Urteil vom Oberverwaltungsgericht Nordrhein-Westfalen - 11 A 2239/20.A
Tenor
Die Berufung wird zurückgewiesen.
Die Beklagte trägt die Kosten des Berufungsverfahrens, für das Gerichtskosten nicht erhoben werden.
Das Urteil ist wegen der Kosten vorläufig vollstreckbar. Die Beklagte darf die Vollstreckung durch Sicherheitsleistung in Höhe von 110 % des aufgrund des Urteils zu vollstreckenden Betrags abwenden, wenn nicht der Kläger vor der Vollstreckung Sicherheit in Höhe von 110 % des jeweils zu vollstreckenden Betrags leistet.
Die Revision wird zugelassen.
1
Tatbestand:
2Der am 18. Juli 1997 geborene Kläger ist armenischer Staatsangehöriger. Er reiste nach eigenen Angaben am 23. August 2019 in das Bundesgebiet ein und stellte am 12. September 2019 einen Asylantrag. Zum Zeitpunkt seiner Einreise verfügte der Kläger über ein Schengen-Visum, ausgestellt am 14. August 2019 durch die polnische Vertretung in Kaliningrad, mit einer Gültigkeit bis zum 15. Februar 2020.
3Das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (Bundesamt) wandte sich mit Gesuch vom 13. September 2019 an die polnischen Behörden und bat um Aufnahme des Klägers. Die polnischen Behörden stimmten mit Schreiben vom 24. September 2019 einer Aufnahme des Klägers zu.
4Mit Bescheid vom 27. September 2019 lehnte das Bundesamt den Asylantrag des Klägers als unzulässig ab und stellte fest, dass Abschiebungsverbote nach § 60 Abs. 5 und Abs. 7 AufenthG nicht vorliegen. Die Abschiebung in die Republik Polen wurde angeordnet. Das Einreise- und Aufenthaltsverbot wurde gemäß § 11 Abs. 1 AufenthG angeordnet und auf 12 Monate ab dem Tag der Abschiebung befristet.
5Der Kläger hat am 8. Oktober 2019 Klage erhoben und zugleich einen Antrag auf einstweiligen Rechtsschutz gestellt (15 L 2716/19.A), den das Verwaltungsgericht mit Beschluss vom 31. Oktober 2019 - den Beteiligten zugestellt am gleichen Tag - abgelehnt hat. Auf den weiteren einstweiligen Rechtsschutzantrag des Klägers (15 L 776/20.A) hat das Verwaltungsgericht mit Beschluss vom 18. Mai 2020 in Abänderung des Beschlusses vom 31. Oktober 2019 im Verfahren - 15 L 2716/19.A - die aufschiebende Wirkung der Klage angeordnet.
6Mit Schreiben vom 30. März 2020 teilte die Beklagte dem Kläger mit, sie habe gemäß § 80 Abs. 4 VwGO i. V. m. Art. 27 Abs. 4 Dublin III-VO die Vollziehung der Abschiebungsanordnung ausgesetzt. Im Hinblick auf die Entwicklung der Corona-Krise seien derzeit Dublin-Überstellungen nicht zu vertreten. Daher werde bis auf weiteres die Überstellung des Klägers ausgesetzt. Die zeitweise Aussetzung des Überstellungsverfahrens impliziere nicht, dass der zuständige Dublin-Staat nicht mehr zur Übernahme bereit und verpflichtet sei. Vielmehr sei der Vollzug vorübergehend nicht möglich. Die abgegebene Erklärung gelte unter dem Vorbehalt des Widerrufs.
7Zur Begründung seiner Klage hat der Kläger im Wesentlichen geltend gemacht, die Überstellungsfrist nach Art. 29 Dublin III-VO sei am 30. April 2020 abgelaufen, sodass die Beklagte für die Prüfung seines Asylantrags zuständig geworden sei. Daran ändere auch die Aussetzung der Vollziehung durch das Bundesamt nichts, da diese nicht von Art. 27 Abs. 4 Dublin III-VO gedeckt sei.
8Der Kläger hat beantragt,
9die Beklagte unter Aufhebung des Bescheids des Bundesamts für Migration und Flüchtlinge vom 27. September 2019 zu verpflichten, festzustellen, dass die Bundesrepublik für sein Asylverfahren zuständig ist und deshalb sein Asylverfahren in Deutschland durchzuführen ist,
10hilfsweise, die Beklagte zu verpflichten festzustellen, dass in seiner Person die Voraussetzungen der Abschiebungsverbote gemäß § 60 Abs. 5 und 7 AufenthG vorliegen.
11Die Beklagte hat beantragt,
12die Klage abzuweisen.
13Zur Begründung hat sie sich auf die Gründe des angefochtenen Bescheids bezogen.
14Mit Urteil vom 9. Juli 2020 hat das Verwaltungsgericht den Bescheid des Bundesamts vom 27. September 2019 aufgehoben. Zur Begründung hat es im Wesentlichen ausgeführt, die Ablehnung des Asylantrags des Klägers als unzulässig nach § 29 Abs. 1 Nr. 1 a) AsylG sei zum entscheidungserheblichen Zeitpunkt der gerichtlichen Entscheidung rechtswidrig. Die sechsmonatige Überstellungsfrist nach Art. 29 Abs. 1 UAbs. 1 Dublin III-VO sei bereits am 30. April 2020 abgelaufen mit der Folge, dass die Beklagte gemäß Art. 29 Abs. 2 Satz 1 Dublin III-VO für die Prüfung des Asylantrags des Klägers zuständig geworden sei. Die unter dem 31. März 2020 erfolgte Aussetzung der Vollziehung durch das Bundesamt habe sich - ungeachtet der Wirkungen einer solchen Aussetzung im nationalen Recht - nach den Regelungen der Dublin III-VO nicht auf den Ablauf der Überstellungsfrist ausgewirkt, da sie sich nicht auf Art. 27 Abs. 4 Dublin III-VO stützen lasse.
