ausgleich auszugehen, womit die Annahme eines besonders schweren Ausweisungsinteresses allein wegen dieser Straftat zweifelhaft erscheine.

20

Dieses Vorbringen ist schon deshalb unerheblich, weil es an einer Auseinandersetzung mit der Prämisse des Verwaltungsgerichts fehlt, dass das Verhalten im Strafvollzug typischerweise an die Bedingungen ständiger Überwachungen angepasst und somit mit dem Verhalten außerhalb des Strafvollzugs kaum vergleichbar sei. Abgesehen davon ist das Vorbringen insbesondere betreffend eine Eheschließung mit der Lebensgefährtin des Klägers spekulativ und auch sonst nicht geeignet, die Ausführungen des Verwaltungsgerichts zu einem nicht stabilen sozialen Umfeld des Klägers zu entkräften. Zudem entfiele das besonders schwere Ausweisungsinteresse selbst dann nicht, wenn die gegen die Lebensgefährtin verübte Gewalttat unberücksichtigt bliebe. Wie das Verwaltungsgericht zu Recht ausführt, erfüllt der Kläger das besonders schwerwiegende Ausweisungsinteresse nicht nur nach § 54 Abs. 1 Nr. 1a AufenthG, sondern auch nach § 54 Abs. 1 Nr. 1 AufenthG (UA S. 16).

21

b. Die Kritik des Klägers an der vom Verwaltungsgericht nach § 53 Abs. 1 AufenthG vorgenommenen Abwägung der Interessen an der Ausreise des Klägers mit seinen Interessen an einem weiteren Verbleib im Bundesgebiet begründet keine ernstlichen Zweifel an der Richtigkeit der Entscheidung des Verwaltungsgerichts. Der Kläger meint, er könne sich auf ein besonders schwerwiegendes Bleibeinteresse nach § 55 Abs. 1 Nr. 2 AufenthG berufen. Diese Auffassung trifft nicht zu. Wie das Verwaltungsgericht zu Recht und vom Kläger insoweit unangegriffen festgestellt hat, ist § 55 Abs. 1 Nr. 2 AufenthG nicht einschlägig, weil der Kläger zum maßgeblichen Zeitpunkt des Erlasses der Ausweisung nicht im Besitz einer Aufenthaltserlaubnis war (vgl. OVG Hamburg, Beschl. v. 27.4.2017, 1 Bf 4/17.Z, n. v.). § 55 Abs. 1 AufenthG ist, anders als der Kläger meint, im Gegensatz zu § 55 Abs. 2 AufenthG, eine abschließende Regelung (Cziersky-Reis in Hofmann, Ausländerrecht, 2. Aufl. 2016, § 55 AufenthG Rn. 1). Vor diesem Hintergrund geht auch das übrige Vorbringen des Klägers zur Interessenabwägung ins Leere.

22

c. Ergänzend ist darauf hinzuweisen, dass die Ausführungen des Verwaltungsgerichts, auch aufgrund von generalpräventiven Erwägungen sei von einem Überwiegen des Ausweisungsinteresses auszugehen, die Rechtmäßigkeit der Ausweisungsverfügung selbständig tragend begründen. Diese Ausführungen hat der Kläger im Zulassungsantrag nicht angegriffen, so dass – in Bezug auf die Rechtmäßigkeit der Ausweisung – bereits aus diesem Grund keine ernstlichen Zweifel an der Richtigkeit des angefochtenen Urteils bestehen.

23

2. Auch die Kritik des Klägers daran, dass das Verwaltungsgericht die Befristungsentscheidung der Beklagten für ermessensfehlerfrei erachtet, greift nicht durch.

24

Zu Recht ist das Verwaltungsgericht davon ausgegangen, dass es sich bei der Entscheidung der Beklagten über die Dauer des Einreise- und Aufenthaltsverbots nach § 11 Abs. 1 und Abs. 3 AufenthG um eine in das Ermessen der Beklagten gestellte Entscheidung handelt. Der Senat hat sich bereits der hierzu ergangenen Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts (BVerwG, Urt. v. 22.2.2017, 1 C 27.16, BVerwGE 157, 356, juris) angeschlossen (OVG Hamburg, Beschl. v. 27.4.2017, 1 Bf 4/17.Z n. v.). Es ist deshalb nicht zu beanstanden, dass das Verwaltungsgericht die Befristungsentscheidung, wie der Kläger zu Recht feststellt, “lediglich formal hinsichtlich der Ermessensausübung“ prüft, nämlich im Rahmen der eingeschränkten Prüfungskompetenz gemäß § 114 Satz 1 VwGO.

