Beschluss vom Niedersächsisches Oberverwaltungsgericht (4. Senat) - 4 LA 51/18

Tenor

Der Antrag der Beklagten auf Zulassung der Berufung gegen das Urteil des Verwaltungsgerichts Osnabrück - 4. Kammer - vom 25. Januar 2018 wird abgelehnt.

Gerichtskosten werden nicht erhoben. Die Beklagte trägt die außergerichtlichen Kosten des Berufungszulassungsverfahrens.

Gründe

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Der zulässige Antrag der Beklagten, die Berufung gegen das erstinstanzliche Urteil nach § 124 Abs. 2 Nr. 1 VwGO wegen ernstlicher Zweifel an dessen Richtigkeit zuzulassen, bleibt ohne Erfolg.

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Die Beklagte hatte dem Kläger mit Bescheid vom 25. Februar 2013 einen Maßnahmebeitrag als Zuschuss zu den Kosten einer Lehrveranstaltung nach dem Aufstiegsfortbildungsförderungsgesetz (AFBG) unter dem Vorbehalt der Einstellung und Rückforderung der Leistungen bewilligt und dem Kläger aufgegeben, einen Nachweis des Bildungsträgers über die regelmäßige Teilnahme an der Maßnahme vorzulegen. Den vom Kläger vorgelegten Nachweis hatte die Beklagte für unzureichend gehalten und daraufhin nach Anhörung des Klägers mit Bescheid vom 28. September 2015, der dem Kläger am 12. Oktober 2015 bekanntgegeben worden war, den Bewilligungsbescheid aufgehoben und bereits erbrachte Leistungen zurückgefordert. Diesen Aufhebungs- und Erstattungsbescheid hatte die Beklagte auf §§ 16 Abs. 1 Nr. 2 i. V. m. 9 Satz 6 AFBG a.F. sowie §§ 27a AFBG, 50 SGB X gestützt. Diese Rechtsgrundlagen sehen keine Ausübung von Ermessen vor. Nach erfolglosem Widerspruchsverfahren hatte der Kläger gegen den Bescheid vom 28. September 2015 am 11. November 2015 Klage erhoben. Nachdem das Verwaltungsgericht auf den Beschluss des Senats vom 2. August 2016 (4 LC 152/14), wonach Bewilligungsbescheide über Maßnahmebeiträge nicht auf der Grundlage von §§ 16 Abs. 1 Nr. 2 i. V. m. 9 Satz 6 AFBG aufgehoben werden dürfen, sondern gemäß § 47 SGB X nach Ausübung pflichtgemäßen Ermessens widerrufen werden können, hingewiesen hatte, hob die Beklagte mit Bescheid vom 24. Oktober 2016 den angefochtenen Aufhebungs- und Erstattungsbescheid vom 28. September 2015 sowie erneut den Bewilligungsbescheid vom 25. Februar 2013 auf, diesmal auf der Grundlage von §§ 9, 27a AFBG a.F. i. V. m. § 47 Abs. 2 Satz 1 Nr. 2 SGB X, und forderte bereits erbrachte Leistungen zurück. Nach erfolglosem Widerspruchsverfahren war die Klage des Klägers gegen den zweiten Aufhebungs- und Erstattungsbescheid erfolgreich.

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Der auf den Zulassungsgrund der ernstlichen Richtigkeitszweifel gestützte Berufungszulassungsantrag der Beklagten führt nicht zur Zulassung der Berufung. Denn er ist unbegründet. Ernstliche Richtigkeitszweifel am erstinstanzlichen Urteil sind nicht gegeben. Denn das Verwaltungsgericht hat den Aufhebungs- und Erstattungsbescheid vom 24. Oktober 2016 in der Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 17. November 2016 zu Recht aufgehoben, weil die Beklagte diesen Bescheid nicht innerhalb der nach §§ 27a AFBG, 47 Abs. 2 Satz 5, 45 Abs. 4 Satz 2 SGB X zu beachtenden Jahresfrist erlassen hat.

