Beschluss vom Oberverwaltungsgericht Nordrhein-Westfalen - 13 B 1709/20
Tenor
Auf die Beschwerden der Antragsgegnerin und der Beigeladenen wird der Beschluss des Verwaltungsgerichts Köln vom 16. Oktober 2020 geändert. Der Antrag der Antragstellerinnen auf Anordnung der aufschiebenden Wirkung ihrer vor dem Verwaltungsgericht erhobenen Klage (18 K 2646/20) gegen den Beschluss der Bundesnetzagentur vom 31. März 2020 (BK10-19-0178_E) wird abgelehnt.
Die Antragstellerinnen tragen als Gesamtschuldner die Kosten des Verfahrens in beiden Rechtszügen einschließlich der außergerichtlichen Kosten der Beigeladenen aus dem Beschwerdeverfahren; im Übrigen sind die außergerichtlichen Kosten der Beigeladenen nicht erstattungsfähig.
Der Streitwert wird auch für das Beschwerdeverfahren auf 360.000,00 Euro festgesetzt.
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G r ü n d e :
2Die Beschwerden der Antragsgegnerin und der Beigeladenen gegen den Beschluss des Verwaltungsgerichts sind zulässig und begründet. Sie führen zur Änderung des Beschlusses des Verwaltungsgerichts und zur Ablehnung des Antrags der Antragstellerinnen auf Anordnung der aufschiebenden Wirkung ihrer in der Hauptsache bei dem Verwaltungsgericht erhobenen Klage (18 K 2646/20) gegen den Beschluss der Bundesnetzagentur vom 31. März 2020 (BK10-19-0178_E). Die bei der Entscheidung über diesen Antrag gemäß §§ 80a Abs. 3 Satz 2, 80 Abs. 5 Satz 1 Halbsatz 1 VwGO vorzunehmende und in erster Linie an den Erfolgsaussichten in der Hauptsache auszurichtende Abwägung zwischen dem öffentlichen Interesse an einer sofortigen Vollziehung des Beschlusses der Bundesnetzagentur und dem Interesse der Antragstellerinnen, bis zu einem rechtskräftigen Abschluss des Hauptsacheverfahrens von dessen Vollziehung verschont zu bleiben, fällt zu Lasten der Antragstellerinnen aus.
31. Nach der im Verfahren des vorläufigen Rechtsschutzes allein möglichen summarischen Prüfung der Sach- und Rechtslage ist offen, ob die mit dem Beschluss der Bundesnetzagentur den Beigeladenen für die Netzfahrplanperiode 2020/2021 erteilte Genehmigung der Entgelte und Entgeltgrundsätze für die Erbringung des Mindestzugangspakets rechtmäßig ist, soweit mit dieser – was die Antragstellerinnen im Hauptsacheverfahren allein beanstanden – die Entgeltregelungen über das Anreizsystem zur Erhöhung der Leistungsfähigkeit gemäß Ziffer 6.5 der Schienennetz-Nutzungsbedingungen auch im Hinblick auf den Schienengüterverkehr genehmigt worden sind. Eine Klärung der durch die Antragstellerinnen in diesem Zusammenhang aufgeworfenen Fragen muss vielmehr dem Hauptsacheverfahren vorbehalten bleiben.
4a) Gemäß § 45 Abs. 1 Satz 1 ERegG bedürfen die Entgelte eines Betreibers der Schienenwege für die Erbringung des Mindestzugangspakets einschließlich der Entgeltgrundsätze nach Anlage 3 Nr. 2 zu § 19 ERegG einer Genehmigung der Regulierungsbehörde. § 45 Abs. 1 Satz 2 ERegG bestimmt, dass die Genehmigung zu erteilen ist, soweit die Ermittlung der Entgelte den Anforderungen der §§ 24 bis 40 und 46 ERegG und die Entgeltgrundsätze den Vorgaben der Anlage 3 Nr. 2 zu § 19 ERegG entsprechen. Zu den damit in Bezug genommenen Anforderungen gehören auch diejenigen über die Einführung leistungsabhängiger Bestandteile in § 39 Abs. 2 und 3 ERegG.