15Zur Begründung der vom Senat zugelassenen Berufung macht die Beklagte geltend, ihre Aussetzungsentscheidung vom 31. März 2020 habe zu einer Unterbrechung der Überstellungsfrist geführt, so dass bislang noch kein Zuständigkeitsübergang gemäß Art. 29 Abs. 2 Satz 1 Dublin III-VO stattgefunden habe. Die Rahmenvorgaben der Dublin III-VO ermöglichten eine Auslegung dahin, dass - zumal wegen einer wie hier völlig atypischen Sonderkonstellation - eine behördliche Aussetzung der Überstellungsfrist statthaft sei und zur Unterbrechung der Frist führe. Möglicherweise habe die Sondersituation durch die Corona-Krise bereits per se zu einer Unterbrechung laufender Überstellungsfristen geführt. Zumindest seien die Mitgliedstaaten in dieser Konstellation befugt, gemäß Art. 27 Abs. 4 Dublin III-VO eine Aussetzung der Überstellungsentscheidung bis zum Abschluss der (behördlichen) Überprüfung zu verfügen. Eine solche Aussetzungsentscheidung dürfe ergehen, wenn Zweifel an der Rechtmäßigkeit der Abschiebungsanordnung bestünden. Denn dann hätten die Belange eines Antragstellers auf Gewährung effektiven Rechtschutzes Vorrang vor dem Beschleunigungsgedanken. Solche Zweifel hätten sich vorliegend daraus ergeben, dass aufgrund der erfolgten Grenzschließungen in Folge der Corona-Pandemie nicht festgestanden habe, dass die Überstellung auch tatsächlich zeitnah erfolgen könne.
16Die Wirksamkeit des gerichtlichen Rechtschutzes erlaube ferner eine behördliche Aussetzung aus sachlich vertretbaren Erwägungen, die nicht rechtlich zwingend sein müssten, auch unterhalb dieser Schwelle, wenn diese den Beschleunigungsgedanken und die Interessen des zuständigen Mitgliedstaates nicht willkürlich verkennen würden und auch sonst nicht rechtsmissbräuchlich seien, was hier aufgrund der durch die Corona-Pandemie hervorgerufenen außerordentlichen Lage der Fall sei. Art. 27 Abs. 4 Dublin III-VO lasse sich dagegen nicht entnehmen, dass eine Vollziehung nur zu dem Zweck ausgesetzt werden dürfe, eine gerichtliche Klärung der Rechtmäßigkeit der Überstellungsentscheidung zu ermöglichen. Diese finale Verknüpfung ergebe sich weder aus dem deutschen Wortlaut der Norm noch aus ihrer englischen bzw. französischen Fassung. Die Formulierung „bis zum Abschluss des Rechtsbehelfs oder der Überprüfung“ deute vielmehr lediglich auf einen zeitlichen Gleichlauf des Rechtsbehelfs und einer Aussetzungsentscheidung hin und bestimme im Übrigen einen maximalen Zeitraum, der aber von den Behörden nicht ausgeschöpft werden müsse. Daran ändere auch die Mitteilung der EU-Kommission vom 17. April 2020 nichts, wonach keine Vorschrift der Dublin III-VO es erlaube, in der derzeitigen Corona-Krise vom Prinzip des Zuständigkeitsübergangs nach Art. 29 Abs. 2 Dublin III-VO abzuweichen. Denn die Kommission gehe in der Mitteilung gerade nicht darauf ein, ab welchem Zeitpunkt die Überstellungsfrist zu laufen beginne bzw. ob eine noch laufende Überstellungsfrist nach Art. 27 Abs. 4 Dublin III-VO unterbrochen werden könne, sodass das Vorgehen des Bundesamts den Vorgaben der EU-Kommission nicht widerspreche.
17Die Aussetzungsentscheidung sei weder willkürlich noch rechtsmissbräuchlich. Ziel der Vollzugsaussetzung sei nicht nur ein (nicht gerechtfertigtes) Hinausschieben bzw. Verhindern des anstehenden Ablaufs der Überstellungsfrist, die aufgrund behördlicher Versäumnisse nicht mehr gewahrt werden könne. Die Aussetzung sei vielmehr erfolgt, um dem tatsächlich aufgrund der Corona-Pandemie bestehenden Vollzugshindernis und der dadurch herbeigeführten vorübergehenden Rechtswidrigkeit der Abschiebungsanordnung Rechnung zu tragen.
18Die Beklagte beantragt,
19das angefochtene Urteil zu ändern und die Klage abzuweisen.
20Der Kläger beantragt,
21die Berufung zurückzuweisen.
22Zur Begründung bezieht er sich auf die Entscheidungsgründe des klageabweisenden Urteils und ergänzt, die überwiegende Mehrheit der Verwaltungsgerichte halte die ausgesprochene Vollzugsaussetzung des Bundesamts für unionsrechtswidrig. Zu diesem Ergebnis komme auch eine Ausarbeitung des Deutschen Bundestags zur Aussetzung von Überstellungsfristen nach der Dublin III-VO im Zusammenhang mit der Corona-Pandemie vom 2. Juni 2020.
23Die Beteiligten haben übereinstimmend ihr Einverständnis mit einer Entscheidung ohne mündliche Verhandlung erklärt.
24Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstands wird auf den Inhalt der Gerichtsakten sowie auf die beigezogenen Verwaltungsvorgänge des Bundesamts Bezug genommen.
25Entscheidungsgründe:
26Mit Einverständnis der Beteiligten entscheidet der Senat gemäß § 101 Abs. 2 VwGO ohne mündliche Verhandlung.
27Die zulässige Berufung hat keinen Erfolg.
