Urteil vom Oberverwaltungsgericht Nordrhein-Westfalen - 9 A 916/14
Tenor
Das angefochtene Urteil wird geändert.
Der Duldungsbescheid vom 16. Dezember 2011 wird aufgehoben.
Die Beklagte trägt die Kosten des Verfahrens beider Instanzen.
Das Urteil ist wegen der Kosten vorläufig vollstreckbar. Der Vollstreckungsschuldner darf die Vollstreckung durch Sicherheitsleistung in Höhe von 110 % des vollstreckbaren Betrags abwenden, wenn nicht der Vollstreckungsgläubiger vor der Vollstreckung Sicherheit in Höhe von 110 % des jeweils zu vollstreckenden Betrags leistet.
Die Revision wird nicht zugelassen.
1
Tatbestand:
2Die Klägerin ist Eigentümerin des Grundstücks B.------------weg in B., das sie aufgrund des am 21. Dezember 2004 geschlossenen notariellen Vertrags von ihrer Mutter, Frau S. T., erworben hat. Die Grundbucheintragung erfolgte am 27. Januar 2005.
3Auf dem Grundstück lasteten damals dinglich gesicherte Verbindlichkeiten in Höhe von ca. 195.000,- Euro, zu deren Übernahme sich die Klägerin als Gegenleistung für die Übertragung des Grundbesitzes verpflichtete.
4Auf die Gebührenforderungen für Abfallbeseitigung, Niederschlags- und Schmutzwasserentsorgung sowie Straßenreinigung für die Jahre 2002 bis 2004, die durch Bescheide vom 31. Januar 2002, 5. Februar 2003, 5. Februar 2004 und 3. Dezember 2004 festgesetzt worden waren, hatte die Voreigentümerin nur Teilbeträge gezahlt.
5Wegen ebenfalls rückständiger Grundsteuern erließ die Beklagte am 26. August 2005 gestützt auf § 11 Abs. 2 GrStG bezüglich der Jahre 2003 und 2004 einen Haftungsbescheid sowie gestützt auf § 191 AO i.V.m. § 77 Abs. 2 AO und § 12 GrStG bezüglich des Jahres 2002 einen Duldungsbescheid. Die Bescheide ließ die Klägerin nach Zurückweisung ihres Widerspruch durch Widerspruchsbescheid vom 13. September 2005, in dessen Begründung ausgeführt war, dass die Voreigentümerin seit 2002 Grundbesitzabgaben schuldig geblieben sei und Vollstreckungsversuche nicht zum Erfolg geführt hätten, bestandskräftig werden.
6Am 17. Oktober 2007 trat mit dem Gesetz zur Stärkung der kommunalen Selbstverwaltung – GO Reformgesetz – vom 9. Oktober 2007 (GV.NRW, S. 380) § 6 Abs. 5 KAG NRW in Kraft, wonach grundstücksbezogene Benutzungsgebühren als öffentliche Last auf dem Grundstück ruhen.
7Weitere Versuche der Beklagten, zuletzt durch Zahlungsaufforderung vom 25. November 2011, die noch offenen Benutzungsgebühren bei der Voreigentümerin beizutreiben, blieben erfolglos.