5Gemäß § 39 Abs. 2 ERegG müssen die Entgeltregelungen für die Schienenwegnutzung durch leistungsabhängige Bestandteile den Eisenbahnverkehrsunternehmen und dem jeweiligen Betreiber der Schienenwege Anreize zur Minimierung von Störungen und zur Erhöhung der Leistungsfähigkeit des Schienennetzes bieten. Diese Regelungen können Vertragsstrafen für Störungen des Netzbetriebs, eine Entschädigung für von Störungen betroffene Unternehmen und eine Bonusregelung für Leistungen, die das geplante Leistungsniveau übersteigen, umfassen. Die Vorschrift setzt den im Wesentlichen gleichlautenden Art. 35 Abs. 1 der Richtlinie 2012/34/EU des Europäischen Parlaments und des Rates vom 21. November 2012 zur Schaffung eines einheitlichen europäischen Eisenbahnraums (ABl. L 343, S. 32) in der zuletzt durch den Delegierten Beschluss (EU) 2017/2075 der Kommission vom 4. September 2017 (ABl. L 295, S. 69) geänderten Fassung um. Dieser geht seinerseits auf den im Wesentlichen gleichlautenden Art. 11 Abs. 1 der Richtlinie 2001/14/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 26. Februar 2001 über die Zuweisung von Fahrwegkapazität der Eisenbahn und die Erhebung von Entgelten für die Nutzung von Eisenbahninfrastruktur (ABl. L 75, S. 29) in der zuletzt durch die Richtlinie 2007/58/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 23. Oktober 2007 (ABl. L 315, S. 44) geänderten Fassung zurück. Nach der zu dieser Vorschrift ergangenen, aber auch auf die heutige Rechtslage sinngemäß übertragbaren Rechtsprechung des Gerichtshofs der Europäischen Union fordert das Unionsrecht damit, dass die Mitgliedstaaten in die Entgeltregelungen für die Fahrwegnutzung leistungsabhängige Bestandteile aufnehmen müssen, die sowohl den Eisenbahnunternehmen als auch dem Betreiber der Infrastruktur Anreize zur Erhöhung der Leistung des Schienennetzes bieten sollen. Lediglich im Hinblick auf den Typus der Anreize behalten die Mitgliedstaaten grundsätzlich die Freiheit der Wahl der konkreten Maßnahmen, die Teil der genannten Regelung werden, solange diese ein kohärentes und transparentes Ganzes bilden, das als „leistungsabhängige Bestandteile“ eingestuft werden kann.
6Vgl. EuGH, Urteile vom 11. Juli 2013 – C- 545/10 –, juris, Rn. 80, vom 18. April 2013 – C-625/10 –, juris, Rn. 70, und vom 28. Februar 2013 – C-483/10 –, juris, Rn. 64.
7Ergänzend verweist § 39 Abs. 3 ERegG auf die Grundsätze über die leistungsabhängige Entgeltregelung nach Anlage 7 Nr. 2 zu §§ 36 Abs. 2, 39 ERegG und ordnet deren Geltung für das gesamte Netz eines Betreibers der Schienenwege an. Die genannten Bestimmungen gehen auf Art. 35 Abs. 2 und Anhang VI Nr. 2 der Richtlinie 2012/34/EU zurück, die wiederum im Wesentliche gleichlautende Vorgaben enthalten. Der Katalog der in Anhang VI Nr. 2 der Richtlinie 2012/34/EU enthaltenen Grundsätze über die leistungsabhängige Entgeltregelung hat allerdings im früheren Richtlinienrecht keine Entsprechung. Er enthält Vorgaben materiell-rechtlicher und verfahrensrechtlicher Natur, die die Ausgestaltungsfreiheit des Betreibers der Schienenwege im Vergleich zur früheren Rechtslage nach der Richtlinie 2001/14/EG zusätzlich einschränken.
8Vgl. im Grundsatz ebenso Ostendorf, in: Kühling/Otte, AEG/ERegG, § 39 ERegG Rn. 17; Scholz, IR 2019, 85 (86); Staebe, in: ders., ERegG, § 39 Rn. 6.
