Beschluss vom Oberverwaltungsgericht Nordrhein-Westfalen - 13 B 1917/20.NE
Tenor
§ 11 Abs. 4 Satz 2 der Verordnung zum Schutz vor Neuinfizierungen mit dem Coronavirus SARS-CoV-2 vom 30. November 2020 in der Fassung der Dritten Änderungsverordnung vom 17. Dezember 2020 wird vorläufig außer Vollzug gesetzt.
Im Übrigen wird der Antrag abgelehnt.
Die Kosten des Verfahrens werden gegeneinander aufgehoben.
Der Streitwert wird auf 5.000 Euro festgesetzt.
Gründe
1I.
2Der Antragsteller betreibt in N. einen F. -Markt mit einer Verkaufsfläche von 1.160 qm. In der Vorkassenzone des Marktes befindet sich eine von dem Antragsteller nicht betriebene Bäckerei. Er begehrt die vorläufige Außervollzugsetzung von § 11 Abs. 4 Satz 1, 2. Hs. und Satz 2 der Verordnung zum Schutz vor Neuinfizierungen mit dem Coronavirus Sars-CoV-2 vom 30. November (GV. NRW. S. 1060a) in der seit dem 18. Dezember 2020 gültigen Fassung der Dritten Verordnung zur Änderung Coronaschutzverordnung vom 17. Dezember 2020 (GV. NRW. S. 1122d), soweit dadurch die Kundenzahl in zulässigen Handelseinrichtungen mit einer Gesamtverkaufsfläche von mehr als 800 qm hinsichtlich der Verkaufsfläche, die 800 qm überschreitet, stärker eingeschränkt wird als hinsichtlich der Verkaufsfläche bis 800 qm.
3§ 11 CoronaSchVO lautet wie folgt:
4§ 11Handel, Messen und Märkte, Alkoholverkauf
5(1) Zulässig bleiben der Betrieb von
61. Einrichtungen des Einzelhandels für Lebensmittel, Direktvermarktungen von Lebensmitteln, Abhol- und Lieferdiensten sowie Getränkemärkten,
72. Wochenmärkten für Verkaufsstände mit dem Schwerpunkt Lebensmittel und Güter des täglichen Bedarfs,
83. Apotheken, Reformhäusern, Sanitätshäusern, Babyfachmärkten und Drogerien,
94. Tankstellen, Banken und Sparkassen sowie Poststellen,
105. Kioske und Zeitungsverkaufsstellen,
116. Futtermittelmärkten und Tierbedarfsmärkten,
127. Verkaufsstellen zum Verkauf von Weihnachtsbäumen durch gewerbliche oder soziale Anbieter sowie Einzelhandelsgeschäften, die kurzfristig verderbliche Schnitt- und Topfblumen verkaufen, soweit sie den Verkauf hierauf einschließlich unmittelbaren Zubehörs (Übertöpfe und so weiter) beschränken,
138. Einrichtungen des Großhandels für Großhandelskunden und, beschränkt auf den Verkauf von Lebensmitteln, auch für Endkunden
14sowie die Abgabe von Lebensmitteln durch soziale Einrichtungen (z.B. die sog. Tafeln). In Einrichtungen des Einzelhandels für Lebensmittel und auf Wochenmärkten darf das Sortiment solcher Waren, die nicht Lebensmittel und Güter des täglichen Bedarfs sind, nicht gegenüber dem bisherigen Umfang ausgeweitet werden. Der Betrieb von Bau- und Gartenbaumärkten ist nur zur Versorgung von Gewerbetreibenden zulässig, anderen Personen darf der Zutritt nicht gestattet werden.
15(2) Der Betrieb von nicht in Absatz 1 genannten Verkaufsstellen des Einzelhandels sowie von Einrichtungen zum Vertrieb von Reiseleistungen ist untersagt. Zulässig ist insoweit lediglich der Versandhandel und die Auslieferung bestellter Waren; die Abholung bestellter Waren durch Kunden ist nur zulässig, wenn sie unter Beachtung von Schutzmaßnahmen vor Infektionen kontaktfrei erfolgen kann.
16(3) Für Verkaufsstellen mit gemischtem Sortiment, das auch Waren umfasst, die dem regelmäßigen Sortiment einer der in Absatz 1 Satz 1 genannten Verkaufsstellen entsprechen, gilt: bilden diese Waren den Schwerpunkt des Sortiments, ist der Betrieb der Verkaufsstelle insgesamt zulässig, anderenfalls ist nur der Verkauf dieser Waren zulässig.
