Beschluss vom Oberverwaltungsgericht Nordrhein-Westfalen - 12 A 3199/19
Tenor
Der Antrag auf Zulassung der Berufung wird abgelehnt.
Der Kläger trägt die Kosten des gerichtskostenfreien Zulassungsverfahrens.
1
Gründe:
2Der Antrag auf Zulassung der Berufung hat keinen Erfolg.
3Aus den im Zulassungsverfahren dargelegten Gründen, die der Senat allein zu prüfen hat, ergeben sich weder ernstliche Zweifel an der Richtigkeit des angefochtenen Urteils im Sinne des § 124 Abs. 2 Nr. 1 VwGO noch eine grundsätzliche Bedeutung der Rechtssache nach § 124 Abs. 2 Nr. 3 VwGO noch relevante Verfahrensfehler i. S. d. § 124 Abs. 2 Nr. 5 VwGO.
4I. Ernstliche Zweifel an der Richtigkeit des angefochtenen Urteils sind nicht hinreichend dargelegt bzw. liegen nicht vor.
5Stützt der Rechtsmittelführer seinen Zulassungsantrag auf diesen Zulassungsgrund, muss er sich mit den entscheidungstragenden Annahmen des Verwaltungsgerichts auseinandersetzen. Dabei muss er den tragenden Rechtssatz oder die Feststellungen tatsächlicher Art bezeichnen, die er mit seinem Antrag angreifen will, und mit schlüssigen Gegenargumenten in Frage stellen. Diesen Anforderungen entspricht das Zulassungsvorbringen nicht.
6Das Verwaltungsgericht hat angenommen, der Kläger habe keinen Anspruch auf Erstattung der zusätzlichen Kosten der durchgeführten Einzeltherapie nebst Elternbetreuung. Die Voraussetzungen des § 36a Abs. 3 SGB VIII lägen nicht vor. Es fehle bereits an einem auf eine entsprechende Maßnahme gerichteten Antrag. In der E-Mail vom 30. Juni 2016 habe der Kläger lediglich die Anbindung an eine heilpädagogische Gruppenmaßnahme bei der Praxis T. begehrt; Einzeltherapie oder Elternarbeit habe er explizit zu diesem Zeitpunkt nicht beantragt. Eine entsprechende Maßnahme sei ihm vielmehr bereits zu einem früheren Zeitpunkt bei "Q. " bewilligt worden, welche er auch in Anspruch genommen habe. Der Anspruch sei aber jedenfalls zu verneinen, weil die Deckung des klägerischen Bedarfs zum Zeitpunkt der Selbstbeschaffung, nämlich am 27. Juli 2016 (Beginn der Einzeltherapie und Elternarbeit bei der Praxis T. ), nicht im Sinne von § 36a Abs. 3 Satz 1 Nr. 3 SGB VIII unaufschiebbar gewesen sei. Es sei nicht erkennbar, dass der Beklagte auf den Antrag vom 30. Juni 2016 bereits bis zu der am 27. Juli 2016 durch den Beginn der Therapie in der Praxis T. erfolgten Selbstbeschaffung hätte entscheiden müssen. Zum Zeitpunkt der Antragstellung seien schon mehrere Jugendhilfeleistungen installiert gewesen. Der Kläger habe beim Träger "Q. " eine Einzeltherapie mit Elternarbeit erhalten und sei daneben in medizinisch-therapeutischer Einzeltherapie gewesen. Dieser sei mit ärztlichem Schreiben vom 6. Juli 2016 großer Erfolg bescheinigt worden. Der ärztlichen Anregung, den Kläger zusätzlich an eine heilpädagogische Gruppe anzubinden, sei der Beklagte durch rückwirkende Bewilligung der stattgehabten Gruppentherapie bei der Praxis T. nachgekommen. Dass diese Hilfe im Bereich Einzeltherapie bzw. Elternarbeit den Jugendhilfebedarf des Klägers nicht gedeckt habe oder zur Bedarfsdeckung nicht geeignet gewesen sei, sei nicht erkennbar. Soweit der Kläger vortrage, die Therapiemaßnahmen bei "Q. " seien auf seine sexuelle Übergriffigkeit fokussiert gewesen, verfange dies nicht. Zum einen liege diese Fokussierung angesichts der Vorgeschichte des Klägers auf der Hand, zum anderen sei bei "Q. " ausdrücklich auch die Arbeit mit dem (familiären) Bezugssystem in Gänze vorgesehen. Zudem blende der Kläger völlig aus, dass zusätzlich eine medizinisch-therapeutische Anbindung bestanden habe.