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Nach § 47 Abs. 2 Satz 1 SGB X, der nach § 27a AFBG Anwendung findet, kann ein rechtmäßiger begünstigender Verwaltungsakt, der eine Geld- oder Sachleistung zur Erfüllung eines bestimmten Zweckes zuerkennt oder hierfür Voraussetzung ist, auch nachdem er unanfechtbar geworden ist, ganz oder teilweise auch mit Wirkung für die Zukunft nur widerrufen werden, wenn 1. die Leistung nicht, nicht alsbald nach der Erbringung oder nicht mehr für den in dem Verwaltungsakt bestimmten Zweck verwendet wird, 2. mit dem Verwaltungsakt eine Auflage verbunden ist und der Begünstigte diese nicht oder nicht innerhalb einer ihm gesetzten Frist erfüllt hat. Nach § 47 Abs. 2 Satz 5 SGB X gilt § 45 Abs. 4 Satz 2 SGB X entsprechend, wonach die Behörde den Verwaltungsakt für die Vergangenheit innerhalb eines Jahres seit Kenntnis der Tatsachen, welche die Rücknahme eines rechtswidrigen begünstigenden Verwaltungsaktes für die Vergangenheit rechtfertigen, zurücknehmen muss. Die Jahresfrist des § 45 Abs. 4 Satz 2 SGB X beginnt, wenn der Leistungsträger sämtliche für die Rücknahmeentscheidung erheblichen Tatsachen vollständig kennt. Zu den für die Rücknahmeentscheidung erheblichen Tatsachen gehören die Umstände, deren Kenntnis es der Behörde objektiv ermöglicht, ohne weitere Sachaufklärung unter sachgerechter Ausübung ihres Ermessens über die Rücknahme zu entscheiden. Dies entspricht dem Zweck der Jahresfrist als einer Entscheidungsfrist, die sinnvollerweise erst anlaufen kann, wenn der zuständigen Behörde alle für die Rücknahmeentscheidung bedeutsamen Tatsachen bekannt seien (Senatsbeschl. v. 20.11.2001 - 4 MA 3282/01 -). Das Fristerfordernis gemäß § 45 Abs. 4 Satz 2 SGB X erschöpft sich nicht darin, die Verwaltung zu einer (ersten) Entscheidung über die Rücknahme zu veranlassen, sondern begrenzt in zeitlicher Hinsicht zugleich auch den Erlass weiterer, den Erstbescheid ersetzender Entscheidungen (BVerwG, Urt. v. 19.12.1995 - 5 C 10.94 -, BVerwGE 100, 199, 204). Demgegenüber ist das Urteil des Bundesverwaltungsgerichts vom 28. Juni 2012 (- 2 C 13.11 -, BVerwGE 143, 230), wonach bei der Aufhebung eines auf § 48 VwVfG gestützten Rücknahmebescheides im Widerspruchs- oder Klageverfahren die Jahresfrist des § 48 Abs. 4 Satz 1 VwVfG ab dem Zeitpunkt der Unanfechtbarkeit der aufhebenden Entscheidung zu laufen beginnen soll, auf den vorliegenden Fall eines auf § 47 SGB X gestützten Widerrufsbescheides, bei dem sich die Jahresfrist nach §§ 47 Abs. 2 Satz 5, 45 Abs. 4 Satz 2 SGB X bestimmt, nicht übertragbar. Dies hat das Bundesverwaltungsgericht in dem o.a. Urteil selbst ausdrücklich ausgeführt (a.a.O., Rn. 34) und u.a. damit begründet, dass die Regelungen der § 44 ff. SGB X die Befugnis zur Rücknahme rechtswidriger Verwaltungsakte, die Sozialleistungen gewähren, gegenüber § 48 VwVfG deutlich einschränken.