25

Das Verwaltungsgericht hat ausgeführt, die Beklagte habe in ermessensfehlerfreier Weise die Frist für das Einreise- und Aufenthaltsverbot nach § 11 Abs. 1 und Abs. 3 AufenthG auf sieben Jahre ab dem Tag der Ausreise befristet. Die Beklagte halte es in nachvollziehbarer Weise zur Gefahrenabwehr für erforderlich, dass der Kläger für einen längeren Zeitraum dem Bundesgebiet fernbleibe. Die Länge der Frist von sieben Jahren stehe auch im Einklang mit § 11 Abs. 3 Satz 2 AufenthG.

26

Der Kläger hat nicht dargelegt, dass diese vom Verwaltungsgericht vorgenommene Überprüfung der von der Beklagten im Widerspruchsbescheid unter Hinweis auf § 11 Abs. 3 AufenthG in der ab dem 1. August 2015 geltenden Fassung vorgenommenen Ermessensentscheidung bezüglich der Befristung des Einreise- und Aufenthaltsverbots ernstlich zweifelhaft ist.

27

Der Kläger trägt vor, in der im Widerspruchsbescheid vorgenommenen Ermessensentscheidung habe die Beklagte seine nachfolgende positive Entwicklung nicht berücksichtigt. Im Rahmen der Ermessensentscheidung wäre in einem ersten Schritt unter Berücksichtigung des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes der Zeitpunkt zu ermitteln gewesen, zu dem der Zweck der Ausweisung voraussichtlich erreicht sei, also eine konkrete Wiederholungsgefahr nicht mehr angenommen werden könne. Hierbei wäre neben den von der Beklagten aufgeführten Erwägungen auch und insbesondere zu berücksichtigen gewesen, dass er - der Kläger - die Strafvollstreckung inzwischen fast vollständig und erfolgreich abgeschlossen habe, sodass mit der Strafrestaussetzung zur Bewährung zu rechnen sei, weil ihm eine positive Prognose zu erteilen sei. Hinzu komme, dass er beabsichtige, eine Familie zu gründen und an der Eheschließung derzeit lediglich gehindert sei, weil er die erforderlichen Papiere aus der Haft heraus nicht zügig herbeischaffen könne. Darüber hinaus wären in einem zweiten Schritt sämtliche im konkreten Kontext schutzwürdigen Klägerinteressen in den Blick zu nehmen gewesen. Beide streng voneinander getrennten Schritte habe weder die Beklagte noch das Verwaltungsgericht angestellt. Auch das Verwaltungsgericht habe die im zweiten Schritt unter nochmaliger Berücksichtigung des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes gebotene Reduzierung der Frist nicht für erforderlich gehalten, sondern für eine Überprüfung der Ermessenserwägungen überhaupt keinen Raum gesehen.

28

Der Kläger weist im Ausgangspunkt zu Recht darauf hin, dass bei der Festlegung der Dauer der Sperrfrist zwei Bewertungsstufen zu durchlaufen sind. Hieran hat sich durch § 11 Abs. 3 Satz 1 AufenthG, wonach über die Dauer der Frist nach Ermessen entschieden wird, nichts geändert (OVG Hamburg, Beschl. v. 27.4.2017, 1 Bf 4/17.Z, n. v., unter Hinweis auf BVerwG, Urt. v. 22.2.2017, 1 C 27.16, juris Rn. 23). Im Übrigen dringt der Kläger mit seiner Kritik nicht durch. Die im Widerspruchsbescheid angestellten Erwägungen, die das Verwaltungsgericht als ermessensfehlerfrei angesehen hat, boten keinen Anlass zur Feststellung eines Ermessensfehlers. Die Beklagte hat im Widerspruchsbescheid das vom Kläger angemahnte zweistufige Prüfprogramm vollzogen. Sie hat eingangs mit teilweise vom Bundesverwaltungsgericht verwendeten Formulierungen zum Prüfprogramm (vgl. BVerwG, Urt. v. 10.7.2012, 1 C 19.11, BVerwGE 143, 277, juris Rn. 42) festgestellt, bei der festzusetzenden Frist seien die Schwere des in der Vergangenheit gezeigten persönlichen Fehlverhaltens des Ausländers und der mit der Ausweisung verfolgte Zweck zu berücksichtigen. Es bedürfe der prognostischen Einschätzung im jeweiligen Einzelfall, wie lange das Verhalten des Betroffenen, das der Ausweisung zugrunde liege, das öffentliche Interesse an der Gefahrenabwehr zu tragen vermöge. Dabei seien die Dauer des Aufenthaltes des Ausländers in Deutschland, sein Alter, sein Gesundheitszustand, seine familiäre und wirtschaftliche Lage, seine soziale und kulturelle Integration in Deutschland und das Ausmaß seiner Bindungen zum Herkunftsland bei der Befristungsentscheidung zu berücksichtigen. Eine entsprechende Prüfung hat die Beklagte sodann vorgenommen. Insbesondere hat eine Würdigung der auf der zweiten Stufe vorzunehmenden Abwägung mit den schutzwürdigen Belangen des Klägers stattgefunden (s. S. 9 des Widerspruchsbescheids). Dass der Kläger die Strafvollstreckung “inzwischen fast vollständig und erfolgreich abgeschlossen hat“, traf angesichts der nach Aktenlage auch weiterhin fehlenden positiven Entscheidung über die Strafaussetzung zur Bewährung nicht zu und war demgemäß von der Beklagten auch nicht im Rahmen der Ermessensentscheidung zu berücksichtigen. Gleiches gilt hinsichtlich der nicht erfolgten Eheschließung mit der Lebensgefährtin des Klägers. Vor diesem Hintergrund ist auch nicht dargetan, welche - erhebliche - “nachfolgende positive Entwicklung des Klägers im Strafvollzug“ die Beklagte in ihren Ermessenserwägungen nicht berücksichtigt hat.