28Das Verwaltungsgericht hat den Bescheid des Bundesamts vom 27. September 2019 zu Recht aufgehoben, da dieser rechtswidrig ist und den Kläger in seinen Rechten verletzt (§ 113 Abs. 1 Satz 1 VwGO).
29A. Die Ablehnung des Asylantrags als unzulässig in Ziffer 1. des Bescheids kann nicht (mehr) auf § 29 Abs. 1 Nr. 1 a) AsylG gestützt werden.
30Danach ist ein Asylantrag unzulässig, wenn ein anderer Staat nach Maßgabe der Verordnung (EU) Nr. 604/2013 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 26. Juni 2013 zur Festlegung der Kriterien und Verfahren zur Bestimmung des Mitgliedstaats, der für die Prüfung eines von einem Drittstaatsangehörigen oder Staatenlosen in einem Mitgliedstaat gestellten Antrags auf internationalen Schutz zuständig ist (Dublin III-VO), für die Durchführung des Asylverfahrens zuständig ist.
31Gemäß Art. 29 Abs. 1 UAbs. 1 Dublin III-VO erfolgt die Überstellung aus dem ersuchenden Mitgliedstaat in den zuständigen Mitgliedstaat nach Maßgabe der innerstaatlichen Rechtsvorschriften des ersuchenden Mitgliedstaats und nach Abstimmung der beteiligten Mitgliedstaaten, sobald dies praktisch möglich ist, spätestens aber innerhalb einer Frist von sechs Monaten nach der Annahme des Aufnahme- oder Wiederaufnahmegesuchs durch einen anderen Mitgliedstaat oder der endgültigen Entscheidung über einen Rechtsbehelf oder eine Überprüfung, wenn diese gemäß Art. 27 Abs. 3 Dublin III-VO aufschiebende Wirkung hat. Wird die Überstellung nicht innerhalb der Frist von sechs Monaten durchgeführt, ist nach Art. 29 Abs. 2 Satz 1 Dublin III-VO der zuständige Mitgliedstaat nicht mehr zur Aufnahme oder Wiederaufnahme der betreffenden Person verpflichtet und die Zuständigkeit geht auf den ersuchenden Mitgliedstaat über. Gemäß Satz 2 der Vorschrift kann die Frist höchstens auf ein Jahr verlängert werden, wenn die Überstellung aufgrund der Inhaftierung der betreffenden Person nicht erfolgen konnte, oder aber auf höchstens 18 Monate, wenn die betreffende Person flüchtig ist.
32I. Da weder vorgetragen noch sonst ersichtlich ist, dass das Bundesamt die Republik Polen als den um die Aufnahme bzw. Wiederaufnahme ersuchten Mitgliedstaat über einen der in Art. 29 Abs. 2 Satz 2 Dublin III-VO genannten Gründe für eine Fristverlängerung informiert hat, betrug die maßgebliche Überstellungsfrist entsprechend Art. 29 Abs. 1 UAbs. 1 Dublin III‑VO sechs Monate.
33Diese sechsmonatige Überstellungsfrist hat ursprünglich am 24. September 2019 zu laufen begonnen, nachdem die polnischen Behörden einer Überstellung des Klägers zugestimmt hatten. Sie ist durch die Stellung des (ersten) gerichtlichen Eilantrags (15 L 2716/19.A) unterbrochen worden und hat mit dessen Ablehnung am 31. Oktober 2019, den Beteiligten zugestellt am gleichen Tag, erneut zu laufen begonnen.
34Vgl. hierzu BVerwG, Urteil vom 26. Mai 2016 ‑ 1 C 15.15 -, juris.
35Die Überstellungsfrist ist daher am 30. April 2020 abgelaufen.
36II. Die durch das Bundesamt angeordnete Aussetzung der Vollziehung der im angefochtenen Bescheid enthaltenen Abschiebungsanordnung nach § 80 Abs. 4 VwGO i. V. m. Art. 27 Abs. 4 Dublin III-VO mit Schriftsatz vom 30. März 2020 hat nicht zu einer (erneuten) Unterbrechung oder Aussetzung der Überstellungsfrist geführt. Nach Art. 27 Abs. 4 Dublin III-VO können die Mitgliedstaaten vorsehen, dass die zuständigen Behörden beschließen können, von Amts wegen tätig zu werden, um die Durchführung der Überstellungsentscheidung bis zum Abschluss des Rechtsbehelfs oder der Überprüfung auszusetzen. Diese unionsrechtlich vorgesehene Möglichkeit ist im nationalen Recht durch § 80 Abs. 4 VwGO eröffnet, nach dessen Satz 1 die Behörde, die den Verwaltungsakt erlassen oder über den Widerspruch zu entscheiden hat, in den Fällen des Entfallens der aufschiebenden Wirkung der Klage nach § 80 Abs. 2 VwGO die Vollziehung aussetzen kann, soweit nicht bundesgesetzlich etwas anderes bestimmt ist.
37Die Aussetzung der Vollziehung der Abschiebungsanordnung gemäß § 80 Abs. 4 VwGO durch die Behörde ist zwar generell geeignet, die in Art. 29 Abs. 1 UAbs. 1 Dublin III-VO vorgesehene Überstellungsfrist zu unterbrechen.
38Vgl. BVerwG, Urteil vom 8. Januar 2019 - 1 C 16.18 -, juris, Rn. 19; siehe auch EuGH, Urteil vom 13. September 2017 - C-60/16 -, juris, Rn. 71 (zu Art. 28 Abs. 3 UAbs. 3 Dublin III-VO).
39Allerdings ist die im vorliegenden Verfahren angeordnete Aussetzung nicht mit Unionsrecht vereinbar.