17(4) Die Anzahl von gleichzeitig in zulässigen Handelseinrichtungen anwesenden Kundinnen und Kunden darf jeweils eine Kundin beziehungsweise einen Kunden pro angefangene zehn Quadratmeter der Verkaufsfläche im Sinne des Einzelhandelserlasses NRW nicht übersteigen; in Handelseinrichtungen mit einer Gesamtverkaufsfläche von mehr als 800 Quadratmetern darf diese Anzahl 80 Kundinnen beziehungsweise Kunden zuzüglich jeweils eine Kundin beziehungsweise einen Kunden pro angefangene 20 Quadratmeter der über 800 Quadratmeter hinausgehenden Verkaufsfläche nicht übersteigen. Bei Einkaufszentren, Einkaufspassagen und ähnlichen Einrichtungen ist die Gesamtfläche aus zulässigerweise geöffneten Verkaufsflächen und Allgemeinflächen maßgeblich; dort ist zudem durch ein abgestimmtes Einlassmanagement sicherzustellen, dass im Innenbereich Warteschlangen möglichst vermieden werden.
18(5) Untersagt sind
191. der Verkauf von alkoholischen Getränken zwischen 23 Uhr und 6 Uhr sowie
202. der Verzehr von Lebensmitteln in der Verkaufsstelle und in einem Umkreis von 50 Metern um die Verkaufsstelle (Lebensmittelgeschäft, Kiosk und so weiter), in der die Lebensmittel erworben wurden; der Verzehr von alkoholischen Getränken im öffentlichen Raum ist gemäß § 2 Absatz 5 vollständig untersagt.
21(6) Messen, Ausstellungen, Jahrmärkte im Sinne von § 68 Absatz 2 der Gewerbeordnung (zum Beispiel Trödelmärkte), Spezialmärkte im Sinne von § 68 Absatz 1 der Gewerbeordnung und ähnliche Veranstaltungen sind unzulässig.
22Der Antragsteller hat am 4. Dezember den Erlass einer normbezogenen einstweiligen Anordnung beantragt.
23Zur Begründung macht er im Wesentlichen geltend: Der Lebensmitteleinzelhandel diene der Grundversorgung der Bevölkerung und werde auch während des Lockdowns genauso frequentiert werden wie zuvor. Die angegriffene Regelung sei bereits ungeeignet, das Kundenaufkommen zu reduzieren. Infolge der Regelung werde es ‑ wie bereits geschehen ‑ zu Warteschlangen mit entsprechenden Kontakten unter den Kunden vor den Märkten kommen. Es treffe nicht zu, dass in großflächigen Lebensmittelmärkten die Abstands- und Hygienevorgaben nicht hinreichend sicher eingehalten werden könnten. Soweit der Verordnungsgeber nur auf die Verkaufsfläche abstelle, berücksichtige er nicht, dass die Qualität der Raumluft und damit auch das Infektionsrisiko auch von den jeweiligen Lüftungskonzepten und der Raumhöhe abhingen. Von großflächigen Handelseinrichtungen gehe kein größeres Infektionsrisiko aus als von kleineren, da sich die Kunden auf einer größeren Fläche gut verteilen könnten. Die Regelung in § 11 Abs. 4 Satz 2 CoronaSchVO sei in Bezug auf die Begriffe "Einkaufszentren, Einkaufspassagen und ähnliche Einrichtungen" nicht hinreichend bestimmt. Die Regelung in § 11 Abs. 4 Satz 1 CoronaSchVO verstoße gegen den Gleichheitssatz aus Art. 3 Abs. 1 GG, da Handelseinrichtungen mit einer Verkaufsfläche von mehr als 800 qm gegenüber Handelseinrichtungen mit einer geringeren Verkaufsfläche in Bezug auf die zulässige Kundenzahl benachteiligt würden. Eine weitere nicht gerechtfertigte Ungleichbehandlung bestehe zwischen Handelseinrichtungen in Einkaufszentren, Einkaufspassagen und ähnlichen Einrichtungen einerseits und Handelseinrichtungen außerhalb von Einkaufszentren, Einkaufspassagen und ähnlichen Einrichtungen und solchen in Einzelhandelsagglomerationen andererseits.
