Beschluss vom Oberverwaltungsgericht Nordrhein-Westfalen - 12 A 503/13
Tenor
Der Antrag auf Bewilligung von Prozesskostenhilfe wird abgelehnt.
Die Berufung des Klägers wird zugelassen.
Die Kostenentscheidung bleibt der Endentscheidung im Berufungsverfahren vorbehalten.
1
G r ü n d e :
2I.
3Der Antrag des Klägers auf Bewilligung von Prozesskostenhilfe ist abzulehnen, da der Kläger mit der vorgelegten Erklärung über seine persönlichen und wirtschaftlichen Verhältnisse vom 24. März 2013 nicht dargelegt hat, dass er die Kosten der Prozessführung nicht, nur zum Teil oder nur in Raten aufbringen kann (§ 166 Abs. 1 Satz 1 VwGO i. V. m. § 114 Abs. 1 Satz 1 ZPO). Denn die für das Berufungszulassungsverfahren anfallenden Kosten der Prozessführung übersteigen vier Monatsraten voraussichtlich nicht (§ 166 Abs. 1 Satz 1 VwGO i. V. m. § 115 Abs. 4 ZPO).
4Ausgehend von den Angaben des Klägers in seiner PKH-Erklärung vom 24. März 2013 ergibt sich auf der Grundlage von § 166 Abs. 1 Satz 1 VwGO i. V. m. § 115 ZPO folgendes Bild (Beträge in Schweizer Franken wurden mit einem Kurs von 1 CHF = 0,82292 € in Euro umgerechnet; www.oanda.com vom 21. Juli 2014):
5EINKÜNFTE
6Bruttoeinkommen: 11.301,22 €
7Kindergeld: 486,07 €
8Summe der Einkünfte 11.787,29 €
9ABZÜGE (§ 82 Abs. 2 SGB XII)
10Steuern 301,67 €
11Sozialabgaben 1.783,72 €
12Krankenversicherung 360,73 €
13Haftpflicht-/Hausratversicherung 52,70 €
14Summe der Abzüge 2.498,82 €
15FREIBETRÄGE/UNTERHALTSZAHLUNGEN
16Erwerbsfreibetrag § 115 I Nr. 1 b ZPO 206,00 €
17Freibetrag Partei 452,00 €
18Unterhalt für geschiedene Ehefrau 2.794,93 €
19Unterhalt für erstes Kind 1.336,70 €
20Unterhalt für zweites Kind 1.336,70 €
21Summe der Freibeträge/Unterhaltszahlungen 6.126,33 €
22WOHNKOSTEN
23anrechenbare Wohnkosten 2.025,71 €
24BESONDERE BELASTUNGEN
25Pfändung 39,06 €
26Telefon, Internet 151,90 €
27Radio, Fernsehen 46,82 €
28SUMME ALLER ABZÜGE 10.888,64 €
29ERGEBNIS
30anrechenbares Einkommen 898,65 €
31gerundet 898,00 €
32PKH-Rate (300,00 € + 298,00 € =) 598,00 €
33(vgl. § 115 Abs. 2 Satz 3 ZPO)
34Demgemäß beläuft sich der nach § 115 Abs. 4 ZPO maßgebliche Betrag von vier Monatsraten auf 2.392,00 €. Ausgehend von dem Gegenstandswert, den der Prozessbevollmächtigte des Klägers in seinem Kostenerstattungsantrag vom 24. Januar 2013 angegeben hat (2.458,00 Euro), erreichen die voraussichtlichen Kosten der Prozessführung, die sich hier in Anbetracht der Gerichtskostenfreiheit (§ 188 Satz 2 Halbsatz 1 VwGO) im Wesentlichen auf die Anwaltskosten der Klägerseite beschränken, den genannten Schwellenwert offensichtlich nicht.
35II.
36Die Berufungszulassung beruht auf § 124 Abs. 2 Nr. 1 VwGO. Das Zulassungsvorbringen begründet in Bezug auf die entscheidungstragende Annahme des Verwaltungsgerichts, der Feststellungs- und Rückzahlungsbescheid der Beklagten vom 9. Juni 2007 sei wirksam nach § 10 VwZG öffentlich zugestellt worden, ernstliche Zweifel an der Richtigkeit des angefochtenen Urteils, die der Kläger sinngemäß geltend macht.