401. Der Senat schließt sich der zutreffenden Rechtsauffassung des Oberverwaltungsgerichts Schleswig-Holstein in seinem Beschluss vom 9. Juli 2020 - 1 LA 120/20 - sowie des Niedersächsischen Oberverwaltungsgerichts in seinem Beschluss vom 27. Oktober 2020 - 10 LA 217/20 - an, wonach eine Aussetzung der Durchführung der Überstellungsentscheidung im Sinne von Art. 27 Abs. 4 Dublin III-VO voraussetzt, dass diese zum Zwecke einer Prüfung der Überstellungsentscheidung (in Form eines Rechtsbehelfsverfahrens oder einer behördlichen Überprüfung) angeordnet wird. Eine von der Durchführung eines solchen Prüfungsverfahrens unabhängige Aussetzung der Überstellungsentscheidung sieht Art. 27 Abs. 4 Dublin III-VO nicht vor.
41a. Bereits dem Wortlaut des Art. 27 Abs. 4 Dublin III-VO lässt sich mit der Bezugnahme auf den Abschluss des Rechtsbehelfs oder der Überprüfung entnehmen, dass mit der mitgliedstaatlichen Aussetzungsentscheidung im Sinne dieser Vorschrift eine rechtschutzbezogene Prüfung der Überstellungsentscheidung verbunden sein muss. Eine Aussetzung der Vollziehung im Sinne des Art. 27 Abs. 4 Dublin III-VO kommt - anders als nach nationalem Verfahrensrecht - nur dann in Betracht, wenn der Betroffene einen Rechtsbehelf im Sinne der Vorschrift eingelegt hat (der im Zeitpunkt der Aussetzungsentscheidung noch anhängig sein muss). Nach dem Wortlaut bestimmt der Abschluss dieser Prüfung den Zeitpunkt, bis zu dem die Durchführung der Überstellungsentscheidung ausgesetzt werden kann.
42Vgl. Nds. OVG, Beschluss vom 27. Oktober 2020 - 10 LA 217/20 -, juris, Rn. 19; OVG S.-H., Beschluss vom 9. Juli 2020 - 1 LA 120/20 -, juris, Rn. 9.
43Dem kann nicht entgegengehalten werden, dass sich eine solche finale Verknüpfung weder aus dem deutschen Wortlaut („um die Durchführung der Überstellungsentscheidung bis zum Abschluss des Rechtsbehelfs oder der Überprüfung auszusetzen“) noch der englischen oder französischen Sprachfassung („pending the outcome of the appeal or review“ bzw. „en attendant l’issue du recours ou de la demande de révision“ [bis das Ergebnis der Beschwerde oder des Antrags auf bzw. der Überprüfung vorliegt]) ergebe, sondern die Sprachfassungen vielmehr lediglich einen zeitlichen Gleichlauf zwischen Rechtsbehelf und Aussetzungsentscheidung implizierten.
44So aber u. a. VG Karlsruhe, Urteil vom 26. August 2020 - 1 K 1026/20 -, juris, Rn. 48; VG Minden, Beschluss vom 6. Juli 2020 - 12 L 485/20.A -, juris, Rn. 55 ff.
45b. Die Notwendigkeit einer finalen Verknüpfung im o. g. Sinne ergibt sich nämlich ferner aus der Systematik sowie dem Sinn und Zweck der Norm.
46aa. Bereits die Überschrift des Art. 27 Dublin III-VO („Rechtsmittel“ bzw. „Remedies“ oder „Voies de recours“) sowie dessen systematische Einordnung in den Abschnitt IV der Verordnung („Verfahrensgarantien“ bzw. „Procedural safeguards“ oder „Garanties procédurales“) machen deutlich, dass Ziel der Vorschrift die Gewährleistung der Möglichkeit einer rechtschutzbezogenen Prüfung der mitgliedstaatlichen Überstellungsentscheidung (im Einzelfall) und damit eines effektiven Rechtsschutzes für die jeweiligen Antragsteller und andere Personen im Sinne des Art. 18 Abs. 1 c) oder d) Dublin III-VO ist.
47bb. Die Notwendigkeit der finalen Verknüpfung zwischen Rechtsbehelf und Aussetzungsentscheidung folgt darüber hinaus aus der normativen Einbettung der Vorschrift in den Kontext des Art. 27 Abs. 1 bis 3 Dublin III-VO, der ersichtlich auf die Gewährleistung eines wirksamen Rechtsmittels abzielt. Nach Art. 27 Abs. 1 Dublin III-VO hat der Antragsteller oder eine andere Person im Sinne von Art. 18 Abs. 1 c) oder d) Dublin III-VO das Recht auf ein wirksames Rechtsmittel gegen eine Überstellungsentscheidung in Form einer auf Sach- und Rechtsfragen gerichteten Überprüfung durch ein Gericht, das er innerhalb einer angemessenen Frist wahrnehmen kann (Abs. 2). Nach Abs. 3 sehen die Mitgliedstaaten in ihrem innerstaatlichen Recht „zum Zwecke eines Rechtsbehelfs gegen eine Überstellungsentscheidung oder einer Überprüfung einer Überstellungsentscheidung“ vor, dass einem Rechtsbehelf entweder von Gesetzes wegen aufschiebende Wirkung zukommt, so dass die betroffene Person bis zum Abschluss seiner rechtsschutzbezogenen Prüfung im Hoheitsgebiet des betreffenden Mitgliedstaats bleiben kann, oder dass der Betroffene eine Aussetzung der Durchführung der Überstellungsentscheidung bis zum Abschluss des Rechtsbehelfs oder der Überprüfung gerichtlich beantragen kann.