8Nach vorheriger Anhörung verpflichtete die Beklagte die Klägerin durch Duldungsbescheid vom 16. Dezember 2011, zugestellt am 19. Dezember 2011, wegen dieser Forderungen in Höhe von 6.135,60 Euro die Vollstreckung in das Grundstück zu dulden. § 6 Abs. 5 KAG NRW erfasse, da der Landesgesetzgeber keine Übergangsvorschriften vorgesehen habe, auch Benutzungsgebühren aus der Zeit vor Inkrafttreten der gesetzlichen Neuregelung. Die darin zu sehende lediglich unechte Rückwirkung sei zulässig; das Vertrauen auf Fortbestand der bisherigen Rechtslage müsse gegenüber dem am Gemeinwohl orientierten Interesse an der Änderung der Rechtsordnung, die im Hinblick auf die sinkende Zahlungsmoral erforderlich sei, zurücktreten. Benutzungsgebühren stellten eine Gegenleistung für spezielle grundstücksbezogene Leistungen dar, die die wirtschaftliche Nutzung des Grundstücks erst ermöglichten und letztlich dem Erwerber in Form des Grundstückswertes zu Gute kämen. Die dauerhafte Funktionsfähigkeit der Entsorgungsleistungen diene der Gesundheitsvorsorge der Bevölkerung und damit dem Gemeinwohl. Ein etwaiges Vertrauen der Klägerin, auch in Zukunft nicht wegen rückständiger Benutzungsgebühren in Anspruch genommen zu werden, sei nicht schutzwürdig. Es könne angesichts der familiären Beziehung zur Voreigentümerin nicht angenommen werden, dass die Klägerin über die Rückstände nicht informiert gewesen sei. Jedenfalls hätte es ihr oblegen, sich über die gesamten Verbindlichkeiten im Zusammenhang mit der Übernahme des Grundstücks zu informieren.
9Am 18. Januar 2012 hat die Klägerin Klage erhoben, zu deren Begründung sie ausgeführt hat: Die auf § 6 Abs. 5 KAG NRW gestützte Inanspruchnahme wegen der hier in Rede stehenden Forderungen verstoße gegen das verfassungsrechtliche Rückwirkungsverbot. Es handele sich um eine unzulässige echte Rückwirkung. Selbst wenn man der Auffassung der Beklagten folge, wonach ein Fall unechter Rückwirkung vorliege, seien die verfassungsrechtlichen Grenzen, die sich insbesondere aus dem Grundsatz des Vertrauensschutzes ergäben, überschritten. Nach dem Urteil des Bundesgerichtshofs vom 11. Mai 2010 sei die Grenze der unechten Rückwirkung dort gezogen, wo die Rechtsstellung des Erwerbers gefestigt sei. Sie habe das Grundstück nach der zum Zeitpunkt des Erwerbs geltenden Rechtslage in Bezug auf die Benutzungsgebühren lastenfrei erworben. Es habe demgemäß kein Anlass bestanden, insoweit – anders als etwa in Bezug auf Erschließungsbeiträge – Erkundigungen über etwaige auf dem Grundstück ruhende öffentliche Lasten einzuziehen. Ihre Mutter habe sie, die Klägerin, über die unbeglichenen Grundbesitzabgaben auch nicht informiert. Demgegenüber müsse die Beklagte sich entgegen halten lassen, dass sie, obwohl die Voreigentümerin schon 2002 keine Zahlungen geleistet habe, keine sachgerechte Zwangsvollstreckung betrieben habe; die Eintragung einer Sicherungshypothek sei unterblieben. Die Forderungen seien inzwischen teilweise verjährt und im Übrigen verwirkt, weil die Beklagte bis zu einer Inanspruchnahme der Klägerin mehrere Jahre nach dem Eigentumserwerb habe verstreichen lassen.
10Die Klägerin hat beantragt,
11den Duldungsbescheid der Beklagten vom 16. Dezember 2011 aufzuheben.
12Die Beklagte hat beantragt,
13die Klage abzuweisen.
14Sie hat unter Wiederholung und Vertiefung der Begründung des angefochtenen Bescheids vorgetragen: Die Gebührenforderungen seien nicht verjährt, weil sie innerhalb der fünfjährigen Verjährungsfrist fortlaufend zahlungsverjährungshemmende Maßnahmen i.S.d. § 231 AO in Form von Vollstreckungsversuchen unternommen habe. Zunächst sei vorrangig die Inanspruchnahme des persönlichen Schuldners betrieben worden. Der Duldungsbescheid sei erst erlassen worden, nachdem ein letzter Vollstreckungsversuch am 25. November 2011 erfolglos geblieben sei. Von einer Verwirkung könne keine Rede sein; der bloße Zeitablauf reiche dafür nicht aus. Auf Vertrauensschutz könne sich die Klägerin nicht berufen, da sie seit Jahren darüber informiert gewesen sei, dass Zahlungsrückstände in Bezug auf Grundbesitzabgaben, wozu eben auch Benutzungsgebühren zählten, bestanden.