9b) Nach diesen Maßgaben ist entgegen der Rechtsauffassung des Verwaltungsgerichts nicht offensichtlich, dass die in der Hauptsache angefochtene Genehmigung rechtswidrig ist, weil und soweit die mit ihr genehmigten leistungsabhängigen Bestandteile in Bezug auf den Schienengüterverkehr nicht auf einer vorab zwischen den Beigeladenen und sämtlichen Zugangsberechtigten im Rahmen eines ergebnisoffenen Verhandlungsprozesses erzielten Vereinbarung über das zu erreichende Leistungsniveau und die Eckpunkte der leistungsabhängigen Entgeltregelung beruhen. Die durch das Verwaltungsgericht für seine Rechtsauffassung angeführte Vorschrift in Anlage 7 Nr. 2 Buchst. a) zu §§ 36 Abs. 2, 39 ERegG bestimmt, dass der Betreiber der Schienenwege, um ein vereinbartes Leistungsniveau zu erreichen und die wirtschaftliche Tragfähigkeit eines Verkehrsdienstes nicht zu gefährden, mit den Zugangsberechtigten die Eckwerte der leistungsabhängigen Entgeltregelung vereinbart, insbesondere die Dauer von Verspätungen und die Grenzwerte, ab denen nach Maßgabe der leistungsabhängigen Entgeltregelung Zahlungen fällig werden, und zwar sowohl für Einzelfahrten als auch für sämtliche Zugbewegungen, die ein Eisenbahnverkehrsunternehmen in einer bestimmten Zeit durchführt. Inhalt und Bedeutung der Vorschrift sind in der Rechtsprechung bislang nicht geklärt und in einem Verfahren des vorläufigen Rechtsschutzes auch nicht klärungsfähig. Die Erfolgsaussichten der Klage sind insoweit vollkommen offen.
10Anders als das Verwaltungsgericht meint, ist allein die zweifache Verwendung des Begriffs der „Vereinbarung“ in Anlage 7 Nr. 2 Buchst. a) zu §§ 36 Abs. 2, 39 ERegG für sich genommen noch kein zwingendes Argument dafür, dass der Betreiber der Schienenwege schon im Vorfeld einer zu erteilenden Entgeltgenehmigung im Rahmen eines ergebnisoffenen Verhandlungsprozesses eine Einigung mit sämtlichen Zugangsberechtigten über das zu erreichende Leistungsniveau und die Eckpunkte der Entgeltregelung zu erzielen hätte. Zwar wird der Begriff der „Vereinbarung“ nach allgemeinem rechtlichem Sprachverständnis als Synonym für den Begriff des Vertrages verwendet. Er weist damit auf die Erforderlichkeit von mindestens zwei aufeinander bezogenen und inhaltlich übereinstimmenden Willenserklärungen hin. Hiermit ist eine einseitig diktierende Bestimmung des zu erreichenden Leistungsniveaus und der Eckpunkte der leistungsabhängigen Entgeltregelung durch den Betreiber der Schienenwege nicht in Übereinstimmung zu bringen. Es ist jedoch weiter zu berücksichtigen, dass auch durch den Betreiber der Schienenwege einseitig formulierte leistungsabhängige Bestandteile der Entgeltregelung nach ihrer Genehmigung durch die Regulierungsbehörde nicht aus sich heraus Rechtswirkung gegenüber den Zugangsberechtigten entfalten, sondern zu ihrer Geltung gemäß § 20 Abs. 1 ERegG noch der Zustimmung der Zugangsberechtigten durch Abschluss eines Infrastrukturnutzungsvertrages bedürfen.
11Vgl. Grün, in: Kühling/Otte, AEG/ERegG, § 20 ERegG Rn. 10; Leitzke, in: Staebe, ERegG, § 20 Rn. 1.
12Auch ein durch den Betreiber der Schienenwege einseitig formuliertes Leistungsniveau bzw. einseitig formulierte Eckpunkte der leistungsabhängigen Entgeltregelung werden damit bei Abschluss eines Infrastrukturnutzungsvertrages mit den Zugangsberechtigten im Rechtssinne „vereinbart“. Wenn das Verwaltungsgericht einen substanzielle Mitwirkungsmöglichkeiten der Zugangsberechtigten einschließenden ergebnisoffenen Verhandlungsprozess fordert, misst es dem Begriff der „Vereinbarung“ vielmehr einen spezifischen Bedeutungsgehalt bei. Es verlangt ähnlich § 305 Abs. 1 Satz 3 BGB ein Aushandeln der Vertragsbedingungen. Ein solch spezifischer Bedeutungsgehalt lässt sich jedoch allein am Wortlaut des Begriffs der „Vereinbarung“ nicht festmachen, wie wiederum ein Vergleich mit der Regelung in § 20 Abs. 1 ERegG zeigt. Auch den nach Maßgabe dieser Vorschrift zustande kommenden Infrastrukturnutzungsvertrag bezeichnet das Gesetz als „Vereinbarung“, obwohl für ein individuelles Aushandeln der Vertragskonditionen in diesem Rahmen vielfach kein Raum verbleibt.