48cc. Auch mit dem Recht auf ein effektives Rechtsmittel (Art. 17 Abs. 1 Dublin III-VO i. V. m. Art. 47 GRC) wäre es nicht vereinbar, dem Mitgliedstaat eine Möglichkeit zur unilateralen Verlängerung bzw. Unterbrechung der Überstellungsfrist aus nicht rechtsschutzbezogenen und nicht in der Verantwortungssphäre des Betroffenen liegenden Gründen einzuräumen. Andernfalls würde so den zuständigen Behörden die Möglichkeit eröffnet, eine Unterbrechung der Überstellungsfrist in Fällen selbst herbeizuführen, in denen die Dublin III-VO eine Verlängerung der Überstellungsfrist gerade nicht vorsieht. Zudem würde so die - durch Art. 27 Abs. 3 Dublin III-VO ausdrücklich eröffnete - Entscheidung des Bundesgesetzgebers unterlaufen, grundsätzlich dem Kläger die Entscheidung zu überlassen, ob er in Folge der Klageerhebung eine Unterbrechung der Überstellungsfrist in Kauf nehmen will (vgl. §§ 34a Abs. 2, 75 AsylG).
49vgl. zu diesem Wertungswiderspruch auch Deutscher Bundestag (PE 6: Fachbereich Europa), Ausarbeitung zur Aussetzung von Überstellungsfristen nach der Dublin-III-Verordnung im Zusammenhang mit der Corona-Pandemie vom 2. Juni 2020 - PE 6 - 3000 - 031/20 -, S. 14 f.; VG Karlsruhe, Urteil vom 1. Oktober 2020 - A 9 K 343/20 -, juris, Rn. 25, 30.
50c. Darüber hinaus ist bei der Auslegung des Art. 27 Abs. 4 Dublin III-VO neben den aufgezeigten Auslegungserwägungen insbesondere auch das Dublin-System insgesamt zu berücksichtigen.
51Vgl. zur Auslegung von Art. 27 Abs. 1 Dublin III-VO EuGH, Urteil vom 7. Juni 2016 - C-63/15 -, juris, Rn. 35, m. w. N.
52Ziel des Dublin-Systems ist es, einerseits einen angemessenen Ausgleich zwischen der Gewährung effektiven Rechtsschutzes und der Ermöglichung einer raschen Bestimmung des für die inhaltliche Prüfung des Asylantrags zuständigen Mitgliedstaats zu schaffen (vgl. Erwägungsgrund 5 zur Dublin III-VO) und andererseits zu verhindern, dass sich Asylbewerber durch Weiterwanderung den für die Prüfung ihres Asylbegehrens zuständigen Mitgliedstaat aussuchen (Verhinderung von Sekundärmigration). Der Zuständigkeitsübergang nach Ablauf der Überstellungsfrist soll verhindern, dass Asylanträge monate- oder gar jahrelang nicht geprüft werden, zugleich soll das Ziel einer möglichst schnellen Prüfung nicht dazu führen, dass dem jeweiligen Mitgliedstaat keine zusammenhängende Überstellungsfrist von sechs Monaten zur Verfügung steht, in der nur noch die Überstellungsmodalitäten zu regeln sind oder der Beschleunigungsgedanke zulasten eines effektiven Rechtsschutzes verwirklicht wird. Der Beschleunigungsgedanke steht demnach grundsätzlich in einem Spannungsverhältnis mit dem Recht auf effektiven Rechtsschutz.
53Vgl. dazu EuGH, Urteil vom 7. Juni 2016 ‑ C‑63/15 -, juris, Rn. 56 f.; BVerwG, Urteile vom 8. Januar 2019 - 1 C 16.18 -, juris, Rn. 26, und vom 27. April 2016 - 1 C 24.15 -, juris, Rn. 13.
54Ausgehend hiervon ist auch mit Blick auf Art. 27 Abs. 4 Dublin III-VO eine Auslegung geboten, die den genannten widerstreitenden Interessen Rechnung trägt. Eine Aussetzung der Durchführung der Überstellungsentscheidung im Sinne des Art. 27 Abs. 4 Dublin III-VO, die den Fristbeginn nach Art. 29 Abs. 1 UAbs. 1 Dublin III-VO verzögert und somit dem Beschleunigungsgedanken zuwider läuft, kann demnach nur zugunsten der Gewährung effektiven Rechtsschutzes vorgenommen werden.
55Vgl. Nds. OVG, Beschluss vom 27. Oktober 2020 - 10 LA 217/20 -, juris, Rn. 22; OVG S.-H., Beschluss vom 9. Juli 2020 - 1 LA 120/20 -, juris, Rn. 12.
56d. Nichts anderes ergibt sich aus der bisherigen Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts. Zwar hat das Bundesverwaltungsgericht ausgeführt, dass eine behördliche Aussetzungsentscheidung im Sinne des Art. 27 Abs. 4 Dublin III-VO auch dann ergehen kann, wenn diese auf sachlich vertretbaren Erwägungen beruht, die den Beschleunigungsgedanken und die Interessen des zuständigen Mitgliedstaats nicht willkürlich verkennen und auch sonst nicht missbräuchlich sind.
57Vgl. BVerwG, Urteil vom 8. Januar 2019 ‑ 1 C 16.18 -, juris, Rn. 27.
58Jedoch ist auch in diesen Fällen die behördliche Aussetzung nur vor dem Hintergrund des effektiven Rechtsschutzes erlaubt. Das ergibt sich aus dem Zusammenhang der Ausführungen des Bundesverwaltungsgerichts:
59„Eine behördliche Aussetzungsentscheidung darf hiernach auch unionsrechtlich jedenfalls dann ergehen, wenn Zweifel an der Rechtmäßigkeit der Abschiebungsanordnung bestehen […]; dann haben die Belange eines Antragstellers auf Gewährung effektiven Rechtsschutzes offenkundig Vorrang vor dem Beschleunigungsgedanken. Die Wirksamkeit des gerichtlichen Rechtsschutzes […] erlaubt eine behördliche Aussetzung aus sachlich vertretbaren Erwägungen, die nicht rechtlich zwingend sein müssen, auch unterhalb dieser Schwelle, wenn diese den Beschleunigungsgedanken und die Interessen des zuständigen Mitgliedstaats nicht willkürlich verkennen und auch sonst nicht missbräuchlich sind.
