Beschluss vom Oberverwaltungsgericht Nordrhein-Westfalen - 12 B 1289/15
Tenor
Der angefochtene Beschluss wird geändert.
Die Antragsgegnerin wird im Wege der einstweiligen Anordnung verpflichtet, dem Antragsteller vorläufig bis zu einer rechtskräftigen Entscheidung in dem unter dem Aktenzeichen 19 K 6935/15 beim Verwaltungsgericht Düsseldorf anhängigen Hauptsacheverfahren, längstens bis zum 31. Juli 2016, Eingliederungshilfe gem. § 35a SGB VIII durch Übernahme der Kosten für den Unterricht durch die X. -J. schule zu gewähren.
Die Antragsgegnerin trägt die Kosten des gerichtskostenfreien Verfahrens beider Rechtszüge.
1
G r ü n d e:
2Der Antragsteller hat mit seiner Beschwerde Erfolg.
3Die zulässige Beschwerde ist auch begründet. Der Antragsteller hat mit seinem nach § 146 Abs. 4 Satz 6 VwGO der Prüfung zugrundezulegenden Beschwerdevorbringen glaubhaft gemacht, dass die Voraussetzungen für eine Verpflichtung der Antragsgegnerin zur vorläufigen Übernahme der Kosten seines Unterrichts durch die X. -J. schule vorliegen.
4Nach § 123 Abs. 1 Satz 1 VwGO kann das Gericht eine einstweilige Anordnung in Bezug auf den Streitgegenstand treffen, wenn die Gefahr besteht, dass durch eine Veränderung des bestehenden Zustands die Verwirklichung eines Rechts des Antragstellers vereitelt oder wesentlich erschwert wird. Nach Satz 2 der Vorschrift sind einstweilige Anordnungen auch zur Regelung eines vorläufigen Zustands in Bezug auf ein streitiges Rechtsverhältnis zulässig, wenn diese Regelung zur Abwendung von wesentlichen Nachteilen oder drohender Gewalt oder aus anderen Gründen nötig erscheint. Erforderlich ist neben einer besonderen Eilbedürftigkeit der Regelung (Anordnungsgrund), dass dem Hilfesuchenden mit Wahrscheinlichkeit ein Anspruch auf die begehrte Regelung zusteht (Anordnungsanspruch). Anordnungsgrund und Anordnungsanspruch sind glaubhaft zu machen (§ 123 Abs. 3 VwGO i.V.m.§ 920 Abs. 2 ZPO.
5Wird mit der begehrten Regelung die Hauptsache vorweggenommen, gelten gesteigerte Anforderungen an das Vorliegen eines Anordnungsanspruchs, indem ein hoher Grad der Wahrscheinlichkeit dafür sprechen muss, dass der mit der Hauptsache verfolgte Anspruch begründet ist.
6Vgl. BVerwG, Urteil vom 18. April 2013 - 10 C 9.12 -, NVwZ 2013, 1344, juris; Beschlüsse vom 13. August 1999 - 2 VR 1.99 -, BVerwGE 109, 258, juris, und vom 14. Dezember 1989 - 2 ER 301.89 -, Buchholz 310 § 123 VwGO Nr. 15, juris; OVG NRW, Beschlüs-se vom 27. Januar 2014 - 12 B 1422/13 -, juris, vom 15. Januar 2014 - 12 B 1478/13 -, juris, Beschlüsse vom 14. Februar 2013 - 12 B 107/13 -, juris, vom 27. Juni 2012 - 12 B 426/12 -, juris, vom 21. Februar 2011 - 13 B 1722/10 -, juris, vom 8. Januar 2010
7- 19 B 1004/09 -, NWVBl 2010, 328, juris, und vom 16. März 2007 - 7 B 134/07 -, NVwZ-RR 2007, 661, juris.
8Überdies kommt eine Vorwegnahme der Hauptsache nur in Betracht, wenn ohne die begehrte Anordnung schwere und unzumutbare, später nicht wieder gut zu machende Nachteile entstünden, zu deren Beseitigung eine nachfolgende Entscheidung in der Hauptsache nicht mehr in der Lage wäre.