13Vgl. Grün, in: Kühling/Otte, AEG/ERegG, § 20 ERegG Rn. 14; Leitzke, in: Staebe, ERegG, § 20 Rn. 2 und 7.
14Für die durch das Verwaltungsgericht befürwortete Auslegung kann eher der in Anlage 7 Nr. 2 Buchst. a) zu §§ 36 Abs. 2, 39 ERegG formulierte Zweck des Vereinbarungserfordernisses angeführt werden, ein vereinbartes Leistungsniveau zu erreichen und die wirtschaftliche Tragfähigkeit eines Verkehrsdienstes nicht zu gefährden.
15Vgl. in diesem Sinne etwa Ostendorf, in: Kühling/Otte, AEG/ERegG, § 39 ERegG Rn. 19; Scholz, IR 2019, 85 (88).
16Auch hieraus lässt sich indes noch nicht in eindeutiger Weise auf eine bestimmte Form oder ein bestimmtes Maß der Mitwirkungsbefugnisse der Zugangsberechtigten schließen. Im Schrifttum wird aus Anlage 7 Nr. 2 Buchst. a) zu §§ 36 Abs. 2, 39 ERegG teilweise die Möglichkeit bilateraler Vereinbarungen mit den Zugangsberechtigten abgeleitet.
17Vgl. in diesem Sinne etwa Staebe, in: ders., ERegG, § 39 Rn. 7; a.A. aber wohl Ostendorf, in: Kühling/Otte, AEG/ERegG, § 39 ERegG Rn. 19 unter Fn. 21.
18Der hiergegen durch das Verwaltungsgericht angeführte Einwand, solche Vereinbarung seien per se mit dem eisenbahnregulierungsrechtlichen Diskriminierungsverbot unvereinbar, ist nicht zwingend. Wenn Anlage 7 Nr. 2 Buchst. a) zu §§ 36 Abs. 2, 39 ERegG individuell maßgeschneiderte Vereinbarungen mit den Zugangsberechtigten fordern sollte, könnte dies auch als gesetzlich angeordnete Ausnahme zu dem ansonsten aus § 39 Abs. 1 ERegG abzuleitenden Gebot grundsätzlich unterschiedsloser Entgelte und Entgeltregelungen angesehen werden. Auch könnte dem Zweck der Vorschrift schon dadurch Genüge getan sein, dass den Zugangsberechtigten frühzeitig die Gelegenheit zur Stellungnahme eingeräumt wird, um ihre Belange bei der Ausgestaltung der leistungsabhängigen Bestandteile der Entgeltregelung einzubringen. Dann gingen die Anforderungen aus Anlage 7 Nr. 2 Buchst. a) zu §§ 36 Abs. 2, 39 ERegG nicht substanziell über die durch § 19 Abs. 2 ERegG eröffneten Partizipationsmöglichkeiten hinaus.
19Vgl. zu dieser Erwägung – wenn auch im Ergebnis eine andere Lösung befürwortend – Scholz, IR 2019, 85 (87 f.).
20Vor allem aber liefe die durch das Verwaltungsgericht vertretene Auslegung in letzter Konsequenz darauf hinaus, vom Betreiber der Schienenwege Unmögliches zu verlangen. Eine einheitliche und ergebnisoffen verhandelte Vereinbarung eines zu erreichenden Leistungsniveaus und der Eckpunkte der leistungsabhängigen Entgeltregelung mit sämtlichen Zugangsberechtigten ist schon deshalb ausgeschlossen, weil der Kreis der Zugangsberechtigten zu dem Zeitpunkt, zu dem eine solche Vereinbarung aufgrund der sich aus §§ 45, 46 ERegG ergebenden Vorläufe zu treffen wäre, noch gar nicht abschließend feststeht. Sogar während der laufenden Netzfahrplanperiode könnten im Gelegenheitsverkehr jederzeit neue Zugangsberechtigte hinzutreten, die keine Chance auf Teilhabe am Verhandlungsprozess hatten. Im Übrigen hätte es jeder einzelne Zugangsberechtigte in der Hand, das Zustandekommen einer für alle geltenden Vereinbarung mit der Folge zu blockieren, dass die Entgeltregelungen des Betreibers der Schienenwege entgegen der klaren und auch unionsrechtlich zwingend gebotenen Vorgaben aus § 39 Abs. 2 ERegG gar keine leistungsabhängigen Bestandteile enthielten und damit – möglicherweise – auch insgesamt nicht genehmigungsfähig wären.