15Das Verwaltungsgericht hat die Klage durch das angefochtene Urteil abgewiesen: § 6 Abs. 5 KAG NRW gelte in Ermangelung einer gesetzlichen Übergangsregelung rückwirkend auch für bereits vor seinem Inkrafttreten entstandene Gebührenforderungen. Darin sei nur eine unechte Rückwirkung zu sehen, weil der Anknüpfungssachverhalt nicht abgeschlossen sei, solange die Forderung nicht bedient sei. Diese unechte Rückwirkung sei zulässig; sie genüge den Anforderungen des Vertrauensschutzes und der Verhältnismäßigkeit. Der bloße Eigentumserwerb begründe keinen Vertrauenstatbestand. Denn die Eintragung öffentlicher Lasten im Grundbuch sei nach § 54 GBO ohnehin ausgeschlossen. Die geltend gemachten Forderungen seien weder verjährt noch verwirkt. Die Beklagte habe ihr Ermessen fehlerfrei ausgeübt.
16Zur Begründung ihrer vom Senat zugelassenen Berufung trägt die Klägerin vor: § 6 Abs. 5 KAG NRW sei bei verfassungsgemäßer Auslegung zur Vermeidung einer unzulässigen echten Rückwirkung dahin auszulegen, dass er nicht zu einer Belastung mit rückständigen Grundbesitzabgaben aus den Jahren 2002 bis 2004 führe, wenn der Kaufvertrag – wie hier – bereits vor Inkrafttreten der Neuregelung geschlossen sei. Ungeachtet dessen sei der Duldungsbescheid jedenfalls deshalb aufzuheben, weil die Ermessensentscheidung der Beklagten das Mitverschulden nicht hinreichend berücksichtigt habe, das darin zu sehen sei, dass sie ihre Forderung nicht frühzeitig über eine Sicherungshypothek abgesichert habe.
17Die Klägerin beantragt,
18das Urteil des Verwaltungsgerichts zu ändern und den Duldungsbescheid der Beklagten vom 16. Dezember 2011 aufzuheben.
19Die Beklagte beantragt,
20die Berufung zurückzuweisen.
21Sie trägt vor: Die verfassungsrechtliche Zulässigkeit der Einbeziehung von Forderungen, die bei Inkrafttreten des § 6 Abs. 5 KAG NRW bereits bestanden hätten, folge daraus, da es sich um eine unechte Rückwirkung im Sinne einer tatbestandlichen Rückanknüpfung an einen nicht abgeschlossenen Sachverhalt handele. Der insoweit in den Blick zu nehmende Sachverhalt sei nicht der Abrechnungszeitraum der Gebühr, sondern die Verpflichtung des Schuldners zur Zahlung der Gebühr, wobei zu berücksichtigen sei, dass das Gebührenschuldverhältnis eine Art Gegenseitigkeitsverhältnis sei. Auch sei die Ermessensausübung nicht zu beanstanden. Bei Interessenabwägung zwischen dem Bestandsinteresse der Klägerin und dem öffentlichen Interesse an der vollständigen Gebührenerhebung sowie dem Interesse, für die Benutzung öffentlicher Einrichtungen die geschuldeten Gebühren zu erhalten, und damit auch mittelbar der Sicherstellung der öffentlichen Ver- und Entsorgung ergebe sich kein Vertrauensschutz zugunsten der Klägerin. Soweit der Bundesgerichtshof entschieden habe, dass vollstreckungsrechtlich relevante Positionen nicht durch die nachträgliche Begründung einer vorrangigen Belastung beeinträchtigt werden dürften, gelte dies nicht für den bloßen Eigentumserwerb. Dieser stelle keine derartige gesicherte Rechtsposition dar, da öffentliche Lasten nicht eingetragen würden. Es wäre Aufgabe der Klägerin gewesen, sich im Vorfeld des Vertragsschlusses über mögliche Belastungen des Grundstücks zu informieren. Zur Eintragung einer Sicherungshypothek sei die Beklagte nicht verpflichtet gewesen; eine solche wäre im Übrigen auch erst nach Abgabe der Vermögensauskunft und eidesstattlichen Versicherung in Betracht gekommen.
