Beschluss vom Oberverwaltungsgericht Nordrhein-Westfalen - 4 B 1446/21.NE
Tenor
Der Vollzug von § 1 der Ordnungsbehördlichen Verordnung über das Offenhalten von Verkaufsstellen in der Stadt X. im Jahr 2021 vom 1.9.2021 wird im Wege einer einstweiligen Anordnung ausgesetzt.
Die Antragsgegnerin trägt die Kosten des Verfahrens.
Der Streitwert wird auf 5.000,00 Euro festgesetzt.
Gründe:
1Der Antrag,
2den Vollzug von § 1 der Ordnungsbehördlichen Verordnung über das Offenhalten von Verkaufsstellen in der Stadt X. im Jahr 2021 vom 1.9.2021 im Wege der einstweiligen Anordnung auszusetzen,
3ist zulässig und begründet.
4Die Voraussetzungen für den Erlass einer einstweiligen Anordnung gemäß § 47 Abs. 6 VwGO liegen vor. Nach dieser Bestimmung kann das Normenkontrollgericht auf Antrag eine einstweilige Anordnung erlassen, wenn dies zur Abwehr schwerer Nachteile oder aus anderen wichtigen Gründen dringend geboten ist.
5Das ist hier der Fall. Schon gemessen an dem für eine normspezifische einstweilige Anordnung allgemein anerkannten besonders strengen Maßstab erweist sich die angegriffene Regelung als offensichtlich rechtswidrig und nichtig. Ihre Umsetzung beeinträchtigt die Antragstellerin so konkret, dass eine einstweilige Anordnung deshalb dringend geboten ist.
6Die umstrittene Verordnungsregelung ist von der Ermächtigungsgrundlage des § 6 Abs. 4 i. V. m. Abs. 1 LÖG NRW nicht gedeckt. Bereits die Voraussetzungen für eine Dringlichkeitsentscheidung durch die Bürgermeisterin und ein Ratsmitglied anstelle des Rates bzw. des Hauptausschusses der Antragsgegnerin nach § 60 Abs. 1 Satz 2 GO NRW haben nicht vorgelegen.
7Für den Erlass ortsrechtlicher Bestimmungen ist gemäß § 41 Abs. 1 Satz 2 lit. f) GO NRW der Rat der Gemeinde zuständig, sofern während der Feststellung einer epidemischen Lage von landesweiter Tragweite nicht nach § 60 Abs. 2 GO NRW in der seit dem 1.10.2020 geltenden Fassung eine Delegierung an den Hauptausschuss erfolgt ist. Die Bürgermeisterin darf nach § 60 Abs. 1 Satz 2 GO NRW gemeinsam mit einem Ratsmitglied nur entscheiden, wenn die Einberufung des Rates oder Hauptausschusses nach § 60 Abs. 1 Satz 1 GO NRW nicht rechtzeitig möglich ist und die Entscheidung nicht aufgeschoben werden kann, weil sonst erhebliche Nachteile oder Gefahren entstehen können. Ob diese Voraussetzungen vorliegen, ist vom Gericht, solange der Rat den Beschluss noch nicht genehmigt hat (§ 60 Abs. 1 Satz 3 GO NRW), in vollem Umfang nachprüfbar. Bei der Frage, ob eine Ratssitzung noch rechtzeitig einberufen werden konnte, ist auf die Möglichkeit einer Sondersitzung abzustellen und nicht auf die nächste turnusmäßige Sitzung. Denn die Möglichkeit der Einberufung von Sondersitzungen ist gerade für Eilfälle vorgesehen.
8Vgl. OVG NRW, Urteil vom 31.5.1988 – 2 A 1739/86 –, OVGE 40, 93 = juris, Rn. 9 ff., 13, und Beschluss vom 31.5.2019 – 4 B 691/19.NE –, juris, Rn. 10 f.