21Vgl. zur Gefahr der Blockade auch Ostendorf, in: Kühling/Otte, AEG/ERegG, § 39 ERegG Rn. 20 f.; Scholz, IR 2019, 85 (88).
22In der Rechtsprechung des Gerichtshofs der Europäischen Union ist jedoch in verschiedenen Zusammenhängen der allgemeine Auslegungsgrundsatz anerkannt, dass Bestimmungen des Unionsrechts so auszulegen sind, dass sie praktisch wirksam sind.
23Vgl. OVG NRW, Beschluss vom 21. Februar 2018 – 13 A 536/16 –, juris, Rn. 21, unter beispielhaftem Verweis auf EuGH, Urteile vom 6. Juli 2017 – C-290/16 –, juris, Rn. 32, und vom 15. März 2017 – C-253/16 –, juris, Rn. 23.
24Selbst wenn also grundsätzlich eine bereits im Vorfeld zustande gekommene Vereinbarung zwischen dem Betreiber der Schienenwege und den Zugangsberechtigten über ein zu erreichendes Leistungsniveau und die Eckpunkte der leistungsabhängigen Entgeltregelung zu verlangen wäre, spricht vieles dafür, dass ein solches Erfordernis aus Gründen der praktischen Wirksamkeit jedenfalls bestimmter Einschränkungen bzw. Modifizierungen bedürfte, wie sie der Sache nach auch durch die Antragsgegnerin dem angefochtenen Beschluss zugrunde gelegt worden sind, auch wenn der von ihr verwendete Begriff der „Vereinbarungsfiktion“ – wie das Verwaltungsgericht meint – möglicherweise nicht ganz trifft. Zunächst dürfte nicht die Beteiligung sämtlicher Zugangsberechtigter am Verhandlungsprozess verlangt werden können, wenn und soweit den Zugangsberechtigten – wie hier – im Grundsatz die Möglichkeit offen gestanden hat, sich an der Entwicklung der leistungsabhängigen Bestandteile zu beteiligen.
25Vgl. in diese Richtung auch Ostendorf, in: Kühling/Otte, AEG/ERegG, § 39 ERegG Rn. 21; Scholz, IR 2019, 85 (88).
26Im Übrigen dürfte es nicht unter allen Umständen auf die positive Zustimmung sämtlicher am Verhandlungsprozess beteiligten Zugangsberechtigten ankommen können. Erforderlich wären vielmehr Instrumente, um einer kompromisslosen Verweigerungshaltung Einzelner begegnen oder – wie hier – Blockadesituationen aufgrund unüberwindbarer Meinungsverschiedenheiten über die Ausgestaltung des Anreizsystems auflösen zu können. Ein für diesen Fall im Schrifttum erwogener Rückgriff auf die der Regulierungsbehörde gemäß § 46 Abs. 2 ERegG zur Verfügung stehende Möglichkeit, Entgelte vorläufig selber festzusetzen, dürfte nur begrenzt weiterhelfen. Die Vorschrift ist auf andere Konstellationen – unterlassene Antragstellung oder fehlende Unterlagen – zugeschnitten und kann ein etwaiges materiell-rechtliches Vereinbarungserfordernis aus Anlage 7 Nr. 2 Buchst. a) zu §§ 36 Abs. 2, 39 ERegG auch nicht dauerhaft ersetzen.
27Vgl. in diese Richtung auch Scholz, IR 2019, 85 (88, 90); a.A. insoweit aber Ostendorf, in: Kühling/Otte, AEG/ERegG, § 39 ERegG Rn. 21.