60[…]
61Diese - auf die Wahrung der Effektivität des nationalen Verfahrens […] bezogenen - Vorgänge sind jedenfalls ein hinreichender, sachlich rechtfertigender Anlass für eine behördliche Aussetzung der Vollziehung nach § 80 Abs. 4 VwGO. […]
62Die behördliche Aussetzungsentscheidung war hier schon deswegen sachlich geboten, frei von Willkür und nicht rechtsmissbräuchlich, weil sie die Berücksichtigung der Effektivität […] gerichtlichen Rechtsschutzes sicherstellte, ohne eine endgültige Veränderung der Rechtslage durch einen Zuständigkeitsübergang infolge Ablaufs der Überstellungsfrist zu bewirken. (Hervorhebungen durch den Senat)“
63Vgl. BVerwG, Urteil vom 8. Januar 2019 ‑ 1 C 16.18 -, juris, Rn. 27, 31 f.
64Darüber hinaus ist auch der Kontext zu berücksichtigen, in welchem die zitierte Entscheidung des Bundesverwaltungsgerichts ergangen ist. Das Bundesamt hatte im dortigen Verfahren auf Bitte des Bundesverfassungsgerichts bis zur Entscheidung über die Verfassungsbeschwerde gemäß § 80 Abs. 4 VwGO die Vollziehung der Abschiebungsanordnung ausgesetzt, um eine rechtliche Prüfung der Überstellungsentscheidung durch das Verfassungsgericht zu ermöglichen. Die damalige Aussetzungsentscheidung, welche das Bundesverwaltungsgericht im Nachgang als willkürfrei und nicht rechtsmissbräuchlich erachtet hat, erging demnach ausdrücklich mit dem Ziel der Gewährung effektiven Rechtsschutzes (für die Dauer der Verfassungsbeschwerde).
65Sofern die Beklagte und die von ihr in der Berufungsbegründung zitierten verwaltungsgerichtlichen Entscheidungen,
66u. a. VG Düsseldorf, Urteil vom 21. Juli 2020 - 22 K 8762/18.A -, juris, Rn. 103 ff.; VG Trier, Beschluss vom 5. August 2020 - 7 L 2362/20.TR -, juris, Rn. 11; VG Karlsruhe, Urteil vom 26. August 2020 - A 1 K 1026/20 -, juris, Rn. 34 f.,
67aus der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts ableiten, dass jede sachlich vertretbare, willkürfreie und nicht rechtsmissbräuchliche Erwägung eine Aussetzung im Sinne des Art. 27 Abs. 4 Dublin III-VO stützen kann, verkennen sie, dass auch das Bundesverwaltungsgericht die Aussetzung nur - wie aufgezeigt - vor dem Hintergrund der Gewährung wirksamen Rechtsschutzes erlaubt hat.
68Vgl. Nds. OVG, Beschluss vom 27. Oktober 2020 - 10 LA 217/20 -, juris, Rn. 26 ff.; OVG S.-H., Beschluss vom 9. Juli 2020 - 1 LA 120/20 -, juris, Rn. 13 ff.
692. Zudem lässt sich Art. 29 Abs. 1 UAbs. 1 Dublin III-VO entnehmen, dass die praktische Möglichkeit oder Unmöglichkeit der Überstellung grundsätzlich von der Frage nach der aufschiebenden Wirkung einer rechtlichen Prüfung der Überstellungsentscheidung zu trennen ist.
70a. Aus der Vorschrift ergibt sich, dass die Überstellungsfrist unabhängig von der praktischen Möglichkeit der Überstellung spätestens sechs Monate nach der Annahme des Aufnahme- oder Wiederaufnahmegesuchs durch einen anderen Mitgliedstaat oder der endgültigen Entscheidung über einen Rechtsbehelf oder eine Überprüfung, wenn diese gemäß Art. 27 Abs. 3 Dublin III-VO aufschiebende Wirkung hat, endet. Dies bedeutet, dass die Norm mit Blick auf den Beginn der Überstellungsfrist die Frage nach der tatsächlichen Möglichkeit der Überstellung eindeutig von der Frage der aufschiebenden Wirkung einer rechtlichen Prüfung der Überstellungsentscheidung trennt. Außerdem ergibt sich aus dieser Vorschrift deutlich, dass es sich bei der Sechsmonatsfrist um eine Höchstfrist handelt, binnen derer die Überstellung zu erfolgen hat, sobald dies praktisch möglich ist. Etwas anderes gilt ausschließlich in Fällen, in denen der Adressat der Überstellungsentscheidung die Unmöglichkeit der Überstellung selbst verschuldet. Diese Fälle sind jedoch in Art. 29 Abs. 2 Satz 2 Dublin III-VO abschließend geregelt.
71Vgl. Nds. OVG, Beschluss vom 27. Oktober 2020 - 10 LA 217/20 -, juris, Rn. 23; OVG S.-H., Beschluss vom 9. Juli 2020 - 1 LA 120/20 -, juris, Rn. 17.
72b. Dieses Normverständnis wird auch durch die Verlautbarung der Europäischen Kommission vom 17. April 2020 gestützt. Darin hat die Europäische Kommission ausgeführt, dass keine Bestimmung der Verordnung es erlaube, in einer Situation wie der, die sich aus der Corona-Pandemie ergebe, von der Regelung zum Zuständigkeitsübergang nach Art. 29 Abs. 2 Dublin III-VO abzuweichen.
73Vgl. Europäische Kommission, COVID-19: Hinweise zur Umsetzung der einschlägigen EU-Bestimmungen im Bereich der Asyl- und Rückführungsverfahren und zur Neuansiedlung vom 17. April 2020 - 2020/C 126/02 -, ABl. EU C 126, S. 12 (16).