24Der Antragsteller beantragt sinngemäß,
25im Wege der einstweiligen Anordnung den Vollzug von § 11 Abs. 4 Satz 1, 2. Hs. und Satz 2 CoronaSchVO vorläufig auszusetzen.
26Der Antragsgegner verteidigt die angegriffene Regelung und beantragt,
27den Antrag abzulehnen.
28Er macht geltend, dem Antragsteller fehle hinsichtlich der Regelung in § 11 Abs. 4 Satz 2 CoronaSchVO bereits die Antragsbefugnis, weil er seinen Lebensmittelmarkt auch unter Berücksichtigung der in der Vorkassenzone befindlichen Bäckerei nicht in einem Einkaufszentrum, einer Einkaufspassage oder einer ähnlichen Einrichtung betreibe. Aus diesem Grund fehle ihm für eine Außervollzugsetzung dieser Regelung auch das Rechtsschutzbedürfnis. Die Begriffe "Einkaufszentrum, Einkaufspassage und ähnliche Einrichtungen" seien hinreichend bestimmt. Die angegriffenen Regelungen seien geeignet, soziale Kontakte in den Handelseinrichtungen und damit auch das Infektionsrisiko zu reduzieren. Von etwaigen Warteschlangen vor den Handelseinrichtungen, die auch abschreckende Wirkung haben könnten, gingen geringere Infektionsrisiken aus als von Menschenansammlungen innerhalb der Handelseinrichtungen. Die weitere Begrenzung der zulässigen Kundenzahl hinsichtlich der Verkaufsfläche, die 800 qm überschreitet, sei auch erforderlich, um Warteschlangen an den Kassen und Frischetheken zu verhindern. Ein Verstoß gegen Art. 3 Abs. 1 GG liege nicht vor, da von Handelseinrichtungen mit einer Verkaufsfläche von mehr als 800 qm aufgrund des größeren Kundenaufkommens ein gesteigertes Infektionsrisiko ausgehe.
29II.
30Der Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung hat im tenorierten Umfang Erfolg.
311. Er ist insgesamt gemäß § 47 Abs. 6, Abs. 1 Nr. 2 VwGO i. V. m. § 109a JustG NRW statthaft und auch im Übrigen zulässig.
32Der Antragsteller kann insbesondere gemäß § 47 Abs. 2 Satz 1 VwGO geltend machen, durch die angegriffenen Regelungen in eigenen Rechten verletzt zu sein. Er betreibt nach eigenen Angaben einen Lebensmittelmarkt mit einer Verkaufsfläche von 1.160 qm, so dass die angegriffene Begrenzung der Kundenzahl auf der Verkaufsfläche oberhalb von 800 qm in § 11 Abs. 4 Satz 1, 2. Hs. CoronaSchVO möglicherweise seine Berufsausübungsfreiheit aus Art. 12 Abs. 1 GG verletzt. Gleiches gilt für die in § 11 Abs. 4 Satz 2 CoronaSchVO getroffene Regelung zur Berechnung der maßgeblichen Gesamtfläche in Einkaufszentren, Einkaufspassagen und ähnlichen Einrichtungen. Da sich in der Vorkassenzone des von dem Antragsteller betriebenen Lebensmittelmarktes eine Bäckerei befindet, gehört der Markt des Antragstellers möglicherweise zu einer ähnlichen Einrichtung im Sinne der vorgenannten Regelung, so dass er auch insoweit in seiner Berufsausübungsfreiheit verletzt sein kann. Hierbei handelt es sich nach dem in der Antragserwiderung dargelegten, aber in der Verordnung keinen Ausdruck findenden Verständnis des Antragsgegners um solche, die zwar nicht als einheitlicher Handelsbetrieb im Sinne des Einzelhandelserlasses NRW qualifiziert werden können, bei denen aufgrund baulicher oder organisatorischer Strukturen im Rahmen der Infektionsbekämpfung aber dennoch eine Gesamtbetrachtung der Verkaufs- und Allgemeinflächen geboten erscheine. Das Vorliegen dieser Voraussetzungen dürfte bei einem im Bereich der Vorkassenzone des Marktes betriebenen Backshop nicht von vornherein ausgeschlossen sein.
332. Der Antrag ist aber nur teilweise begründet. Nach § 47 Abs. 6 VwGO kann das Normenkontrollgericht auf Antrag eine einstweilige Anordnung erlassen, wenn dies zur Abwehr schwerer Nachteile oder aus anderen wichtigen Gründen dringend geboten ist.