28Die Gesetzgebungsmaterialien zu § 39 Abs. 2 und 3 ERegG und Anlage 7 Nr. 2 Buchst. a) zu §§ 36 Abs. 2, 39 ERegG geben für eine Auslegung dieser Vorschriften nichts Brauchbares her. Gleiches gilt für das Unionsrecht, dem die genannten Bestimmungen nahezu wortgleich entnommen worden sind. Zudem deuten Erhebungen der IRG-Rail aus dem Oktober 2017 darauf hin, dass sich auch in der Rechtspraxis der übrigen Mitgliedstaaten noch keine einheitliche Handhabung dieser Vorschriften herausgebildet hat. So hält die IRG-Rail auf der Basis des damaligen Erkenntnisstandes fest, dass zwar in zwanzig Mitgliedstaaten ein regelmäßig durch den Infrastrukturmanager entwickeltes Anreizsystem in Kraft sei, dieses aber nur in zehn Mitgliedstaaten „in Kooperation“ oder „nach Konsultation“ der Eisenbahnverkehrsunternehmen entwickelt worden sei. Auch im Hinblick auf die Vereinbarung eines zu erreichendes Leistungsniveaus führt der Bericht aus, dass solche Vereinbarungen im Allgemeinen „durch Konsultationen“ und regelmäßige Treffen erzielt würden, die es dem Infrastrukturmanager ermöglichten, die Ansichten der Eisenbahnverkehrsunternehmen „zu berücksichtigen“.
29Vgl. Independent Regulators‘ Group – Rail, Working Group Access, Overview on European Performance Schemes, 28 October 2017, IRG-Rail (17) 4, Rn. 14 f., öffentlich abrufbar unter https://www.irg-rail.eu/irg/documents/position-papers/221,2017.html.
30Aktuellere Erkenntnisse über die Handhabung in anderen Mitgliedstaaten oder hierzu ergangene Rechtsprechung liegen dem Senat nicht vor und sind in der Kürze der Zeit auch nicht zu beschaffen.
31c) In ähnlicher Weise nötigen auch die weiteren durch die Antragstellerinnen geltend gemachten und durch das Verwaltungsgericht – von seinem Rechtsstandpunkt aus folgerichtig – nicht weiter geprüften Einwände noch nicht zu dem Schluss, dass die durch die Antragsgegnerin erteilte Entgeltgenehmigung im Hinblick auf die leistungsabhängigen Bestandteile für den Bereich des Schienengüterverkehrs rechtswidrig wäre. So ist etwa mit den im Verfahren des vorläufigen Rechtsschutzes nur begrenzt zur Verfügung stehenden Erkenntnismöglichkeiten des Senats nicht ersichtlich, dass von den genehmigten Pönalen für Verspätungsminuten aufgrund des gewählten Schwellenwertes von 30:30 Minuten für den nicht pünktlichkeitssensiblen Schienengüterverkehr keine hinreichende Anreizwirkung ausginge. Die Antragsgegnerin ist diesem Einwand u.a. mit dem Argument entgegengetreten, dass der genehmigten Entgeltregelung eine generelle Anreizwirkung nicht schon deshalb abgesprochen werden könne, weil in Extremfällen auch Endverspätungen von mehreren Stunden ohne Relevanz blieben, da sich diese aus zahlreichen Unterwegsverspätungen von jeweils weniger als 30:30 Minuten zusammensetzten. Gegenteiliges lasse sich jedenfalls zum gegenwärtigen Zeitpunkt noch nicht feststellen. Für den Senat ist auf dieser Grundlage nicht erkennbar, dass die Anforderungen des § 39 Abs. 2 ERegG klar verfehlt würden. In ähnlicher Weise vermag der Senat gegenwärtig nicht abschließend zu beurteilen, ob die unterschiedlichen Höhen der Pönalen für pünktlichkeitssensible und nicht pünktlichkeitssensible Schienengüterverkehre als Verstoß gegen das eisenbahnregulierungsrechtliche Diskriminierungsverbot zu werten sind. Dies liegt jedenfalls im Ausgangspunkt nicht nahe, weil die Grundsätze über die leistungsabhängige Entgeltregelung ausweislich Anlage 7 Nr. 2 Buchst. e) zu §§ 36 Abs. 2, 39 ERegG bei der Berechnung von Zahlungen eine Vergleichsgruppenbildung