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Gemessen an diesen Maßstäben unterliegt die Entscheidung des Verwaltungsgerichts keinen ernstlichen Zweifeln. Das Verwaltungsgericht hat zutreffend angenommen, dass es sich bei der Jahresfrist nach §§ 47 Abs. 2 Satz 5, 45 Abs. 4 Satz 2 SGB X um eine Entscheidungsfrist handelt, die beginnt, wenn die Widerrufsbehörde den Auflagenverstoß erkannt hat und ihr die weiteren für die Widerrufsentscheidung erheblichen Tatsachen vollständig bekannt sind. Weiter ist das Verwaltungsgericht richtigerweise davon ausgegangen, dass es auf den Beginn der Jahresfrist im Sinne von § 45 Abs. 4 Satz 2 SGB X keinen Einfluss hat, ob die Behörde davon Kenntnis hatte, dass der Widerruf eine Ermessensausübung voraussetzt. Keinen ernstlichen Zweifeln unterliegt ferner die Annahme des Verwaltungsgerichts, dass – gemessen am Zeitpunkt der Bekanntgabe des (ersten) Aufhebungs- und Erstattungsbescheides am 12. Oktober 2015 als spätestmöglichem Fristbeginn – die Jahresfrist bei Erlass des (zweiten) Widerrufs- und Erstattungsbescheides vom 24. Oktober 2016 abgelaufen gewesen ist.

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Die Einwände der Beklagten führen zu keiner anderen Beurteilung der Sach- und Rechtslage. Entgegen ihrer Ansicht weist der vorliegende Fall keine Besonderheiten auf, die es rechtfertigen würden, von den soeben ausgeführten Grundsätzen, insbesondere dem Urteil des Bundesverwaltungsgerichts vom 19. Dezember 1995 (- 5 C 10.94 -, BVerwGE 100, 199), abzuweichen. Die Annahme der Beklagten, dass sie mangels anderweitiger Erkenntnisfähigkeit davon ausgehen durfte, ihren ersten Widerrufs- und Erstattungsbescheid vom 28. September 2015 ohne Ausübung von Ermessen auf der Grundlage von § 16 Abs. 1 AFBG a.F. rechtmäßig erlassen zu haben, und dass deshalb die Jahresfrist erst ab Kenntnis von dem Wandel der Rechtsauffassung hinsichtlich des § 16 Abs. 1 AFBG als tauglicher Rechtsgrundlage in der obergerichtlichen Rechtsprechung zu laufen begonnen habe, greift nicht durch. Denn auf die subjektive Fähigkeit der Rücknahme- bzw. Widerrufsbehörde, die Reichweite und die rechtlichen Anforderungen der Rücknahme- bzw. Widerrufsermächtigung richtig zu erkennen, kommt es nicht an. Rechtsirrtümer, die insoweit trotz umfassender Tatsachenkenntnis unterlaufen, gehen zu Lasten der Behörde (vgl. BVerwG, Urt. v. 19.12.1995 - 5 C 10.94 -, BVerwGE 100, 199, 203). Der vorliegende Fall unterscheidet sich auch nicht wesentlich von Fällen, in denen ein auf der richtigen Rechtsgrundlage ergangener Aufhebungs- und Erstattungsbescheid wegen eines Ermessensfehlers aufgehoben wurde und für die anerkannt ist, dass die Aufhebung des Bescheides auf den Beginn der Jahresfrist nach § 45 Abs. 4 Satz 2 SGB X keinen Einfluss hat (vgl. BSG, Urt. v. 30.6.1999 - B 2 U 24/98 R -, juris Rn. 33 u. Urt. v. 17.3.2016 - B 4 AS 18/15 R -, juris Rn. 25). Denn der Irrtum der Beklagten über die anzuwendende Rechtsgrundlage steht einem Ermessensfehler in der Gestalt des Ermessensausfalls gleich. Im Übrigen kann auch entgegen der Ansicht der Beklagten nicht davon ausgegangen werden, dass eine gesicherte höchstrichterliche oder obergerichtliche Rechtsprechung, nach der Maßnahmebescheide auf der Grundlage von § 16 Abs. 1 AFBG aufzuheben seien, bei Erlass des Bescheides vorgelegen habe. Auch aus dem Beschluss des Bayerischen Verwaltungsgerichtshofs vom 19. April 2016 (- 12 B 15.2304 -) und den Beschlüssen des Senats vom 2. August 2016 (- 4 LC 152/14 -) und vom 23. September 2016 (- 4 LC 107/14 -) ergibt sich diesbezüglich nichts.