34Prüfungsmaßstab im Verfahren auf Erlass einer normbezogenen einstweiligen Anordnung sind zunächst die Erfolgsaussichten des in der Sache anhängigen Normenkontrollantrags, soweit sich diese im Verfahren des einstweiligen Rechtsschutzes bereits absehen lassen. Ergibt die Prüfung der Erfolgsaussichten, dass der Normenkontrollantrag voraussichtlich unzulässig oder unbegründet sein wird, ist der Erlass einer einstweiligen Anordnung zur Abwehr schwerer Nachteile oder aus anderen wichtigen Gründen nicht dringend geboten. Erweist sich dagegen der Antrag als zulässig und (voraussichtlich) begründet, so ist dies ein wesentliches Indiz dafür, dass der Vollzug bis zu einer Entscheidung in der Hauptsache suspendiert werden muss. In diesem Fall kann eine einstweilige Anordnung ergehen, wenn der (weitere) Vollzug vor einer Entscheidung im Hauptsacheverfahren Nachteile befürchten lässt, die unter Berücksichtigung der Belange des Antragstellers, betroffener Dritter und/oder der Allgemeinheit so gewichtig sind, dass eine vorläufige Regelung mit Blick auf die Wirksamkeit und Umsetzbarkeit einer für den Antragsteller günstigen Hauptsacheentscheidung unaufschiebbar ist. Lassen sich die Erfolgsaussichten des Normenkontrollverfahrens nicht abschätzen, ist über den Erlass einer beantragten einstweiligen Anordnung im Wege einer Folgenabwägung zu entscheiden: Gegenüberzustellen sind die Folgen, die eintreten würden, wenn eine einstweilige Anordnung nicht erginge, das Hauptsacheverfahren aber Erfolg hätte, und die Nachteile, die entstünden, wenn die begehrte einstweilige Anordnung erlassen würde, das Normenkontrollverfahren aber erfolglos bliebe. Die für den Erlass der einstweiligen Anordnung sprechenden Erwägungen müssen die gegenläufigen Interessen dabei deutlich überwiegen, mithin so schwer wiegen, dass der Erlass der einstweiligen Anordnung - trotz offener Erfolgsaussichten der Hauptsache - dringend geboten ist.
35Vgl. BVerwG, Beschluss vom 25. Februar 2015 ‑ 4 VR 5.14 -, juris, Rn. 12; OVG NRW, Beschlüsse vom 6. April 2020 - 13 B 398/20.NE -, juris, Rn. 32, und vom 26. August 2019 - 4 B 1019/19.NE -, juris, Rn. 12; Nds. OVG, Beschluss vom 17. Februar 2020 - 2 MN 379/19 -, juris, Rn. 24, m. w. N.; Ziekow, in: Sodan/Ziekow, VwGO, 5. Aufl. 2018, § 47 Rn. 395.
36In Anwendung dieser Grundsätze ist § 11 Abs. 4 Satz 2 CoronaSchVO vorläufig außer Vollzug zu setzen (a) und der weitergehende Antrag auf vorläufige Außervollzugsetzung von § 11 Abs. 4 Satz 1, 2. Hs. CoronaSchVO als unbegründet abzulehnen (b).
37a. Nach der im Verfahren des vorläufigen Rechtsschutzes nur möglichen summarischen Prüfung erweist sich der vom Antragsteller angegriffene § 11 Abs. 4 Satz 2 CoronaSchVO voraussichtlich als rechtswidrig und würde in einem Hauptsacheverfahren für unwirksam erklärt werden, da er jedenfalls den rechtsstaatlichen Bestimmtheitsanforderungen nicht genügt. Dies dürfte zwar nicht für die Begriffe "Einkaufszentren" und "Verkaufsfläche" gelten. Denn der Begriff "Einkaufszentren" wird auch in § 11 BauNVO verwendet und ist durch die hierzu ergangene Rechtsprechung hinreichend geklärt.
38Vgl. BVerwG, Urteil vom 27. April 1990 - 4 C 16.87 -, juris, Leitsatz und Rn. 21; Beschluss vom 12. Juli 2007 - 4 B 29.07 -, juris, Rn. 3.