nach Eisenbahnverkehrsdiensten mit ähnlichen Pünktlichkeitsanforderungen verlangen. Anders als die Antragstellerinnen meinen, belässt § 39 Abs. 2 Satz 2 ERegG dem Betreiber der Schienenwege zudem – wie bereits ausgeführt – einen Ausgestaltungsspielraum im Hinblick auf den Typus der gesetzten Anreize. Hiervon ausgehend ist nicht ersichtlich, dass das Anreizsystem der Beigeladenen deshalb rechtswidrig wäre, weil neben dem Pönalsystem keine anderen Anreize vorgesehen sind bzw. im Rahmen des Verhandlungsprozesses in Erwägung gezogen wären. Auch für die Behauptung der Antragstellerinnen, die leistungsabhängigen Bestandteile einer Entgeltregelung müssten neben der Minimierung von Störungen auch auf eine Ausweitung der Kapazität des Schienennetzes zielen, geben die gesetzlichen Regelungen nur wenig her. Die gemäß § 39 Abs. 2 Satz 1 ERegG neben der Minimierung von Störungen anzustrebende Erhöhung der Leistungsfähigkeit muss jedenfalls nicht zwingend auf eine Anreizsetzung zum Ausbau vorhandener Kapazitäten zielen. Für eine solche Auslegung finden sich auch im Katalog der zu beachtenden Grundsätze in Anlage 7 Nr. 2 zu §§ 36 Abs. 2, 39 ERegG keine konkreten Anhaltspunkte. Ebenso wenig steht fest, dass der genehmigte Streitbeilegungsmechanismus hinter den sich aus Anlage 7 Nr. 2 Buchst. g) zu §§ 36 Abs. 2, 39 ERegG ergebenden Anforderungen zurückbliebe. Hiernach ist unbeschadet der gesetzlichen Rechtsbehelfe ein Streitbeilegungssystem in Bezug auf die leistungsabhängigen Entgeltregelungen einzurichten, um Streitfälle zwischen dem Betreiber der Schienenwege und den Eisenbahnverkehrsunternehmen bereinigen zu können. Dieses Streitbeilegungssystem muss insbesondere eine Unparteilichkeit gegenüber den beteiligten Parteien gewährleisten. Die sich hieraus im Einzelnen ergebenden Anforderungen sind bislang nicht abschließend geklärt. Insbesondere ist offen, ob die zu gewährleistende Unparteilichkeit zwingend die Einrichtung einer externen unabhängig oder zumindest paritätisch besetzten Streitbeilegungsstelle erfordert, wie dies in einer Vielzahl anderer Mitgliedstaaten üblich zu sein scheint,
32vgl. Independent Regulators‘ Group – Rail, Working Group Access, Overview on European Performance Schemes, 28 October 2017, IRG-Rail (17) 4, Rn. 44, (a.a.O.), befürwortend auch Ostendorf, in: Kühling/Otte, AEG/ERegG, § 39 ERegG Rn. 36,
33oder ob sie – wie im Fall der Beigeladenen – auch durch innerorganisatorische Vorkehrungen wie die Weisungsfreiheit der mit der Aufgabe der Streitschlichtung betrauten Mitarbeiter des Schienenwegebetreibers in hinreichendem Maße sichergestellt werden kann. Schließlich vermag der Senat nicht zu erkennen, dass das genehmigte Anreizsystem deshalb gegen Anlage 7 Nr. 2 Buchst. f) und g) zu §§ 36 Abs. 2, 39 ERegG verstößt, weil die durch die Beigeladenen eingerichteten Abwicklungsprozesse noch nicht vollständig digitalisiert sind. Anlage 7 Nr. 2 Buchst. f) verlangt, dass der Betreiber der Schienenwege den Eisenbahnverkehrsunternehmen „so rasch wie möglich“ die Berechnung der nach der leistungsabhängigen Entgeltregelung fälligen Zahlungen mitteilt. Anlage 7 Nr. 2 Buchst. g) sieht vor, dass Streitfälle „rasch“ bereinigt werden können. Ein bestimmter technischer Standard der Datenverarbeitung wird durch die Vorschriften nicht vorgegeben. Welche weiteren Anforderungen sich aus diesen Vorschriften – möglicherweise auch in Abhängigkeit vom aktuell technisch Machbaren – ergeben, kann in einem Verfahren des vorläufigen Rechtsschutzes nicht beurteilt werden.