9Vgl. OVG NRW, Beschlüsse vom 27. Januar 2014
10- 12 B 1422/13 -, juris, vom 15. Januar 2014 - 12 B 1478/13 -, juris, vom 14. Juni 2012 - 12 B 433/12 -, juris, vom 29. September 2011 - 12 B 983/11 -, juris, und vom 20. Januar 2010 - 12 B 1655/09 -, juris; BVerfG, Beschluss vom 25. Oktober 1988 - 2 BvR 745/88 -, BVerfGE 79, 69, juris, m. w. N.
11Diese Voraussetzungen für eine zeitweilige Vorwegnahme der Hauptsache liegen in beiderlei Hinsicht vor.
12Der Senat sieht es zunächst als hochgradig wahrscheinlich an, dass der Antragsteller die Gewährung von Eingliederungshilfe nach § 35a SGB VIII in Form der Übernahme der Kosten für den Unterricht durch die X. -J. schule C. beanspruchen kann.
13Die Gewährung von Eingliederungshilfe setzt nach § 35a Abs. 1 SGB VIII voraus, dass,
141. die seelische Gesundheit des Betroffenen mit hoher Wahrscheinlichkeit länger als 6 Monate von dem für seinen Lebensalter typischen Zustand abweicht, und
152. daher seine Teilhabe am Leben in der Gesellschaft beeinträchtigt ist oder eine solche Beeinträchtigung zu erwarten ist.
16Bei kumulativem Vorliegen beider Voraussetzungen geht das Gesetz von einer "seelischen Behinderung" aus (vgl. § 35a Abs. 1 Satz 2 SGB VIII), wobei es ausreicht, wenn der Betreffende von einer solchen Behinderung bedroht ist.
17Dass der Antragsteller nach den vorliegenden fachärztlichen Diagnosen - insbesondere dem diagnostizierten Asperger Syndrom (F84.5) - an einer seelischen Störung i. S. v. § 35a Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 SGB VIII leidet, die zu einer fortwährenden Teilhabebeeinträchtigung i. S. d. § 35a Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 SGB VIII führt, drängt sich nach dem in den Verwaltungsvorgängen dokumentierten Werdegang des Antragstellers auf. Das Vorliegen der tatbestandlichen Voraussetzungen des § 35a SGB VIII ist auch weder von der Antragsgegnerin noch dem Verwaltungsgericht in Frage gestellt worden.
18Bei dieser Ausgangslage stellt sich der Unterricht des Antragstellers an der X. -J. schule auch als erforderliche und geeignete Maßnahme der Eingliederungshilfe dar.
19Nach § 35a Abs. 3 SGB VIII richten sich Aufgabe und Ziel der Hilfe, die Bestimmung des Personenkreises sowie die Art der Leistungen nach § 53 Abs. 3 und 4 Satz 1 sowie den §§ 54, 56 und 57 SGB XII, soweit diese Bestimmungen auch auf seelisch behinderte oder von einer solchen Behinderung bedrohte Personen Anwendung finden. Dementsprechend erhalten nach § 35a Abs. 3 SGB VIII i.V.m. § 54 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 SGB XII seelisch behinderte Kinder Hilfen zu einer angemessenen Schulbildung.
20Bei der Entscheidung über die Notwendigkeit und Geeignetheit der Maßnahme der Jugendhilfe handelt es sich um das Ergebnis eines kooperativen pädagogischen Entscheidungsprozesses. Dieses Ergebnis erhebt nicht den Anspruch objektiver Richtigkeit, muss jedoch eine angemessene Lösung zur Bewältigung der festgestellten Belastungssituation enthalten, die fachlich vertretbar und nachvollziehbar sein muss. Dem Träger der Jugendhilfe steht ein Beurteilungsspielraum zu, der nur einer eingeschränkten verwaltungsgerichtlichen Kontrolle unterliegt. Diese Kontrolle hat sich darauf zu beschränken, ob allgemein gültige fachliche Maßstäbe beachtet worden sind, ob sachfremde Erwägungen eingeflossen sind und die Leistungsadressaten in umfassender Weise beteiligt wurden.
21Vgl. BVerwG, Urteil vom 24. Juni 1999 - 5 C 4.98 -, BVerwGE 109, 155, juris; OVG NRW, Beschluss vom 21. Januar 2014 - 12 A 2470/13 -, juris; BayVGH, Beschluss vom 28. Oktober 2014 - 12 ZB 13.2025 -, juris.