22Die Beteiligten haben sich mit einer Entscheidung ohne mündliche Verhandlung einverstanden erklärt.
23Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstands wird auf die Gerichtsakte und die Verwaltungsvorgänge der Beklagten Bezug genommen.
24Entscheidungsgründe:
25Aufgrund des Einverständnisses der Beteiligten ergeht die Entscheidung ohne mündliche Verhandlung (§ 125 Abs. 1 Satz 1 i. V. m. § 101 Abs. 2 VwGO).
26Die Berufung hat Erfolg. Die Anfechtungsklage, mit der sich die Klägerin gegen ihre Inanspruchnahme als Duldungspflichtige wendet, ist begründet. Der Bescheid vom 16. Dezember 2011 ist rechtswidrig und verletzt die Klägerin in ihren Rechten (§ 113 Abs. 1 Satz 1 VwGO).
27Die Voraussetzungen für den Erlass eines Duldungsbescheides wegen vor dem Erwerb des Grundstücks durch die Klägerin in den Jahren 2002 bis 2004 entstandener Gebührenforderungen liegen nicht vor.
28Als Rechtsgrundlage für den Erlass eines Duldungsbescheids kommt nur § 191 Abs. 1 Satz 1 AO in Betracht, der gemäß § 12 Abs. 1 Nr. 4 b) KAG NRW auf Kommunalabgaben wie die in hier in Rede stehenden Benutzungsgebühren (§ 6 KAG NRW) entsprechend anzuwenden ist. Danach kann durch Duldungsbescheid in Anspruch genommen werden, wer kraft Gesetzes verpflichtet ist, die Vollstreckung zu dulden. Eine solche Duldungspflicht normiert der auf Kommunalabgaben gemäß § 12 Abs. 1 Nr. 2 d) KAG NRW ebenfalls entsprechend anwendbare § 77 Abs. 2 Satz 1 AO. Nach dieser Vorschrift hat der Eigentümer wegen einer Steuer, die als öffentliche Last auf dem Grundbesitz ruht, die Zwangsvollstreckung in den Grundbesitz zu dulden.
29Der angefochtene Duldungsbescheid erweist sich deshalb als rechtwidrig, weil die hier in Rede stehenden Benutzungsgebühren, die für die Jahre 2002 bis 2004 gegenüber der Voreigentümerin festgesetzt wurden, nicht als öffentliche Last auf dem Grundstück ruhen, das die Klägerin erst im Jahr 2005 erworben hat. § 6 Abs. 5 KAG NRW, nach dem grundstücksbezogene Benutzungsgebühren als öffentliche Last auf dem Grundstück ruhen, greift hierfür nicht.
30Zwar handelt es sich bei den Gebührenforderungen für Abfallbeseitigung, Niederschlags- und Schmutzwasserentsorgung sowie Straßenreinigung nach den insoweit maßgeblichen satzungsrechtlichen Regelungen der Beklagten um grundstücksbezogene Benutzungsgebühren (vgl. für die hier in Rede stehenden Gebührenjahre 2002 bis 2004: § 19 Abs. 2 der Abfallwirtschaftssatzung vom 10. Dezember 1992 in der Fassung des X. Nachtrags vom 19. Dezember 2001, des XI. Nachtrags vom 19. Juni 2002, des XII. Nachtrags vom 11. Dezember 2002 bzw. des XIII. Nachtrags vom 3. Dezember 2003; § 6 Abs. 1 der Gebührensatzung zur Satzung über die Entwässerung der Grundstücke und den Anschluss an die öffentliche Abwasseranlage vom 17. Januar 1995 in der Fassung des 5. Nachtrags vom 20. Dezember 2001, § 8 Abs. 1 der Straßenreinigungs- und Gebührensatzung vom 14. Dezember 1987 in der Fassung des 14. Nachtrags vom 19. Dezember 2001; des 15. Nachtrags vom 11. Dezember 2002 bzw. des 16. Nachtrags vom 3. Dezember 2003).