342. Die in dieser Situation unabhängig vom voraussichtlichen Ergebnis des Hauptsacheverfahrens vorzunehmende folgenorientierte Interessenabwägung ist durch die Grundentscheidung des Gesetzgebers, mit § 68 Abs. 4 Satz 1 ERegG die aufschiebende Wirkung einer gegen eine Entscheidung der Bundesnetzagentur als Regulierungsbehörde gerichteten Klage grundsätzlich auszuschließen, derart vorstrukturiert, dass dem öffentlichen Interesse an einem sofortigen Vollzug dieser Entscheidung ein besonderes Gewicht zukommt. Der Ausschluss der aufschiebenden Wirkung durch § 68 Abs. 4 Satz 1 ERegG, der sich im regulierungsrechtlichen Kontext am Vorbild des § 137 Abs. 1 TKG orientiert, soll ausweislich der ausdrücklichen Gesetzesbegründung insbesondere der Befriedung des Eisenbahnsektors dienen. Da dieser in hohem Maß systematisch vernetzt ist, würde die Ungewissheit im Einzelfall, wie bis zu einer endgültigen Entscheidung in der Hauptsache zu verfahren ist, den gesamten Eisenbahnsektor treffen können und damit möglicherweise geordnete Abläufe unmöglich machen.
35Vgl. OVG NRW, Beschlüsse vom 1. Dezember 2017 – 13 B 720/17 und 13 B 721/17 –, juris, Rn. 39 ff., jeweils unter Bezugnahme auf die Einzelbegründung zu § 68 Abs. 4 ERegG im Gesetzentwurf der Bundesregierung vom 4. Mai 2016, in: BT-Drs. 18/8334, S. 221.
36Diesem besonderen öffentlichen Interesse an einem sofortigen Vollzug der in der Hauptsache streitbefangenen Entgeltgenehmigung stehen hier keine überwiegenden Suspensivinteressen der Antragstellerinnen gegenüber. Diese machen unter näherer Darlegung im Einzelnen geltend, für die Umsetzung des Anreizsystems in nicht unerheblichem Umfang personelle, administrative und technische Kapazitäten schaffen zu müssen. Im Einzelnen erfordere das Anreizsystem zunächst eine saubere Dokumentation von Verspätungen bzw. Verspätungsursachen während der laufenden Zugfahrt. Hieraus ergebe sich ein erhöhter Arbeits- und Zeitaufwand für den jeweiligen Triebfahrzeugführer. Außerdem bedürfe es eines Ausbaus beim administrativen Personal, insbesondere um die eigene Verspätungsdokumentation zu prüfen und mit der Verspätungsdokumentation der Beigeladenen abzugleichen. Unter Umständen müsse Einspruch gegen die Zuordnung von Verspätungen zu Verspätungsursachen eingelegt werden. Schließlich müssten sie in Ermangelung einer durch die Beigeladenen zur Verfügung gestellten geeigneten IT-Infrastruktur selber eigene EDV-Lösungen zur Erfassung von Verspätungen und zur Berechnung von Pönalen aufbauen. Sollte sich das Anreizsystem in seiner gegenwärtigen Ausgestaltung als rechtswidrig erweisen, wären sämtliche bis zu einer Entscheidung in der Hauptsache getätigten personellen, administrativen und technischen Aufwendungen vergebens gewesen. Die Antragstellerinnen machen hingegen nicht geltend, aufgrund dieser Belastungen in ihrer wirtschaftlichen Existenz gefährdet oder zumindest in einer annähernd vergleichbaren Weise wirtschaftlich beeinträchtigt zu sein. Hierfür ist auch sonst nichts ersichtlich. Die in Rede stehenden Beeinträchtigungen sind in einer Situation gänzlich offener Erfolgsaussichten nicht hinreichend gewichtig, um die mit einer Aussetzung der Vollziehung potenziell einhergehenden Verwerfungen auf dem Eisenbahnmarkt, die weitere Eilanträge anderer Marktteilnehmer oder ein Tätigkeitwerden der Regulierungsbehörde zur Sicherstellung gleicher Wettbewerbsbedingungen während der gerade begonnenen Netzfahrplanperiode 2020/2021 zur Folge haben könnten, zu rechtfertigen.
37Die Kostentscheidung folgt aus §§ 154 Abs. 1 und 3, 162 Abs. 3, 159 Satz 2 VwGO.
38Die Festsetzung des Streitwerts beruht auf §§ 47 Abs. 1 Satz 1, 53 Abs. 2 Nr. 2, 52 Abs. 1, 45 Abs. 2, Abs. 1 Satz 3 GKG.
39Dieser Beschluss ist unanfechtbar.
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