74Zwar verhält sich die Kommission insoweit nicht ausdrücklich zu der Frage, ob die sich aufgrund der Corona-Pandemie ergebende Situation zur Anwendung des Art. 27 Abs. 4 Dublin III-VO berechtigt. Sie bezieht jedoch auch gerade eine Aussetzung der Überstellungsentscheidung nach Art. 27 Abs. 4 Dublin III-VO mit der sich infolge der Aussetzung nach Art. 29 Abs. 1 UAbs. 1 Dublin III-VO ergebenden Unterbrechung der Überstellungsfrist und einem verzögerten Zuständigkeitsübergang (Art. 29 Abs. 2 Dublin III-VO) in keiner Weise in ihre Ausführungen zum Zuständigkeitsübergang in Folge der Corona-Pandemie mit ein.
75Vgl. OVG S.-H., Beschluss vom 9. Juli 2020 ‑ 1 LA 120/20 -, juris, Rn. 18.
76In diese Richtung deuten auch die Pläne der EU-Kommission mit ihrem Vorschlag für eine Verordnung des Europäischen Parlaments und des Rates zur Bewältigung von Krisensituationen und Situationen höherer Gewalt im Bereich Migration und Asyl vom 23. September 2020,
77- COM(2020) 613 final, 2020/0277 (COD) -, abrufbar unter https://eur-lex.europa.eu/legal-content/DE/TXT/PDF/?uri=CELEX:52020PC0613
78&from=DE,
79nach welcher es Mitgliedstaaten zukünftig in Situationen höherer Gewalt unter strengen Voraussetzungen erlaubt sein soll, Mitteilungs- bzw. Überstellungsfristen gegenüber den anderen Mitgliedstaaten zu verlängern (vgl. Erwägungsgrund 28 und § 8 Abs. 1 der geplanten Verordnung). Die aus Sicht der Kommission notwendige Einführung einer solchen Verlängerungsmöglichkeit in Situationen höherer Gewalt (zu denen die aktuelle durch die Corona-Pandemie bedingte Lage zählen dürfte) zeigt, dass nach dem derzeit geltenden Recht keine solche Verlängerung bzw. Aussetzung wegen tatsächlicher Unmöglichkeit der Überstellung (in Krisensituationen) vorgesehen ist.
80c. Soweit die Beklagte sich darauf beruft, dass in der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs anerkannt sei, dass der überstellende Mitgliedstaat über einen zusammenhängenden Sechsmonatszeitraum verfügen solle, um die Überstellung zu bewerkstelligen,
81vgl. EuGH, Urteil vom 29. Januar 2009 - C-19/08 -, juris, Rn. 43; BVerwG, Urteil vom 8. Januar 2019 - 1 C 16.18 -, juris Rn. 17,
82steht dies dem Auslegungsergebnis ebenfalls nicht entgegen. Vielmehr fallen tatsächliche Hindernisse, die innerhalb der zusammenhängenden Sechsmonatsfrist auftreten und nicht in Art. 29 Abs. 2 Satz 2 Dublin III-VO geregelt sind, in die Risikosphäre des überstellenden Staates.
83Vgl. Nds. OVG, Beschluss vom 27. Oktober 2020 - 10 LA 217/20 -, juris, Rn. 29.
843. Dies zugrunde gelegt hat die Aussetzung der Vollziehung durch das Bundesamt wegen eines Verstoßes gegen Unionsrecht nicht zu einer Unterbrechung der Überstellungsfrist geführt. Denn es ist nicht ersichtlich, dass die Aussetzung mit der Zielsetzung einer rechtschutzbezogenen Prüfung der Überstellungsentscheidung vorgenommen worden ist. Die Aussetzungsentscheidung ist vielmehr allein aufgrund einer vorübergehenden und vom Kläger als Adressat der Überstellungsentscheidung nicht zu vertretenden tatsächlichen Unmöglichkeit der Überstellung in Form von Einreisesperren in Reaktion auf die weltweite Corona-Pandemie getroffen worden.
85a. Dies ergibt sich schon unmittelbar aus dem Schreiben des Bundesamts vom 30. März 2020, wonach im Hinblick auf die Entwicklung der Corona-Krise derzeit Dublin-Überstellungen nicht zu vertreten seien. Mit der Bezugnahme auf die tatsächliche Unmöglichkeit einer Überstellung hat die Beklagte dabei nicht auf Umstände Bezug genommen, welche die Zuständigkeit des jeweiligen Zielstaates in Frage stellen, sondern lediglich auf solche, die die Durchführbarkeit der Überstellung innerhalb der Überstellungsfrist betreffen. Auch aus dem zweiten Absatz des Schreibens, der sich mit den vermeintlichen Rechtsfolgen einer solchen Aussetzungsentscheidung befasst, wird deutlich, dass die Aussetzungsentscheidung nicht der Ermöglichung einer rechtschutzbezogenen Überprüfung, sondern (vorrangig) der Herbeiführung einer Unterbrechung der Überstellungsfrist diente.
86b. Bekräftigt wird dieser Eindruck einer ausschließlich auf eine Unterbrechung der Überstellungsfrist abzielenden Aussetzungsentscheidung durch den Umstand, dass die Beklagte entsprechende Aussetzungsentscheidungen weder spezifisch im Hinblick auf die Überstellung des Klägers noch im Hinblick auf sämtliche anhängigen Überstellungsentscheidungen nach Polen, sondern im Hinblick auf alle in Betracht kommenden Dublin-Staaten unabhängig davon getroffen hat, ob gegen die jeweiligen Überstellungsverfahren noch Rechtsbehelfe anhängig waren.