22Dies zugrundegelegt führt die notwendige Beachtung des Kindeswohls im vorliegenden Fall zu einer Reduzierung des Beurteilungsspielraums auf die Übernahme der Kosten des Unterrichts durch die X. -J. schule als einzig geeignete und erforderliche Hilfemaßnahme. Die Entscheidung der Antragsgegnerin, die Übernahme der Kosten für die X. -J. schule abzulehnen, entspricht den Anforderungen an Sachangemessenheit und Nachvollziehbarkeit nicht.
23Dabei ist zunächst unstreitig, dass der Unterricht durch die X. -J. schule eine angemessene Wissensvermittlung darstellt; so ist im Protokoll des Hilfeplangesprächs vom 23. November 2015 festgehalten, dass der Antragsteller im Unterricht mitarbeite und große Rückstände aufgearbeitet habe. Die Übernahme der Kosten stellt sich auch als erforderlich dar, da nicht ersichtlich ist, wie eine angemessene Schulbildung des Antragstellers im Schuljahr 2015/2016, in dem er durch Bescheid der Schulbehörde vom 19. Juni 2015 von der Schulpflicht befreit ist - womit das Ruhen der Schulpflicht nach § 40 Abs. 2 SchulG NRW gemeint sein dürfte - anderenfalls sichergestellt werden sollte. Die Antragsgegnerin hat demgegenüber im Bescheid vom 7. Juli 2015 eine Übernahme der Kosten für den Unterricht durch die X. -J. schule unter Verweis auf den Hilfeplan vom 18. März 2015, in dem als Hauptziel die Heranführung des Antragstellers an den Unterricht auf der B. -G. -Schule formuliert worden war, abgelehnt. Diese Begründung ist bereits deshalb nicht nachvollziehbar, weil - wovon die Antragsgegnerin bei der Erteilung ihres Ablehnungsbescheides auch Kenntnis hatte - seit der letzten Hilfeplankonferenz durch den bereits erwähnten Bescheid vom 19. Juni 2015 das Ruhen der Schulpflicht bis zum 31. Juli 2016 angeordnet worden war. Ist Voraussetzung für ein derartiges Ruhen der Schulpflicht gemäß § 40 Abs. 2 SchulG NRW aber, dass das betreffende Kind bzw. der betreffende Jugendliche selbst nach Ausschöpfen aller Möglichkeiten sonderpädagogischer Förderung nicht gefördert werden kann, so konnte die Antragsgegnerin jedenfalls nicht ohne weitere Erwägungen davon ausgehen, dass der Hilfebedarf des Antragstellers durch den Besuch der B. -G. -Schule gedeckt werden konnte. Hiergegen spricht auch der Kurzbericht des B1. -U. -A. L. /C1. vom 8. Mai 2015, in dem ausgeführt ist, dass aus therapeutischer Sicht alle Beteiligten ihre Möglichkeiten bis an die Grenze ausgelotet hätten, aber dennoch das Ziel einer Integration des Antragstellers in die B. -G. -Schule nicht habe erreicht werden können und eine Beschulung im üblichen schulischen Rahmen nicht möglich erscheine. Nachvollziehbare Erwägungen dazu, wie nunmehr der Anspruch des Antragstellers auf Hilfen zu einer angemessenen Schulbildung nach § 35a Abs. 3 SGB VIII i.V.m. § 54 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 SGB XII befriedigt werden sollte, enthält der Bescheid vom 7. Juli 2015 nicht. Der Widerspruchsbescheid vom 29. September 2015 empfiehlt eine stationäre Diagnostik und enthält die Formulierung, der Wechsel auf eine Internatsschule mit einem speziellen Angebot für Asperger dürfe kein Tabuthema sein. Konkrete Ausführungen dazu, ob mit einer derartigen Schule der Hilfebedarf des Antragstellers gedeckt werden könnte, die der Antragsgegnerin oblegen hätten,
24vgl. etwa OVG NRW, Beschluss vom 17. Januar 2013 - 12 B 1360/12 -, juris,
25ergeben sich hieraus nicht. Auch ist weder vorgetragen noch ersichtlich, dass eine stationäre Diagnostik in absehbarer Zeit zu einer angemessenen Schulbildung beitragen würde. Soweit die Antragsgegnerin im Verfahren vorgetragen hat, dass es „im Rahmen der Hilfe für den Antragsteller nicht um die Beschulung“ gehe, verkennt sie, dass § 35a Abs. 3 SGB VIII i.V.m. § 54 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 SGB XII gerade einen Anspruch auf Hilfen zu einer angemessenen Schulbildung gewährt.