29

Inwieweit die von der Beklagten vorgenommene Würdigung der schutzwürdigen Interessen des Klägers nicht ausreicht, sondern in einem zweiten Schritt “sämtliche im konkreten Kontext schutzwürdigen Interessen des Klägers in den Blick zu nehmen gewesen“ wären, legt der Kläger nicht substantiiert dar. Im Übrigen nimmt der Widerspruchsbescheid (vgl. S. 5) ergänzend auf die Ausführungen der Ausweisungsverfügung vom 30. April 2015 Bezug, in der ausführlich auf die zu berücksichtigenden Interessen des Klägers eingegangen wird. Dass, wie der Kläger möglicherweise meint, im zweiten Schritt stets eine Reduzierung der Frist geboten sei, trifft nicht zu.

30

Die Rüge des Klägers, das Verwaltungsgericht verkenne, dass für das Einreise- und Aufenthaltsverbot oberhalb der von der Richtlinie 2008/115/EG vorgegebenen Grenze von fünf Jahren allein spezialpräventive Gründe herangezogen werden dürften, lässt schon keinen konkreten Bezug zum Urteil des Verwaltungsgerichts erkennen. Das Verwaltungsgericht hat sich zu der Art der präventiven Gründe für die Fristbestimmung nicht geäußert. Die Beklagte hat im Widerspruchsbescheid ausgeführt, dass eine kürzer als sieben Jahre bemessene Frist die Gefahr birge, dass der Kläger in alte Verhaltensmuster zurückfalle und erneut nicht unerhebliche Straftaten begehe. Sie hat damit die Befristungslänge von sieben Jahren als spezialpräventiv gerechtfertigt angesehen. Die Beklagte hat zusätzlich die generalpräventiv bezweckte Wirkung der Sperrfrist hervorgehoben, ohne hierfür eine Fristverlängerung vorzunehmen.

31

Die Fristlänge von fünf Jahren darf im vorliegenden Fall, wie das Verwaltungsgericht zu Recht angemerkt hat, gemäß § 11 Abs. 3 Satz 2 AufenthG überschritten werden, weil der Kläger aufgrund strafrechtlicher Verurteilungen ausgewiesen worden ist und von ihm eine schwerwiegende Gefahr für die öffentliche Sicherheit und Ordnung ausgeht.

32

3. Der Kläger trägt weiter vor, im Hinblick auf die faktische Inländerschaft bestehe für ihn ein rechtliches Abschiebehindernis, welches er nicht zu vertreten habe, sodass ihm eine Aufenthaltserlaubnis aus humanitären Gründen zu erteilen sei, mithin nach § 11 Abs. 4 Satz 2 AufenthG das Einreise- und Aufenthaltsverbot aufgehoben werden solle, der Beklagten insoweit kein Beurteilungsspielraum eingeräumt sei, sodass ihm auch die Aufenthaltserlaubnis zu erteilen sei.

33

Damit rügt der Kläger die Feststellung des Verwaltungsgerichts, die Beklagte habe den Antrag auf Erteilung der Aufenthaltserlaubnis zu Recht nach § 11 Abs. 1 AufenthG sowie § 5 Abs. 1 Nr. 2 AufenthG abgelehnt. Einem ausgewiesenen Ausländer dürfe, selbst im Falle eines Anspruchs, ein Aufenthaltstitel nicht erteilt werden.