39Hinsichtlich des Begriffs "Verkaufsfläche" kann auf die Erläuterungen des Einzelhandelserlasses NRW vom 22. September 2008 (dort: Ziffer 2.4) zurückgegriffen werden. Ob auch der Begriff der Einkaufspassage den Bestimmtheitsanforderungen genügt und für den Adressaten hinreichend verständlich wird, was der Verordnungsgeber unter „ähnlichen Einrichtungen“ versteht, kann offen bleiben. Denn jedenfalls ist die Berechnung der zulässigen Kundenzahl in Einkaufszentren, Einkaufspassagen und ähnlichen Einrichtungen in § 11 Abs. 4 Satz 2 CoronaSchVO nach dem Verordnungstext unklar und lässt sich auch nicht durch Auslegung bestimmen. Maßgeblich für die zulässige Kundenzahl ist nach der vorgenannten Regelung die Gesamtfläche aus zulässigerweise geöffneten Verkaufsflächen und Allgemeinflächen. Zwar ergibt sich aus den weiteren Regelungen der Verordnung, welche Verkaufsflächen zulässigerweise geöffnet werden dürfen, und ist auch der Begriff der "Allgemeinflächen" hinreichend bestimmt. Es bleibt jedoch unklar, wie die zulässigen Kundenzahlen bezogen auf die einzelnen Handelseinrichtungen in Einkaufszentren, Einkaufspassagen und ähnlichen Einrichtungen berechnet werden sollen. Jeder einzelne Gewerbetreibende muss eine solche Berechnung indes durchführen können. Nach der vorgenannten Regelung lässt sich unter Zugrundelegung der - gesamten - Allgemeinflächen und der geöffneten Verkaufsflächen jedoch allenfalls berechnen, wie viele Kunden das Einkaufszentrum insgesamt betreten dürfen. Ob für die jeweiligen Handelseinrichtungen die zulässige Kundenzahl nach § 11 Abs. 4 Satz 1 CoronaSchVO zu berechnen ist oder ob die für das Einkaufszentrum insgesamt berechnete Kundenzahl auf die zulässigerweise geöffneten Handelseinrichtungen, gegebenenfalls in welchem Verhältnis, aufzuteilen ist, bleibt unklar. Dies ist weder der Verordnungsbegründung,
40vgl. Begründung der Coronaschutzverordnung vom 30. November 2020, in der seit dem 16. Dezember 2020 gültigen Fassung, abrufbar unter https://www.land.nrw/sites/default/files/asset/document/201207_begrundung_coronaschvo_vom_30.11.2020.pdf,
41noch der Antragserwiderung zu entnehmen.
42b. Demgegenüber erweist sich die Regelung in § 11 Abs. 4 Satz 1 CoronaSchVO voraussichtlich als rechtmäßig (aa) und wäre auch unter Berücksichtigung etwaiger Unsicherheiten nicht im Wege der Folgenabwägung außer Vollzug zu setzen (bb).
43aa. § 11 Abs. 4 Satz 1 CoronaSchVO ist voraussichtlich nicht zu beanstanden.
44(1) Die Regelung findet eine Rechtsgrundlage in § 32 Satz 1 und 2 in Verbindung mit § 28 Abs. 1 Satz 1 und 2 und § 28a Nr. 14 IfSG vom 20. Juli 2000 (BGBl. I S. 1045), in der durch Art. 2 des Gesetzes zum Schutz der Bevölkerung bei einer epidemischen Lage von nationaler Tragweite vom 18. November 2020 (BGBl. I S. 2397) geänderten Fassung.
45Eine Verfassungswidrigkeit dieser Rechtsgrundlagen drängt sich dem Senat bei vorläufiger, summarischer Bewertung nicht auf. Insbesondere bestehen keine offensichtlich durchgreifenden Bedenken dagegen, dass die Vorschriften eine hinreichende, dem Parlamentsvorbehalt genügende Ermächtigungsgrundlage für die angeordnete Zugangsbeschränkung darstellen.
46Vgl. ausführlich zur neuen Rechtslage OVG NRW, Beschluss vom 15. Dezember 2020 ‑ 13 B 1731/20.NE ‑, zur Veröffentlichung in juris vorgesehen; sowie Nds. OVG, Beschluss vom 16. Dezember 2020 - 13 MN 552/20 -, juris, Rn. 21 ff.
47(2) Nach summarischer Prüfung ist die Zugangsbeschränkung für Handelseinrichtungen in § 11 Abs. 4 Satz 1, 2. Hs. CoronaSchVO auch eine notwendige Schutzmaßnahme im Sinne von § 28 Abs. 1 Satz 1 IfSG, die insbesondere die Berufsausübungsfreiheit des Antragstellers aus Art. 12 Abs. 1 GG voraussichtlich nicht verletzen dürfte.