31Zum Erfordernis der Grundstücksbezogenheit von Benutzungsgebühren vgl. Brüning, in: Driehaus, KAG, Stand: September 2015, § 6 Rn. 251c, mit weiteren Nachweisen.
32Die erst durch Artikel X Nr. 3 des Gesetzes vom 9. Oktober 2007 (GV.NRW. S. 380) eingefügte und am 17. Oktober 2007 in Kraft getretene Duldungsregelung in § 6 Abs. 5 KAG NRW ist aber bei verfassungskonformer Auslegung dahin auszulegen, dass der Eigentümer, der ein Grundstück vor dem Inkrafttreten der Neuregelung erworben hat, nicht wegen persönlicher Gebührenrückstände des Voreigentümers zur Duldung der Vollstreckung verpflichtet ist. Er hat es nämlich nach seinerzeitiger Rechtslage in Bezug auf Benutzungsgebühren - anders als in Bezug auf Grundsteuern, §§ 11, 12 GrStG, und Beiträge, § 8 Abs. 9 KAG NRW - lastenfrei erworben. Mit Blick auf den verfassungsrechtlich gebotenen Vertrauensschutz ist § 6 Abs. 5 KAG NRW dahin zu verstehen, dass die so erworbene Rechtsposition nicht durch die nachträgliche Begründung einer öffentlichen Last beeinträchtigt wird.
33Der Senat schließt sich dabei sowohl hinsichtlich der Rückwirkung der Neuregelung als auch hinsichtlich ihrer gebotenen verfassungskonformen Auslegung der Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs an. Dieser hat in seinem Urteil vom 11. Mai 2010 – IX ZR 127/09 -, KKZ 2010, 274, juris Rn. 20 ff., im Zusammenhang mit einem Zwangsversteigerungsverfahren in Bezug auf die Rangordnung der zu befriedigenden Forderungen (§ 10 Abs. 1 Nr. 3 ZVG) Folgendes ausgeführt:
34Der Landesgesetzgeber hat für § 6 Abs. 5 KAG NRW in Art. XI des Gesetzes zur Stärkung der kommunalen Selbstverwaltung keine Übergangsvorschrift vorgesehen. Nach dem Wortlaut der gesetzlichen Regelung werden damit auch Benutzungsgebühren aus der Zeit vor Inkrafttreten der gesetzlichen Neuregelung von der Einstufung als öffentliche Last erfasst (LG Kleve, Beschluss vom 21. Januar 2009 - 4 T 240/08 -). Aus Gründen des Vertrauensschutzes kann aber die Norm nicht unbegrenzt auf alle noch nicht erfüllten rückständigen Gebührenansprüche angewendet werden. Hierfür gelten begrenzend die Grundsätze über die echte und unechte Rückwirkung von Gesetzen. Eine grundsätzlich unzulässige echte Rückwirkung liegt dann vor, wenn ein Gesetz nachträglich in abgewickelte, der Vergangenheit angehörende Tatbestände eingreift. … Eine unechte Rückwirkung ist hingegen dann gegeben, wenn eine Norm auf gegenwärtige, noch nicht abgeschlossene Sachverhalte einwirkt und damit Rechtspositionen für die Zukunft entwertet …. Grenzen der Zulässigkeit können sich aber auch hier aus dem Grundsatz des Vertrauensschutzes ergeben; diese sind etwa dann überschritten, wenn die Bestandsinteressen des Betroffenen die Veränderungsgründe des Gesetzgebers überwiegen …
35Wenn die in § 6 Abs. 5 KAG NRW getroffene Neuregelung so ausgelegt würde, dass sie auch auf bereits durch eine Beschlagnahme begründete Rechtspositionen Einfluss hätte, so läge hierin zwar keine unzulässige echte Rückwirkung, weil es sich vor Verteilung des Versteigerungserlöses noch um keinen abgeschlossenen Tatbestand handelt. Gleichwohl ist eine solche Auslegung aus Gründen des Vertrauensschutzes ausgeschlossen. War zum Zeitpunkt des Inkrafttretens der Neuregelung bereits die Beschlagnahme zugunsten des die Zwangsversteigerung betreibenden Gläubigers wirksam geworden (§ 22 Abs. 1 Satz 1, § 20 Abs. 1 ZVG), hatte dieser bereits ein schutzwürdiges Vertrauen dahin erworben, dass seine Rechtsposition nicht durch die nachträgliche Begründung einer vorrangigen Belastung beeinträchtigt wird. Dieses Interesse überwiegt gegenüber dem der Kommunen an einer effektiven Durchsetzung des Gebührenaufkommens durch die nachträgliche Begründung einer Sicherheit für rückständige Gebühren.