34

Die Rüge greift schon deswegen nicht durch, weil das vom Kläger ohne Weiteres behauptete rechtliche Abschiebehindernis nicht hinreichend dargelegt worden ist. Der Verweis auf eine “faktische Inländerschaft“ des Klägers reicht nicht aus. Das gilt schon deswegen, weil der Begriff “faktischer Inländer“ nicht einheitlich definiert ist. Der Begriff wird in der Rechtsprechung unterschiedlich umschrieben. Das Bundesverwaltungsgericht definiert in einer Entscheidung faktische Inländer als “im Bundesgebiet geborene und aufgewachsene Kinder, deren Eltern sich hier erlaubt aufhalten“ (vgl. BVerwG, Urt. v. 16.7.2002, 1 C 8/02, BVerwGE 116, 378, juris Rn. 23). Das Bundesverfassungsgericht umschreibt den Begriff mit “hier geborene bzw. als Kleinkinder nach Deutschland gekommene Ausländer“ (vgl. BVerfG, Beschl. v. 19.10.2016, 2 BvR 1943/16, InfAuslR 2017, 8, juris Rn. 19). Die Bezeichnung eines Ausländers als faktischer Inländer entbindet bei der Beurteilung eines auf Artikel 6 Abs. 1 GG oder Art. 8 EMRK gestützten Abschiebungshindernisses jedenfalls nicht davon, die im jeweiligen Einzelfall gegebenen Merkmale der Verwurzelung zu prüfen. Demgemäß führt das Bundesverwaltungsgericht in einer Entscheidung aus, eine Verletzung des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes komme etwa bei Ausländern in Betracht, die aufgrund ihrer gesamten Entwicklung faktisch zu Inländern geworden seien und denen wegen der Besonderheiten des Falles ein Leben im Staat ihrer Staatsangehörigkeit, zu dem sie keinen Bezug hätten, nicht zuzumuten sei (BVerwG, Urt. v. 29.9.1998, 1 C 8/96, InfAuslR 1999, 54, juris Rn. 30 unter Hinweis auf EGMR, Urt. v. 26.3.1992, EuGRZ 1993, 556 und EGMR, Urt. v. 26.9.1997, InfAuslR 1997, 430). Dementsprechendes hat der Kläger nicht dargelegt; er hat sich auch nicht mit den Ausführungen des Verwaltungsgerichts zu den Bleibeinteressen des Klägers und zur mangelnden Entwurzelung auseinandergesetzt.

35

Der Verweis des Klägers auf seine “faktische Inländerschaft“ reicht auch deswegen nicht aus, weil für faktische Inländer kein generelles Ausweisungsverbot besteht (BVerfG, Beschl. v. 19.10.2016, 2 BvR 1943/16, InfAuslR 2017, 8, juris Rn. 19; vgl. zu einer Abschiebungsanordnung gegenüber einem faktischen Inländer BVerwG, Urt. v. 22.8.2017, 1 A 3/17, InfAuslR 2018, 11, juris Rn. 41).

36

Der Hinweis des Klägers auf § 11 Abs. 4 Satz 2 AufenthG, wonach das Einreise- und Aufenthaltsverbot aufgehoben werden soll, wenn die Voraussetzungen für die Erteilung eines Aufenthaltstitels nach Kapitel 2 Abschnitt 5 vorliegen, verfängt nicht. Die „Soll“-Bestimmung berücksichtigt, dass es in Einzelfällen Belangen der Bundesrepublik Deutschland entgegenstehen kann, wenn das Einreise- und Aufenthaltsverbot aufgehoben oder verkürzt würde, selbst wenn ein Erteilungstatbestand nach Kapitel 2 Abschnitt 5 erfüllt wird. Dies wäre zum Beispiel der Fall, wenn - wie vorliegend - ein Aufenthaltsstatus wegen Straftaten zum Schutz der öffentlichen Sicherheit und Ordnung nicht verfestigt werden soll (vgl. Maor in Kluth/Heusch, Ausländerrecht, 2016, § 11 AufenthG Rn. 31).

III.

37

Die Kostenentscheidung beruht auf § 154 Abs. 2 VwGO. Die Festsetzung des Streitwerts folgt aus § 47 Abs. 1 und 3 i. V. m. § 52 Abs. 1 und 2, § 39 Abs. 1 GKG mit Blick auf die Ziffern 8.1 und 8.2 des Streitwertkatalogs.

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