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Ohne Erfolg bleibt außerdem der Einwand der Beklagten, dass der Kläger sich nicht auf den gesteigerten Vertrauensschutz der Rücknahme- und Widerrufsbestimmungen des SGB X habe berufen dürfen, weil es sich bei dem Maßnahmebeitrag nicht um eine klassische Sozialleistung wie Kinder- oder Arbeitslosengeld gehandelt habe. Vielmehr hat der Gesetzgeber in § 27a AFBG die Anwendung des Sozialgesetzbuchs ausdrücklich angeordnet, soweit das Aufstiegsfortbildungsförderungsgesetz keine abweichende Regelung enthält. Wie der vom Beklagten geltend gemachte geringere Vertrauensschutz von Empfängern von Aufstiegsfortbildungsförderung gegenüber Empfängern anderer Sozialleistungen mit dieser gesetzgeberischen Entscheidung in Einklang gebracht werden soll, erschließt sich dem Senat nicht. Die Regelung des § 45 Abs. 4 Satz 2 SGB X, die es ausschließt, dass die Behörde einen aufgehobenen fehlerhaften ersten Rücknahme- bzw. Widerrufsbescheid nach Ablauf der Jahresfrist durch Erlass eines weiteren Bescheides korrigiert, verstößt auch nicht gegen den Gleichbehandlungsgrundsatz oder das Rechtsstaatsprinzip. Vielmehr trägt diese Regelung in verfassungsrechtlich unbedenklicher Weise dem Grundsatz der Rechtssicherheit Rechnung, indem Rechtsirrtümer, die bei der Abwendung der Ermächtigungsgrundlage für die Aufhebung unterlaufen, zu Lasten der Rücknahme- bzw. Widerrufsbehörde gehen (vgl. BVerwG, Urt. v. 19.12.1995 - 5 C 10.94 -, BVerwGE 100, 199, 203).

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Schließlich kann der Beklagten nicht darin gefolgt werden, dass sie nach dem Hinweis des Verwaltungsgerichts vom 12. September 2016 darauf, dass § 16 Abs. 1 AFBG als Rechtsgrundlage für die Aufhebung des Bewilligungsbescheides vom 25. Februar 2013 nicht in Betracht komme, mehr Zeit für den Erlass eines neuen Aufhebungsbescheides benötigt hätte. Dem steht bereits das eigene Verhalten der Beklagten entgegen, die schon mit Schreiben vom 19. September 2016 angekündigt hatte, den fehlerhaften Bescheid aufzuheben. Im Übrigen kommt es nach den obigen Ausführungen zur Rechtslage darauf auch gar nicht an, weil eine Korrektur des fehlerhaften ersten Aufhebungsbescheides eben unabhängig davon, wann die Beklagte ihren Rechtsanwendungsfehler erkannt hatte, nach §§ 47 Abs. 2 Satz 5, 45 Abs. 4 Satz 2 SGB X nur innerhalb der Jahresfrist, deren Lauf vorliegend spätestens mit Bekanntgabe des ersten Aufhebungs- und Erstattungsbescheides am 12. Oktober 2015 begonnen hatte, hätte erfolgen können.

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Die Kostenentscheidung beruht auf §§ 154 Abs. 2 und 188 VwGO.

10

Dieser Beschluss ist unanfechtbar (§ 152 Abs. 1 VwGO).

 


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