36Bedenken gegen die Richtigkeit dieser Ausführungen bestehen nicht.
37Tatsächlich verhält sich das Gesetz vom 9. Oktober 2007 nicht zu einer etwaigen Übergangsregelung zu Art. X. Ebenso wenig ist den Gesetzgebungsmaterialien,
38vgl. LT-Drs. 14 / 4981, Seite 58 und 74,
39zu entnehmen, dass diese Frage überhaupt erwogen wurde. Angesichts dessen spricht der Wortlaut für ein Verständnis, wonach auch zum Zeitpunkt des Inkrafttretens des Gesetzes bereits entstandene Forderungen fortan als öffentliche Last auf dem Grundstück ruhen. Da das Abgabenverfahren solange nicht abgeschlossen ist, wie die Abgabe nicht entrichtet worden ist, liegt auch bei diesem Normverständnis keine „echte“ Rückwirkung im Sinne der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts vor, die nur in wenigen Ausnahmefällen in Betracht kommt und dem Gesetzgeber zu einer eingehenden Begründung seiner Entscheidung hätte Anlass geben sollen.
40Eine unechte Rückwirkung ist verfassungsrechtlich grundsätzlich zulässig. Sie liegt vor, wenn eine Norm auf gegenwärtige, noch nicht abgeschlossene Sachverhalte und Rechtsbeziehungen für die Zukunft einwirkt und damit zugleich die betroffene Rechtsposition nachträglich entwertet. Wie der BGH zu Recht angenommen hat, ist aber auch die hier vorliegende lediglich unechte Rückwirkung im Hinblick auf das – zumal im Gewährleistungsbereich des Art. 14 Abs. 1 GG – zu berücksichtigende Vertrauensschutzprinzip verfassungsrechtlichen Grenzen ausgesetzt. Die sich aus dem Grundsatz des Vertrauensschutzes und dem Verhältnismäßigkeitsprinzip ergebenden Grenzen der Zulässigkeit sind überschritten, wenn die vom Gesetzgeber angeordnete unechte Rückwirkung zur Erreichung des Gesetzeszwecks nicht geeignet oder erforderlich ist oder wenn die Bestandsinteressen der Betroffenen die Veränderungsgründe des Gesetzgebers überwiegen.
41Vgl. zum Ganzen BVerfG Urteil vom 23. November 1999 - 1 BvF 1/94 -, BVerfGE 101, 239, juris Rn. 96 m.w.N.
42Ausgehend von diesen, im Kern von den Beteiligten nicht in Frage gestellten Grundsätzen ist eine – im Sinne der zitierten Rechtsprechung des BGH – einschränkende Auslegung des § 6 Abs. 5 KAG NRW nicht nur dann geboten, wenn ein die Zwangsversteigerung betreibender Gläubiger vor Inkrafttreten der Neuregelung bereits die Beschlagnahme erwirkt und dadurch ein schutzwürdiges Vertrauen dahin erworben hat, dass seine Rechtsposition nicht durch die nachträgliche Begründung einer vorrangigen Belastung beeinträchtigt wird.