37Gemäß § 10 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 VwZG kann die Zustellung durch öffentliche Bekanntmachung erfolgen, wenn der Aufenthaltsort des Empfängers unbekannt ist und eine Zustellung an einen Vertreter oder Zustellungsbevollmächtigten nicht möglich ist. § 10 Abs. 1 Satz 1 Nr. 3 VwZG besagt, dass eine öffentliche Zustellung auch erfolgen kann, wenn eine Zustellung im Ausland nicht möglich ist oder keinen Erfolg verspricht.
38Hier hatte es der Kläger unterlassen, dem Bundesverwaltungsamt seine neue Anschrift in der Schweiz mitzuteilen, nachdem er dorthin seinen Wohnsitz verlegt hatte. Auf den Postrücklauf des Bescheides vom 9. Juni 2007 hin unternommene Ermittlungen des Bundesverwaltungsamtes bei inländischen Behörden führten lediglich zu der Erkenntnis, dass der Kläger zum 31. Dezember 2005 in die Schweiz verzogen sei; eine konkrete Anschrift war nicht bekannt. Eine Zustellung an einen Vertreter oder Bevollmächtigten schied ersichtlich aus.
39Es spricht Einiges dafür, dass das Bundesverwaltungsamt in dieser Situation nicht ohne Weiteres dazu berechtigt war, die öffentliche Zustellung seines Bescheides zu veranlassen. Denn bei der Prüfung der vorgenannten Voraussetzungen ist zu berücksichtigen, dass die Zustellungsvorschriften insoweit der Verwirklichung des Anspruchs auf rechtliches Gehör dienen, als sie gewährleisten sollen, dass der Adressat Kenntnis von dem zuzustellenden Schriftstück nehmen und seine Rechtsverteidigung oder Rechtsverfolgung darauf einrichten kann. Dies gilt mit Blick auf Art. 103 Abs. 1 GG nicht nur für Zustellungen im gerichtlichen Verfahren, sondern auch für Zustellungen im Verwaltungsverfahren, in dem der Grundsatz des rechtlichen Gehörs gleichfalls kraft Verfassungsrechts zu beachten ist. Die Erfüllung der Voraussetzungen für eine öffentliche Zustellung gewinnt besondere Bedeutung, weil das öffentlich ausgehängte Schriftstück nach dem Ablauf einer bestimmten Frist als zugestellt „gilt" (§ 10 Abs. 2 Satz 6 VwZG; vgl. auch § 188 Satz 1 ZPO, § 40 Abs. 1 Satz 2 StPO), dem Empfänger also nicht übergeben und regelmäßig auch inhaltlich nicht bekannt wird. Diese Zustellungsfiktion ist verfassungsrechtlich nur zu rechtfertigen, wenn eine andere Form der Zustellung aus sachlichen Gründen nicht oder nur schwer durchführbar ist. Sie ist als „letztes Mittel" der Bekanntgabe zulässig, wenn alle Möglichkeiten erschöpft sind, das Schriftstück dem Empfänger in anderer Weise zu übermitteln. Vor diesem Hintergrund ist die Voraussetzung des „unbekannten Aufenthaltsortes des Empfängers“ nicht schon dann erfüllt, wenn der Aufenthaltsort der Behörde unbekannt ist; vielmehr sind gründliche und sachdienliche Bemühungen um Aufklärung des gegenwärtigen Aufenthaltsorts erforderlich.
40Vgl. BVerwG, Urteil vom 18. April 1997 - 8 C 43.95 -, BVerwGE 104, 301, juris; Beschlüsse vom 18. April 2011 - 2 WDB 4.11 -, Buchholz 450.2 § 5 WDO 2002 Nr. 1, juris, und vom 25. April 1994 - 1 B 69.94 -, Buchholz 340 § 15 VwZG Nr. 2, juris; VGH Bad.-Württ., Urteil vom 17. April 2002 - 11 S 1823/01 -, InfAuslR 2002, 375, juris; BFH, Urteile vom 9. Dezember 2009 - X R 54/06 -, BFHE 228, 111, juris, und vom 13. Januar 2005 - V R 44/03 -, BFH/NV 2005, 998, juris; Sadler, VwVG/VwZG, 8. Auflage 2011, § 10 VwZG Rn. 1 ff.