48Vgl. im Einzelnen zur Rechtmäßigkeit einer entsprechenden Regelung in § 10 Abs. 3 der niedersächsischen Coronaschutzverordnung, Nds. OVG, Beschluss vom 16. Februar 2020 - 13 MN 552/20 -, juris, Rn. 42 ff.
49(α) Der Verordnungsgeber verfolgt mit der Verordnungsregelung das legitime Ziel, die Bevölkerung vor der Infektion mit dem SARS-CoV-2-Virus zu schützen, die Verbreitung der Krankheit COVID-19 zu verhindern und eine Überlastung des Gesundheitssystems infolge eines ungebremsten Anstiegs von Ansteckungen und Krankheitsfällen zu vermeiden (vgl. § 28a Abs. 3 Satz 1 IfSG). Zur Vorbeugung einer akuten nationalen Gesundheitsnotlage sollen die Kontakte in der Bevölkerung drastisch reduziert werden, um das Infektionsgeschehen insgesamt zu verlangsamen und die Zahl der Neuinfektionen wieder in durch den öffentlichen Gesundheitsdienst nachverfolgbare Größenordnungen zu senken.
50vgl. die Begründung der Coronaschutzverordnung vom 30. November 2020, in der seit dem 16. Dezember 2020 gültigen Fassung, abrufbar unter https://www.land.nrw/sites/default/files/asset/document/201207_begrundung_coronaschvo_vom_30.11.2020.pdf.
51Angesichts der gegenwärtig zu verzeichnenden besorgniserregenden Entwicklung der Infektionszahlen und der Zuspitzung der Versorgungslage in den Krankenhäusern,
52vgl. etwa Täglicher Lagebericht des RKI zur Coronavirus-Krankheit-2019 (COVID-19) vom 19. Dezember 2020 abrufbar unter:
53https://www.rki.de/DE/Content/InfAZ/N/Neuartiges_Coronavirus/Situationsberichte/Dez_2020/2020-12-19-de.pdf?__blob=publicationFile; ferner Warnungen vor Triage und Überlastung des Gesundheitssystems vom 16. Dezember 2020, ärzteblatt.de, abrufbar unter: https://www.aerzteblatt.de/nachrichten/119444/Warnungen-vor-Triage-und-Ueberlastung-des-Gesundheitssystems.
54sieht der Verordnungsgeber zu Recht einen dringenden Handlungsbedarf.
55(β) Zur Erreichung dieses legitimen Ziels ist die Verordnungsregelung auch geeignet.
56Der längere Aufenthalt einer Vielzahl von Personen in geschlossenen Räumen beinhaltet ein signifikant erhöhtes Infektionsrisiko.
57Vgl. hierzu Beschlüsse des Senats vom 6. November 2020 - 13 B 1657/20.NE - (Fitnessstudios), vom 9. November 2020 - 13 B 1656/20.NE - (Gastronomie) und vom 11. November 2020 ‑ 13 B 1663/20.NE - (Spielhalle).
58Nichts anderes gilt für den Einkauf in einem (großflächigen) Markt des Lebensmitteleinzelhandels. Gerade vor den bevorstehenden Weihnachtsfeiertagen ist dort mit einem sehr hohen Kundenaufkommen zu rechnen. Die noch stärkere Einschränkung der zulässigen Kundenzahl für die Verkaufsfläche, die 800 qm überschreitet, verringert die Kundenzahl insgesamt und damit die Kontaktmöglichkeiten in diesen Einrichtungen. Dies führt zu einer Limitierung potentieller Infektionsquellen in dem Betrieb. Zwar können sich die Kunden auf der Verkaufsfläche, die 800 qm überschreitet, rein rechnerisch genauso verteilen wie auf der Verkaufsfläche bis 800 qm. In der Praxis kommt es jedoch typischerweise an den Frischetheken und in der Kassenzone zu Schlangen. Eine Reduzierung der Kundenzahl trägt dazu bei, dass sich auch in diesen Bereichen der Mindestabstand besser einhalten und von den Mitarbeitern des jeweiligen Marktbetreibers auch kontrollieren lässt. Auch eine Kontrolle der Maskenpflicht lässt sich bei weniger Kunden besser gewährleisten. Dem lässt sich nicht entgegen halten, dass sich Märkte des Lebensmitteleinzelhandels bislang nicht als Infektionstreiber erwiesen hätten. Dieses Argument verfängt bereits deshalb nicht, weil sich bereits seit mehreren Wochen die Ansteckungsketten größtenteils nicht mehr nachvollziehen lassen. Ebenso wenig kann der Regelung entgegen gehalten werden, dass die Luftqualität und damit auch das Infektionsrisiko wesentlich von der im Einzelfall vorhandenen Lüftungstechnik und Raumhöhe abhingen. Dies mag zwar zutreffen, ändert aber nichts daran, dass die Luftqualität auch von der Zahl der sich in dem jeweiligen Markt gleichzeitig anwesenden Personen beeinflusst wird, so dass auch eine Verringerung der zulässigen Kundenzahl im Markt geeignet ist, das Infektionsrisiko zu senken. Dies gilt auch für den Fall, dass sich infolge der Zugangsbeschränkungen vor den Lebensmittelmärkten Schlangen bilden sollten. Dies führt insgesamt nicht zu einer Erhöhung des Infektionsrisikos im Betrieb, überdies sind vor den Märkten Mindestabstand und Maskenpflicht einzuhalten, zudem ist das Infektionsrisiko im Freien ohnehin geringer.