9Hier lagen die Voraussetzungen für eine Dringlichkeitsentscheidung durch die Bürgermeisterin und ein Ratsmitglied offenkundig nicht vor. Seit dem Beginn des Anhörungszeitraums nach § 6 Abs. 4 Satz 7 LÖG NRW am 10.6.2021 zu der Terminverlegung des verkaufsoffenen Sonntags vom letzten Augustwochenende auf den 5.9.2021 war ausreichend Zeit, um den Rat auch ohne Verkürzung der Ladungsfrist einzuberufen, ihm die Verordnung zur Beschlussfassung vorzulegen und sie rechtzeitig – und nicht erst wie erfolgt zum 2.9.2021 – in Kraft zu setzen. Davon ist die Antragsgegnerin selbst ausgegangen. Die Anhörung hatte sie mittels E-Mail versandt, wobei sie sich für diesen Übermittlungsweg und die kurze Frist bis zum 23.6.2021 entschuldigte und diese ausdrücklich damit begründete, die beabsichtigte Verordnung solle dem Rat zur Beschlussfassung bereits am 28.6.2021 vorgelegt werden.
10Vgl. auch OVG NRW, Beschlüsse vom 3.9.2020 – 4 B 1306/20.NE –, juris, Rn. 12 f., m. w. N., und vom 25.9.2020 – 4 B 1445/20.NE –, juris, Rn. 7.
11Nicht nachzuvollziehen vermag der Senat die Einschätzung der Antragsgegnerin, aufgrund der bestehenden Ladungsfristen sowie der Sitzungspause des Rates während der Sommerferien könne eine rechtzeitige Entscheidung durch den Rat nicht herbeigeführt werden und die Einberufung einer Sondersitzung wäre nicht verhältnismäßig gewesen. Eine Beschlussfassung in der letzten regulären Ratssitzung am 28.6.2021, wie sie den angehörten Stellen in Aussicht gestellt worden war, wäre selbst dann ohne Weiteres möglich gewesen, wenn sich der übliche Vorlauf für die Übersendung der vollständigen Ratsvorlagen zu diesem möglichen Tagesordnungspunkt nicht mehr hätte einhalten lassen können. Noch nicht vorliegende Unterlagen hätten als Tischvorlagen nachgereicht werden können. Dies hätte sich auch deshalb angeboten, weil in dieser Sitzung auch die Zweite Fortschreibung des Einzelhandelskonzepts der Stadt X. beschlossen wurde, in dem ausdrücklich auf S. 89 davon die Rede ist, verkaufsoffene Sonntage scheiterten häufig an formalen Rechtsfehlern der Gemeinde (z. B. einem fehlenden Beschluss durch den Rat der Gemeinde). Nach § 48 Abs. 1 GO NRW hätte die Tagesordnung sogar noch in der Sitzung durch Beschluss des Rates erweitert werden können, wenn man – zur Vermeidung derart beschriebener formaler Fehler – der Auffassung gewesen wäre, es handele sich um eine Angelegenheit, die keinen Aufschub duldet oder die von äußerster Dringlichkeit ist, um eine als unverhältnismäßig angesehene Sondersitzung in der Sommerpause zu vermeiden.
12Schließlich hätte, nachdem keine Versuche einer rechtzeitigen Befassung des Rats in einer regulären Sitzung unternommen worden waren, zumindest der Versuch der Ladung zu einer Sondersitzung gemacht werden müssen, deren Termin in der Ratssitzung am 28.6.2021 sogar unter den Ratsmitgliedern hätte abgestimmt werden können. Jedenfalls vermag die erst in der Dringlichkeitsentscheidung vom 26.8.2021 genannte Begründung für ihre Notwendigkeit, für die Sitzung am 28.6.2021 hätten den Ratsmitgliedern bis zum 18.6.2021 Ratsvorlagen zugestellt werden müssen, vor diesem Hintergrund nicht im Ansatz zu überzeugen.