87Vgl. Antwort der Bundesregierung auf die Kleine Anfrage der Abgeordneten Luise Amtsberg, Franziska Brantner, Filiz Polat, weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN vom 23. Juni 2020, BT-Drs. 19/20299, S. 3 f.
88Schon die Außerachtlassung der - auch vom Bundesverwaltungsgericht angenommenen - Mindestvoraussetzung der Anhängigkeit eines Rechtsbehelfs macht deutlich, dass die Entscheidungspraxis des Bundesamts nicht auf die Ermöglichung eines wirksamen Rechtsschutzes (im Einzelfall), sondern alleine auf eine unilaterale Verlängerung der Überstellungsfrist abzielte. Die Einheitlichkeit der Aussetzungspraxis sowohl im Hinblick auf stark von der Corona-Pandemie betroffene Staaten - wie Italien und Spanien - einerseits und im maßgeblichen Zeitpunkt kaum betroffene Staaten - wie Bulgarien, Griechenland oder eben Polen - andererseits, legt ebenfalls den Schluss nahe, dass die Aussetzungsentscheidungen alleine eine Reaktion auf die tatsächliche Unmöglichkeit der Überstellung darstellten. Dass das Bundesamt im Zeitpunkt der Aussetzung Zweifel an der Zumutbarkeit von Überstellungen in sämtliche Dublin-Staaten gehegt oder die Auswirkungen der Pandemie auf die jeweiligen Aufnahmebedingungen ernstlich geprüft hätte, hat es selbst nicht behauptet.
89c. Schließlich entfaltet auch der Umstand Indizwirkung, dass das Bundesamt die Aussetzung der Vollziehung nicht bis zur Rechtskraft einer etwaigen Hauptsacheentscheidung, sondern lediglich unter dem Vorbehalt des Widerrufs bzw. „bis auf weiteres“ erklärt hat. Zwar war das Bundesamt von Rechts wegen nicht verpflichtet, eine entsprechende Befristung ausdrücklich auszusprechen, da sich diese unmittelbar aus § 80b Abs. 1 VwGO ergibt. Auch dürfte der Beklagten beizupflichten sein, dass es sich bei der Formulierung in Art. 27 Abs. 4 Dublin III-VO „bis zum Abschluss des Rechtsbehelfs oder der Überprüfung“ um eine Maximalfrist handeln dürfte. Der ausdrückliche Hinweis auf die Möglichkeit eines jederzeitigen Widerrufs, die alleine mit der vorübergehenden Unmöglichkeit der Überstellung begründet wurde, zeigt jedoch, dass die Aussetzung unabhängig von den Vorgaben in Art. 27 Abs. 4 Dublin III-VO erfolgt ist.
90d. Abgerundet werden diese Gesamtumstände schließlich dadurch, dass das Bundesamt die im Zeitraum von März bis Juni 2020 getroffenen Aussetzungsentscheidungen in einer Vielzahl von Verfahren widerrufen, hierbei maßgeblich auf die weitgehende Aufhebung der Reisebeschränkungen Bezug genommen und diese als Grund für die Aussetzungsentscheidung benannt hat. Auch die so begründete Aufhebung der jeweiligen Aussetzungsentscheidungen lässt nur den Schluss zu, dass die ursprüngliche Aussetzung nicht - wie aber von Art. 27 Abs. 4 Dublin III-VO vorgesehen - der Ermöglichung wirksamen Rechtsschutzes gedient hat.
91Vgl. hierzu VG Karlsruhe, Urteil vom 1. Oktober 2020 - A 9 K 343/20 -, juris, Rn. 32 ff.
92III. Die Anordnung der aufschiebenden Wirkung der Klage durch das Verwaltungsgericht mit Beschluss vom 18. Mai 2020 (15 L 776/20.A) hat ebenfalls keine Auswirkungen auf den Ablauf der Überstellungsfrist. Denn zum Zeitpunkt der gerichtlichen Beschlussfassung war die Überstellungsfrist bereits abgelaufen, sodass eine (erneute) Unterbrechung nicht mehr möglich war.
93B. Mit der Aufhebung der Unzulässigkeitsentscheidung nach Art. 29 Abs. 1 Nr. 1 a) AsylG unterliegt auch die mit Ziffer 2. des angegriffenen Bescheids ausgesprochene Feststellung des Nichtvorliegens von Abschiebungsverboten hinsichtlich der Republik Polen der Aufhebung, weil sie verfrüht ergangen ist.
94Vgl. BVerwG, Urteil vom 14. Dezember 2016 ‑ 1 C 4.16 -, juris, Rn. 21.
95Die auf § 34a Abs. 1 Satz 1 AsylG gestützte Abschiebungsanordnung (Ziffer 3.) teilt das rechtliche Schicksal der Unzulässigkeitsentscheidung, weil eine Zuständigkeit der Republik Polen nicht mehr gegeben ist. Mit der Aufhebung der Abschiebungsanordnung entfällt zugleich die Grundlage für die Anordnung des auf § 11 Abs. 1 AufenthG gestützten Einreise- und Aufenthaltsverbots in Ziffer 4. des Bescheids (vgl. § 11 Abs. 2 Satz 2 AufenthG).
96C. Die Kostenentscheidung beruht auf den §§ 154 Abs. 2 VwGO, 83b AsylG.
97Der Ausspruch über die vorläufige Vollstreckbarkeit folgt aus den §§ 167 VwGO, 708 Nr. 10, 709 Satz 2, 711 Satz 1 ZPO.
98Die Revision wird zugelassen, weil die Frage, ob eine behördliche Aussetzungsentscheidung nach Art. 27 Abs. 4 Dublin III-VO i. V. m. § 80 Abs. 4 VwGO nur mit der Zielsetzung einer rechtschutzbezogenen Prüfung der Überstellungsentscheidung oder auch unabhängig davon vorgenommen werden darf, grundsätzliche Bedeutung hat.
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