59(γ) Die angegriffene Regelung dürfte sich auch als erforderlich erweisen. Mildere Mittel sind nicht ersichtlich. Soweit der Antragsteller darauf verweist, dass es genügen würde, die zulässige Kundenzahl unabhängig von der Größe der Handelseinrichtung auf einen Kunden je 10 qm Verkaufsfläche zu begrenzen, so wäre diese Maßnahme bei größeren Handelseinrichtungen nicht gleich geeignet, größere Menschenansammlungen insbesondere in den Kassenzonen zu verhindern. Trotz größerer Verkaufsfläche wird, wie bereits ausgeführt, nicht zu erwarten sein, dass sich die Kunden gleichmäßig über die gesamte ihnen zur Verfügung stehende Fläche verteilen. Masken- und Abstandspflicht allein führten überdies nicht zu einer Reduzierung der Kundenzahl und damit zu einer Limitierung potentieller Infektionsquellen.
60(δ) Die getroffene Regelung ist voraussichtlich auch angemessen.
61Dabei ist insbesondere mit Blick auf Art. 12 Abs. 1 GG zu berücksichtigen, dass dem Antragsteller, anders als vielen anderen Einzelhandelsbetrieben, die Öffnung seines Betriebes für den Kundenverkehr nicht untersagt ist. Es werden lediglich Zugangsbeschränkungen aufgestellt, die eine gleichmäßigere Verteilung der Kundschaft bewirken sollen. Dass infolgedessen insgesamt weniger Kunden seinen Lebensmittelmarkt aufsuchen werden und dem Antragsteller infolgedessen ein (nennenswerter) Umsatzrückgang droht, ist gerade mit Blick auf die anstehenden Feiertage nicht zu erwarten. Demgegenüber sind die Folgen eines weiteren Anstiegs der Infektionszahlen oder ihrer Stagnation auf hohem Niveau für das Gesundheitssystem und Leib und Leben einer Vielzahl Betroffener gravierend.
62Vgl. auch Nds. OVG, Beschluss vom 16. Dezember 2020 - 13 MN 552/20 -, juris, Rn. 62.
63(3) Die Zugangsbeschränkung zu Handelseinrichtungen in § 11 Abs. 4 Satz 1, 2. Hs. CoronaSchVO ist auch mit dem allgemeinen Gleichheitssatz des Art. 3 Abs. 1 GG zu vereinbaren.
64Der allgemeine Gleichheitssatz des Art. 3 Abs. 1 GG gebietet dem Normgeber, wesentlich Gleiches gleich und wesentlich Ungleiches ungleich zu behandeln. Es sind nicht jegliche Differenzierungen verwehrt, allerdings bedürfen sie der Rechtfertigung durch Sachgründe, die dem Differenzierungsziel und dem Ausmaß der Ungleichbehandlung angemessen sind. Gemessen daran ist die unterschiedliche Behandlung der ersten 800 qm Verkaufsfläche einer Handelseinrichtung gegenüber der darüber hinausgehenden Fläche bei der Regelung der Zugangsbeschränkung sachlich gerechtfertigt. Handelseinrichtungen dieser Größenordnung weisen typischerweise ein breiteres Angebot auf als Handelseinrichtungen gleicher Art aber mit weniger Verkaufsfläche. Dies gilt auch für den Lebensmitteleinzelhandel. Die Attraktivität eines solchen Angebots wird gerade während des Lockdowns eine große Kundenzahl anziehen, die sich zwar rein rechnerisch auf der 800 qm überschreitenden Verkaufsfläche genauso verteilen kann wie auf der Verkaufsfläche bis zu 800 qm.