26Die Antragsgegnerin konnte ihre Entscheidung auch nicht nachvollziehbar darauf stützen, dass die Maßnahme ungeeignet sei, weil die soziale Isolation des Antragstellers hierdurch verschärft werde, und ein Schulwechsel kein Mittel sei, einen lebensbedrohlichen Gewichtsverlust, Depression und suizidale Gedanken mit dem Wechsel der Schule zu therapieren.
27Zum einen ist nicht nachvollziehbar, dass infolge des Unterrichts durch die X. -J. schule die soziale Isolation des Antragstellers verschärft würde. Dass der Antragsteller im Schuljahr 2015/16 keine Schule besucht, ist nicht dadurch bedingt, dass er durch die X. -J. schule unterrichtet wird, sondern beruht darauf, dass mit Bescheid vom 19. Juni 2015 das Ruhen seiner Schulpflicht bis zum 31. Juli 2016 festgestellt wurde. Inwieweit in dieser Situation der Unterricht durch die X. -J. schule, der immerhin den - internetgestützten - Kontakt zu den dortigen Lehrpersonen erfordert, die soziale Isolation des Antragstellers verschärfen soll, ist nicht erkennbar.
28Dabei wird nicht verkannt, dass der Unterricht durch die X. -J. schule in erster Linie den Hilfebedarf des Antragstellers im Bereich Schulbildung abdeckt und in den übrigen Bereichen, in denen der Antragsteller an der Teilhabe beeinträchtigt ist - insbesondere soweit seine Freizeitgestaltung und Kontakte zu Gleichaltrigen betroffen sind - seinen Hilfebedarf nicht abdecken dürfte. Aus der Regelung des § 35a SGB VIII kann aber der Rechtssatz, dass eine Hilfemaßnahme den gesamten Eingliederungshilfebedarf abdecken muss, nicht abgeleitet werden. Dieser Satz findet weder im Wortlaut des § 35a SGB VIII oder den von dieser Norm in Bezug genommenen Vorschriften eine Verankerung, noch lässt er sich aus der Systematik oder aus dem Sinn und Zweck der Eingliederungshilfe folgern.
29Während der Wortlaut des § 35a SGB VIII noch offen ist, spricht die Systematik des Gesetzes in gewichtiger Weise dafür, dass Eingliederungshilfeleistungen auch darauf ausgerichtet sein dürfen, einen Teilbedarf zu decken. So greift § 35a Abs. 3 SGB VIII mit der Inbezugnahme auf § 54 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 SGB XII und damit die Hilfen zu einer angemessenen Schulbildung selbst einen Teilleistungsbereich heraus und geht davon aus, dass es Hilfen gibt, die gerade auf die Deckung dieses (Teil-) Bedarfs zugeschnitten sind. Die systematische Gesamtschau mit den weiteren von § 35a Abs. 3 SGB VIII in Bezug genommenen Leistungstatbeständen unterstützt dieses Ergebnis. Diese enthalten ebenfalls in der Regel - wie sich aus der jeweiligen Verwendung des Wortes "insbesondere" ergibt - beispielhafte Aufzählungen (vgl. § 54 Abs. 1 Satz 1 SGB XII, § 26 Abs. 2 und 3 SGB IX, § 33 Abs. 2, 3 und 6 SGB IX), die ein offenes Leistungssystem normieren und jeweils darauf ausgerichtet sind, den Bedarf in bestimmten Bereichen zu decken.