43Dasselbe gilt – und zwar erst recht – wenn ein Dritter das Grundstück, in das vollstreckt werden soll, vor Inkrafttreten der Neuregelung erworben hat. Denn er hat es insoweit nach damals geltender Rechtslage, die zugleich die Reichweite des grundrechtlichen Eigentumsschutzes bestimmt,
44vgl. Jarass in: Jarass/Pieroth, GG, 13. Aufl. 2014, Art. 14 Rn. 18,
45„lastenfrei“ erworben. Der Einwand der Beklagten, dass der „bloße Eigentumserwerb“ keine gesicherte Rechtsposition verleihe, verkennt, dass das Eigentum das Vollrecht darstellt, wohingegen die Rechtsposition des Gläubigers in der Zwangsvollstreckung lediglich ein Recht auf Befriedigung vermittelt. Dem kann nicht entgegen gehalten werden, dass öffentliche Lasten nicht eingetragen werden. Dieses Argument kann auch mit Blick auf die Besonderheit des Eigentumsgrundrechts, dass der Gesetzgeber den Inhalt des Eigentums bestimmt, nur greifen, wenn - woran es hier zum Zeitpunkt des Eigentumserwerbs fehlte – eine gesetzliche Regelung existiert, nach der die hier konkret in Rede stehenden öffentlich-rechtlichen Forderungen öffentliche Lasten sind. Nach der zum Zeitpunkt des Eigentumserwerbs geltenden Rechtslage waren Benutzungsgebühren zwar grundstücksbezogen, aber gleichwohl allein persönliche Schulden des jeweiligen Eigentümers. Dies zugrunde gelegt bestand für den Erwerber eines Grundstücks bis zu der Neuregelung kein Anlass, Erkundigungen über rückständige Gebührenschulden einzuholen. Denn anders als für Beiträge und Grundsteuern bestand keine rechtliche Möglichkeit, für persönliche Schulden des Voreigentümers in Anspruch genommen zu werden.
46Nur ergänzend sei angemerkt, dass auch die weiteren Erwägungen, mit denen die Beklagte die verfassungsrechtliche Zulässigkeit einer unechten Rückwirkung zu rechtfertigen versucht, nicht tragfähig sind. Es kann keine Rede davon sein, dass die Benutzungsgebühren eine Gegenleistung für Leistungen darstellen, die letztlich dem Erwerber in Form des Grundstückswertes zu Gute kämen. Diese Erwägung mag für Erschließungsbeiträge zutreffen, in aller Regel jedoch nicht für die hier betroffenen Leistungen wie Straßenreinigung, Entwässerung und Abfallentsorgung. Ein Zusammenhang zwischen der wirtschaftlichen Nutzbarkeit bzw. dem Wert des Grundstücks im Jahr 2007 und lange zuvor, hier: in den Jahren 2002 bis 2004, erbrachten Leistungen ist nicht erkennbar.
47Ausgehend davon, dass bei der aus den vorstehenden verfassungsrechtlichen Erwägungen gebotenen einschränkenden Auslegung bereits der objektive Tatbestand des § 6 Abs. 5 KAG NRW nicht gegeben ist, kommt es auf die Frage, ob die Klägerin über die Gebührenschulden ihrer Mutter informiert war, nicht an.
48Die Kostenentscheidung beruht auf § 154 Abs. 1 VwGO.
49Die Entscheidung hinsichtlich der vorläufigen Vollstreckbarkeit folgt aus § 167 VwGO i. V. m. §§ 708 Nr. 10, 711, 709 Satz 2 ZPO.
50Die Revision ist nicht zuzulassen, da die Voraussetzungen hierfür (§ 132 Abs. 2 VwGO) nicht vorliegen.
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