65Vgl. zur grundsätzlichen Zulässigkeit, sich an einer Größe von 800 qm zu orientieren, OVG NRW, Beschluss vom 29. April 2020 - 13 B 512/20.NE -, juris, Rn. 60 ff.
66Faktisch kommt es jedoch in der Kassenzone und an den Frischetheken zu Warteschlangen, die umso länger sind, je mehr Kunden sich in dem Lebensmittelmarkt aufhalten. Die hiermit verbundenen Probleme, die Einhaltung des Mindestabstands zu gewährleisten, rechtfertigen eine weitere Begrenzung der zulässigen Kundenzahl.
67bb. Soweit im Hinblick auf die vorliegend nur summarisch mögliche Prüfung Unsicherheiten bei der rechtlichen Beurteilung verbleiben, gebietet auch eine ergänzend vorzunehmende folgenorientierte Interessenabwägung nicht die vorläufige Außervollzugsetzung von § 11 Abs. 4 Satz 1, 2. Hs. CoronaSchVO. Die mit dem weiteren Vollzug der angegriffenen, zeitlich befristeten Schutzmaßnahmen einhergehenden Beschränkungen und Nachteile erscheinen im Anschluss an die vorstehenden Ausführungen nicht derart gewichtig, dass sie das mit diesen verfolgte Interesse, das Infektionsgeschehen möglichst effektiv einzudämmen, deutlich überwiegen.
68Vgl. BVerfG, Beschluss vom 29. April 2020 - 1 BvQ 47/20 -, juris, Rn. 17, zur Ablehnung eines Eilantrags betreffend die Begrenzung der Öffnung der Ladengeschäfte, Einkaufszentren und Kaufhäuser des Einzelhandels auf eine Verkaufsfläche von höchstens 800 qm nach der 2. Bayerischen Infektionsschutzmaßnahmenverordnung.
69Die Kostenentscheidung folgt aus § 155 Abs. 1 Sätze 1 und 2 VwGO. Die Streitwertfestsetzung beruht auf den §§ 53 Abs. 2 Nr. 2, 52 Abs. 2 GKG. Da die angegriffene Regelung mit Ablauf des 10. Januar 2021 außer Kraft tritt, zielt der Antrag inhaltlich auf eine Vorwegnahme der Hauptsache, sodass eine Reduzierung des Auffangstreitwerts für das Eilverfahren nicht veranlasst ist.
70Dieser Beschluss ist unanfechtbar (§ 152 Abs. 1 VwGO, §§ 68 Abs. 1 Satz 5, 66 Abs. 3 Satz 3 GKG).
Verwandte Urteile
Keine verwandten Inhalte vorhanden.
Referenzen
- §§ 53 Abs. 2 Nr. 2, 52 Abs. 2 GKG 2x (nicht zugeordnet)
- § 11 CoronaSchVO 1x (nicht zugeordnet)
- BauNVO § 11 Sonstige Sondergebiete 1x
- § 11 Abs. 4 Satz 2 CoronaSchVO 5x (nicht zugeordnet)
- § 11 Abs. 4 Satz 1 CoronaSchVO 4x (nicht zugeordnet)
- VwGO § 47 2x
- § 28a Nr. 14 IfSG 1x (nicht zugeordnet)
- IfSG § 28 Schutzmaßnahmen 1x
- VwGO § 152 1x
- 13 B 398/20 1x (nicht zugeordnet)
- 4 B 1019/19 1x (nicht zugeordnet)
- 2 MN 379/19 1x (nicht zugeordnet)
- 13 B 1731/20 1x (nicht zugeordnet)
- 13 MN 552/20 3x (nicht zugeordnet)
- 13 B 1657/20 1x (nicht zugeordnet)
- 13 B 1656/20 1x (nicht zugeordnet)
- 13 B 1663/20 1x (nicht zugeordnet)
- 13 B 512/20 1x (nicht zugeordnet)
- 1 BvQ 47/20 1x (nicht zugeordnet)