30Dieses Auslegungsergebnis wird durch den Sinn und Zweck der Regelungen über die Eingliederungshilfe bestätigt. Aufgabe und Ziel der Eingliederungshilfe werden durch die über § 35a Abs. 3 SGB VIII entsprechend anwendbare Regelung des § 53 Abs. 3 SGB XII näher bestimmt. Besondere Aufgabe der Eingliederungshilfe ist es danach, eine drohende Behinderung zu verhüten oder eine Behinderung oder deren Folgen zu beseitigen oder zu mildern und die behinderten Menschen in die Gesellschaft einzugliedern. Hierzu gehört insbesondere, den behinderten Menschen die Teilnahme am Leben in der Gemeinschaft zu ermöglichen oder zu erleichtern.
31Zwar hat der Jugendhilfeträger möglichst den gesamten Hilfebedarf abzudecken, der durch die seelische Behinderung hervorgerufen wird, und deshalb alle von einer Teilhabebeeinträchtigung betroffenen Lebensbereiche in den Blick zu nehmen. Hilfebedarfe in unterschiedlichen Lebensbereichen sollen dabei nach Möglichkeit einheitlich abgedeckt werden und etwa die Eingliederungshilfe mit der Erziehungshilfe kombiniert werden (vgl. § 35a Abs. 4 Satz 1 SGB VIII). Hilfeleistungen sind demnach so auszuwählen und aufeinander abzustimmen, dass sie den gesamten Bedarf so weit wie möglich erfassen. Denn aus dem (sozialhilferechtlichen) Bedarfsdeckungsgrundsatz, der im Bereich der jugendhilferechtlichen Eingliederungshilfe in § 35a Abs. 2 SGB VIII (vgl. "Die Hilfe wird nach dem Bedarf im Einzelfall ... geleistet") verankert ist, folgt, dass grundsätzlich der gesamte im konkreten Einzelfall anzuerkennende Hilfebedarf seelisch behinderter oder von einer solchen Behinderung bedrohter Kinder oder Jugendlicher abzudecken ist. Das erfordert, dass sich der Träger der öffentlichen Jugendhilfe - bzw. im Fall der zulässigerweise selbstbeschafften Hilfe der Leistungsberechtigte - der Art und Form nach aller Leistungen und Hilfen bedienen kann, die zur Deckung des konkreten und individuellen eingliederungsrechtlichen Bedarfs geeignet und erforderlich sind. Dies kann es jedoch gerade bedingen, dass der durch Teilhabebeeinträchtigungen in verschiedenen Lebensbereichen erzeugte Hilfebedarf nur durch verschiedene, auf den jeweiligen Bereich zugeschnittene Leistungen abgedeckt werden kann und muss, um die Aufgabe der Eingliederungshilfe zu erfüllen. Hilfebedarf in unterschiedlichen Bereichen kann es geboten erscheinen lassen, verschiedene Hilfeleistungen zu kombinieren oder durch mehrere Einzelleistungen den Gesamtbedarf des Hilfebedürftigen abzudecken. Um dem Ziel der Eingliederungshilfe nach möglichst umfassender Bedarfsdeckung in allen von einer Teilhabebeeinträchtigung betroffenen Bereichen gerecht zu werden, kann es, wenn nicht sogleich der Gesamtbedarf gedeckt werden kann, erforderlich sein, Hilfeleistungen zumindest und zunächst für diejenigen Teilbereiche zu erbringen, in denen dies möglich ist. Steht etwa eine bestimmte Hilfeleistung tatsächlich zeitweilig nicht zur Verfügung oder wird eine bestimmte Hilfe vom Hilfeempfänger oder dessen Erziehungsberechtigten (zeitweise) nicht angenommen, kann es gleichwohl geboten sein, die Hilfen zu gewähren, die den in anderen Teilbereichen bestehenden (akuten) Bedarf abdecken.
32Etwas anderes kann - mit Blick auf den dargelegten Sinn und Zweck der Eingliederungshilfe - dann anzunehmen sein, wenn die Gewährung der Hilfe für einen Teilbereich die Erreichung des Eingliederungszieles in anderen von der Teilhabebeeinträchtigung betroffenen Lebensbereichen erschweren oder vereiteln würde, es also zu Friktionen zwischen Hilfsmaßnahmen käme. Nachteilige Wechselwirkungen mit anderen Hilfeleistungen können die fachliche Geeignetheit einer (begehrten) Leistung für einen Teilleistungsbereich in Frage stellen. Dies ist eine Frage der fachlich sinnvollen Abstimmung verschiedener Hilfeleistungen aufeinander.