13Die Entscheidungszuständigkeit durch den Rat ist auch nicht lediglich eine unbedeutende Formalie, der stets unbedenklich nachträglich in der nächsten regulären Sitzung Rechnung getragen werden kann. Zur gesetzlichen Ermächtigungsgrundlage gehören nicht nur die materiell-rechtlichen, sondern auch die verfahrensrechtlichen Vorgaben, an die das ermächtigende Gesetz den ermächtigten Verordnungsgeber bindet. Die Entscheidungszuständigkeit des Rates dient in Verbindung mit dem Anhörungserfordernis nach § 6 Abs. 4 Satz 7 LÖG NRW auch der Wahrung der Rechte und rechtlich geschützten Interessen der Antragstellerin. Das Anhörungserfordernis kann nämlich seine Funktion grundsätzlich nur erfüllen, wenn Anhörungsschreiben die Anzuhörenden zuverlässig erreichen und im Rahmen der Anhörung abgegebene Stellungnahmen den Ratsmitgliedern bei der Beschlussfassung vorliegen oder jedenfalls ihrem wesentlichen Inhalt nach bekannt sind, so dass sie bei der Willensbildung berücksichtigt werden können. Inhaltlich auswirken können sich im Rahmen der Anhörung erhobene Einwände nur, wenn die Beschlussfassung durch den Rat vor der geplanten Freigabe von Ladenöffnungen erfolgt. Durchbrechungen lässt die Gemeindeordnung nur in hier nicht gegebenen Fällen gesteigerter Dringlichkeit zu. Dabei kann hier weiterhin offen bleiben, ob im Zusammenhang mit der Freigabe sonntäglicher Ladenöffnungen die Voraussetzungen für Dringlichkeitsentscheidungen der Bürgermeisterin nach § 60 Abs. 1 Satz 2 GO NRW, die das Drohen erheblicher Nachteile oder Gefahren voraussetzen, überhaupt jemals gegeben sein können.
14Vgl. bereits OVG NRW, Beschluss vom 31.5.2019 – 4 B 691/19.NE –, juris, Rn. 14 ff., m. w. N.
15Auf die Frage, ob die angegriffene Verordnungsregel auch rechtswidrig ist, weil die Anhörung gemäß § 6 Abs. 4 Satz 7 LÖG NRW aufgrund einer möglicherweise fehlerhaften Übermittlung des Anhörungsschreibens an die Antragstellerin ihr gegenüber unterblieben ist, muss der Senat vor diesem Hintergrund und auch angesichts der kurzen für eine gerichtliche Überprüfung verbleibenden Zeit nicht mehr weiter eingehen. Gleiches gilt für die Frage, ob die angegriffene Regelung darüber hinaus dem in § 6 LÖG NRW konkretisierten verfassungsrechtlichen Schutzauftrag aus Art. 140 GG i. V. m. Art. 139 WRV, der ein Mindestniveau des Sonn- und Feiertagsschutzes gewährleistet und für die Arbeit an Sonn- und Feiertagen ein Regel-Ausnahme-Verhältnis statuiert, gerecht wird. Anhaltspunkte dafür, die Dringlichkeitsentscheidung der Bürgermeisterin könnte vor dem 5.9.2021, auf den sich die Ladenöffnungsfreigabe bezieht, noch durch den Rat genehmigt werden, bestehen nicht.
16Die Kostenentscheidung folgt aus § 154 Abs. 1 VwGO.
17Die Streitwertfestsetzung beruht auf den §§ 52 Abs. 1, 53 Abs. 2 Nr. 2 GKG, und trägt dem Umstand Rechnung, dass der Senat in ständiger Praxis für jeden freigegebenen Sonntag den Auffangstreitwert heranzieht.
18Vgl. OVG NRW, Beschluss vom 10.6.2016 – 4 B 504/16 –, NVwZ-RR 2016, 868 = juris, Rn. 48 ff., m. w. N.
19Der Beschluss ist unanfechtbar (§ 152 Abs. 1 VwGO, § 68 Abs. 1 Satz 5 i. V. m. § 66 Abs. 3 Satz 3 GKG).
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Referenzen
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- VwGO § 152 1x
- § 60 Abs. 1 Satz 3 GO 1x (nicht zugeordnet)
- § 6 Abs. 4 Satz 7 LÖG 3x (nicht zugeordnet)
- 4 B 1445/20 1x (nicht zugeordnet)
- § 6 Abs. 4 i. V. m. Abs. 1 LÖG 1x (nicht zugeordnet)
- 4 B 1306/20 1x (nicht zugeordnet)
- 2 A 1739/86 1x (nicht zugeordnet)
- VwGO § 154 1x
- §§ 52 Abs. 1, 53 Abs. 2 Nr. 2 GKG 2x (nicht zugeordnet)
- § 60 Abs. 1 Satz 2 GO 2x (nicht zugeordnet)
- VwGO § 47 1x
- 4 B 504/16 1x (nicht zugeordnet)
- § 60 Abs. 1 Satz 1 GO 1x (nicht zugeordnet)
- 4 B 691/19 2x (nicht zugeordnet)