41Allerdings dürfen die Anforderungen an die Behörde, den Aufenthaltsort des Bekanntgabeadressaten ermitteln zu müssen, im Einzelfall nicht überspannt werden. Eine Rechtspflicht der zustellenden Behörde, Anschriften im Ausland zu ermitteln, besteht daher regelmäßig nicht, wenn ein Fall der „Auslandsflucht" vorliegt oder wenn sich der Empfänger beim inländischen Melderegister „ins Ausland" ohne Angabe einer Anschrift abgemeldet hat. Die Behörde ist in diesen Fällen vorrangig nur zu Ermittlungsmaßnahmen im Inland verpflichtet, z. B. durch Nachfragen beim Einwohnermeldeamt und bei Kontaktpersonen des Empfängers. Gleiches gilt, wenn sich der Zustellungsempfänger in einer Weise verhält, die auf seine Absicht schließen lässt, den Aufenthaltsort zu verheimlichen.
42Vgl. BFH, Urteil vom 9. Dezember 2009, a. a. O.; FG Köln, Urteil vom 28. März 2012 - 7 K 1719/08 -, EFG 2012, 1708, juris (jeweils m. w. N.).
43Wenn die Behörde den Zustellungsempfänger indes in einem bestimmten Land vermutet und durch Ermittlungsmaßnahmen bei inländischen Behörden und Kontaktpersonen keine weitere Aufklärung erreichen kann, hat sie in diesem Fall grundsätzlich alle objektiv geeignet erscheinenden, rechtlich zulässigen und zumutbaren Ermittlungsmöglichkeiten des grenzüberschreitenden Informationsaustausches auszuschöpfen. Sie muss insbesondere klären, ob ein solcher Informationsaustausch mit Behörden des vermuteten Aufenthaltsstaats möglich ist und an diese ein Auskunftsersuchen richten, um die dortige Anschrift des Betroffenen zu ermitteln.
44So jedenfalls die höchstrichterliche finanzgerichtliche Rechtsprechung, vgl. erneut BFH, Urteil vom 9. Dezember 2009, a. a. O.
45Ausgehend von diesen Maßgaben spricht zunächst viel dafür, dass das Bundesverwaltungsamt sich im vorliegenden Fall nicht schon deshalb auf Ermittlungsmaßnahmen im Inland beschränken durfte, weil der Kläger - entgegen § 12 Abs. 1 Satz 1 DarlehensV - es unterlassen hatte, seine neue Wohnanschrift in der Schweiz mitzuteilen. Diese Pflichtverletzung ist nicht mit Fällen vergleichbar, bei denen es dem Zustellungsempfänger gezielt darum geht, seinen Aufenthaltsort, ob im Ausland oder Inland, zu verbergen, und es - dem Rechtsgedanken des § 162 Abs. 1 BGB folgend - angemessen erscheint, wenn die Behörde von weitreichenden Ermittlungen absieht, deren Erfolg der Betroffene gerade zu vereiteln sucht; auf eine derartige Absicht des Klägers deutet nichts Greifbares hin.
46Das Bundesverwaltungsamt hat jedoch, bevor es die öffentliche Zustellung des Bescheides vom 9. Juni 2007 veranlasste, keine - hiernach wohl erforderlichen - Anstrengungen unternommen, die Wohnanschrift des Klägers durch ein Auskunftsersuchen an die schweizerischen Behörden in Erfahrung zu bringen, obwohl sie nach dem Ermittlungsstand mit der konkreten Möglichkeit rechnen musste, dass sich der Kläger nach wie vor in der Schweiz aufhält. Vor allem ist das Bundesverwaltungsamt nicht der Frage nachgegangen, ob ein solches Auskunftsersuchen mit Aussicht auf Erfolg nicht auch schon auf der Grundlage der ohnehin bekannten Personalien des Klägers - Name, Geburtsdatum und Geburtsort - an das zuständige schweizerische Bundesamt für Migration hätte gerichtet werden können, das sich - wie auch aus der später eingeholten Auskunft vom 22. Juni 2010 hervorgeht - eines „Zentralen Migrationsinformationssystems“ bedient. Gegebenenfalls hätte es weiterer vorgreiflicher Ermittlungen - etwa durch eine Internetrecherche - von vornherein nicht bedurft. Schon vor diesem Hintergrund spricht Einiges dafür, dass die tatsächlich unternommenen Anstrengungen des Amtes zur Aufklärung des Aufenthaltsortes des Klägers defizitär waren.
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Referenzen
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- ZPO § 115 Einsatz von Einkommen und Vermögen 5x
- VwGO § 188 1x
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- § 10 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 VwZG 1x (nicht zugeordnet)
- V R 44/03 1x (nicht zugeordnet)
- 11 S 1823/01 1x (nicht zugeordnet)
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- ZPO § 188 Zeitpunkt der öffentlichen Zustellung 1x
- VwGO § 166 2x
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- StPO § 40 Öffentliche Zustellung 1x
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