33Dass der Gesamtbedarf durch eine bestimmte Hilfemaßnahme nicht gedeckt wird, schließt es mithin - entgegen der Rechtsansicht des Verwaltungsgerichts - nicht aus, dass sie geeignet und erforderlich sein kann, einen Teilbedarf zu decken und insoweit ein Anspruch auf Eingliederungshilfe besteht; es sei denn, die Gewährung der Hilfe für diesen Teilbedarf würde Hilfemaßnahmen für andere von einer Teilhabebeeinträchtigung betroffene Lebensbereiche vereiteln oder konterkarieren.
34Vgl. BVerwG, Urteil vom 18. Oktober 2012 - 5 C 21.11 -, BVerwGE 145, 1, juris, m.w.N.
35Dass durch den Besuch der X. -J. schule die von der Antragsgegnerin gewährte Autismustherapie vereitelt oder konterkariert würde, ist weder vorgetragen noch sonst ersichtlich. Vielmehr sind ausweislich des Protokolls des Hilfeplangesprächs vom 23. November 2015 in der letzten Zeit Fortschritte in der Zusammenarbeit des Antragstellers mit dem Therapeuten festzustellen. Nach dem unwidersprochenen Vortrag des Antragstellers hat sich zudem seit der Beschulung durch die X. -J. schule seine Fähigkeit zu sozialen Kontakten eher verbessert; so geht er etwa regelmäßig einer ehrenamtlichen Tätigkeit nach, macht Einkäufe, und der Kontakt zu seinem Vater hat sich verbessert.
36Auch die Erwägung, die psychischen Beeinträchtigungen des Antragsgegners könnten nicht mit einem Schulwechsel therapiert werden, trägt die Ablehnung der Übernahme der Kosten der X. -J. schule nicht. Die etwaige Erforderlichkeit einer Therapie des Antragstellers, die über die bisherige Inanspruchnahme psychiatrischer Hilfe hinausgeht, steht der Gewährung der begehrten Kostenübernahme nicht entgegen. Ein Bedarf an Eingliederungshilfe entsteht vielmehr nicht selten erst auch dadurch, dass zu einem früheren Zeitpunkt keine ausreichenden pädagogischen, diagnostischen und therapeutischen Hilfestellungen erfolgten bzw. zunächst ausreichend erscheinende Hilfestellungen nicht griffen. Defizite dieser Art sind typischerweise Auslöser eines Bedarfs an Jugendhilfe und stehen der Geltendmachung eines aktuellen - gegebenenfalls durch unzureichende bisherige Therapien geprägten - Bedarfs nicht etwa anspruchsvernichtend gegenüber.
37Vgl. VG Bayreuth, Urteil vom 11. September 2007
38- B 3 K 05.23 -, juris.
39Auf das Vorliegen der Voraussetzungen des § 36a Abs. 3 SGB VIII für den geltend gemachten Anspruch kommt es unmittelbar nicht an, weil der Antragsteller in der Sache einen Anspruch auf Gewährung einer Jugendhilfeleistung verfolgt. Im Verfahren des einstweiligen Rechtsschutzes zur Erlangung von Eingliederungshilfe nach § 35a SGB VIII kann regelmäßig lediglich eine Anordnung für die Zukunft erfolgen, da es für die Vergangenheit an einem Anordnungsgrund fehlen dürfte; ob ein Kostenerstattungsanspruch für die vor dem Beschluss des Senates selbst beschaffte Hilfe nach § 36a Abs. 3 SGB VIII vorliegt, ist im Verfahren des einstweiligen Rechtsschutzes daher nicht zu klären. Ungeachtet dessen deckt die rechtliche Prüfung in einem Eilverfahren nach § 123 VwGO, in dem eine Verpflichtung des zuständigen Jugendhilfeträgers zur vorläufigen Gewährung einer Hilfeleistung erstritten werden soll, der Sache nach auch Fragen ab, die sich in gleicher oder ähnlicher Weise bei der Prüfung eines Kostenerstattungsanspruchs nach § 36a Abs. 3 Satz 1 SGB VIII stellen würden. So liegt etwa auf der Hand, dass das Bestehen eines Anordnungsanspruchs davon abhängt, ob die materiell-rechtlichen Voraussetzungen für die Gewährung der begehrten Hilfe vorliegen; auf diese Voraussetzungen stellt auch § 36a Abs. 3 Satz 1 Nr. 2 SGB VIII ab. Für den frühestmöglichen Beginn eines Anordnungsanspruchs kann wiederum von Bedeutung sein, wann der Leistungsberechtigte den Jugendhilfeträger über seinen Hilfebedarf informiert hat und welche Zeitspanne dem Jugendhilfeträger hiernach zur pflichtgemäßen Prüfung sowohl der Anspruchsvoraussetzungen als auch möglicher Hilfemaßnahmen im Rahmen einer geordneten Hilfeplanung nach § 36 Abs. 2 SGB VIII einzuräumen war; diesen Aspekt erfasst auch § 36a Abs. 3 Satz 1 Nr. 1 SGB VIII.
40Hier stand der Antragsgegnerin ausreichend Zeit zur Verfügung, um über den Antrag vom 23. April 2015 auf Übernahme der Kosten für den Unterricht durch die X. -J. schule auch unter Berücksichtigung des Bescheides über das Ruhen der Schulpflicht vom 19. Juni 2015 - eine den verfahrensrechtlichen Anforderungen aus § 36 Abs. 2 SGB VIII entsprechende Entscheidung noch vor Beginn des Schuljahres 2015/2016 treffen zu können. Der Hilfefall war dem Jugendamt bereits seit mehreren Jahren bekannt, insbesondere lag bereits im Jahr 2012 u.a. die Diagnose eines Asperger-Syndroms vor. Die Probleme des Antragstellers auf der B. -G. -Schule waren auch zuvor bereits Thema mehrerer Hilfeplangespräche in den Jahren 2014 und 2015 gewesen.
41Es liegt auch ein Anordnungsgrund vor. Von einem unaufschiebbaren Bedarf ist regelmäßig gerade auch dann auszugehen, wenn der bei Kindern und Jugendlichen dauerhaft bestehende Bedarf an adäquater Bildungsvermittlung wegen drohenden Verlustes an Zeit, die nicht nachgeholt, sondern nur angehängt werden kann, nicht mehr oder nicht ausreichend gedeckt werden kann.
42Vgl. OVG NRW, Beschluss vom 19. November 2014 - 12 B 1198/14 -, juris
43Allerdings fehlt es an der Notwendigkeit einer Entscheidung gerade im Wege des vorläufigen Rechtsschutzes, solange ein Abbruch der tatsächlich durchgeführten Maßnahme nicht aufgrund der ungeklärten Kostentragung droht. Ein Abbruch droht nicht, wenn der die Jugendhilfe tatsächlich "vorleistende" Dritte (z.B. der Träger der Einrichtung) nicht auf den Ersatz seiner Kosten drängt oder die Eltern des Kindes bzw. Jugendlichen in der Lage sind, die Kosten der Maßnahme einstweilen vorzuschießen.
44Vgl. OVG NRW, Beschluss vom 21. August 2001
45- 12 B 582/01 -, juris.
46Vorliegend hat der Antragsteller glaubhaft gemacht, dass seine Eltern nicht (mehr) in der Lage sind, die monatlichen Kosten in Höhe von 787 € zu tragen. Auf die Tragung der Kosten durch seine Großeltern muss sich der Antragsteller angesichts deren fehlender Unterhaltspflicht nicht verweisen lassen.
47Die Verpflichtung der Antragsgegnerin ist in zeitlicher Hinsicht bis längstens zum 31. Juli 2016, dem derzeit absehbaren Ende des Ruhens der Schulpflicht des Antragstellers, zu begrenzen. Im Fall eines erneuten Antrags des Antragstellers auf darüber hinausgehende Kostenübernahme bliebe es der Antragsgegnerin unbenommen zu prüfen, welche anderen, aus ihrer Sicht möglicherweise auch geeigneteren Beschulungsmöglichketen für den Antragsteller in Betracht kämen, und deren Eignung und Verfügbarkeit konkret darzulegen.
48Die Kostenentscheidung beruht auf §§ 154 Abs. 2, 188 Satz 2 Halbsatz 1 VwGO.
49Der Beschluss ist gemäß § 152 Abs. 1 VwGO unanfechtbar.
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