7Diese näher begründeten Annahmen werden mit dem Zulassungsvorbringen nicht durchgreifend in Zweifel gezogen.
8Mit seinem Vorbringen, sein Bedarf sei unaufschiebbar im Sinne des § 36a Abs. 3 Nr. 2 SGB VIII gewesen, was sich neben der fehlenden Beschulbarkeit und der abgebrochenen Behandlung in der Psychiatrie insbesondere daran zeige, dass er sich bereits zu Beginn der Gruppentherapie in der Praxis T. als nicht gruppenfähig erwiesen und schließlich eine - ihm auch bewilligte - Einzeltherapie benötigt habe, legt der Kläger ernstliche Richtigkeitszweifel nicht hinreichend dar. Er setzt sich nicht substantiiert mit den diesbezüglichen Ausführungen des Verwaltungsgerichts auseinander, der klägerische Bedarf sei durch die Maßnahme bei "Q. " sowie die medizinisch-therapeutische Anbindung mit geeigneten Maßnahmen gedeckt gewesen. Wieso und gegebenenfalls inwieweit vor diesem Hintergrund - ein Scheitern der vom Therapeuten explizit empfohlenen Gruppentherapie wegen fehlender Gruppenfähigkeit des Klägers unterstellt - nicht abgewartet werden konnte, bis der Beklagte über diesen Umstand informiert war und Gelegenheit hatte, hierauf zu reagieren, ist weder dargelegt noch anderweitig erkennbar. Dem Zulassungsvorbringen lässt sich nicht entnehmen, welche konkreten Zustandsveränderungen bzw. -verschlechterungen der Kläger fürchtete. Die Weigerung, die sowohl vom Beklagten als auch von der Klinik empfohlene stationäre Jugendhilfemaßnahme in Anspruch zu nehmen, spricht vielmehr gegen einen hohen Leidensdruck des Klägers, der ein Zuwarten einer Entscheidung unzumutbar erscheinen lassen könnte. Gegen einen akuten weitergehenden Hilfebedarf spricht auch, dass es im Schreiben der Psychiatrischen und Psychotherapeutischen Praxis C. u. a. vom 6. Juli 2016 heißt, die therapeutische Gruppe für den Kläger sei erfolgreich abgeschlossen. Dieser habe mit großem Erfolg an der Therapie teilgenommen und seine sozialen Kompetenzen erheblich erweitert. Wegen des weiterhin bestehenden Entwicklungspotenzials werde ‑ neben der weiterzuführenden einzeltherapeutischen Behandlung - die Teilnahme an einer heilpädagogischen Gruppe empfohlen. Vor diesem Hintergrund erschließt es sich ohne weitere, substantiierte Darlegung nicht, weshalb der Kläger zwingend und sofort eine (weitere) Einzeltherapie nebst Elternberatung gebraucht haben soll, um in die Lage versetzt zu werden, den Zweck der Gruppentherapie, ihm einen Ausbau seiner sozialen Fähigkeiten im geschützten Rahmen in einer Kleigruppe zu ermöglichen, zu erreichen. Die Einschätzung hinsichtlich der Gruppenfähigkeit des Klägers durch die Praxis T. weicht erheblich von der vorstehend geschilderten Einschätzung des Therapeuten ab, der den Kläger bereits über einen längeren Zeitraum und auch in einer Gruppensituation betreut hat. In diesem Zusammenhang ist ferner darauf hinzuweisen, dass der Kläger mit seinem Widerspruch vom 16. Januar 2017 auch nur geltend gemacht hat, die Fachleistungsstunden in Höhe von 45 Minuten pro Woche seien zu gering, um die Gruppentherapie erfolgreich zu machen. Von Schwierigkeiten in der Gruppe, die die Geeignetheit der Gruppentherapie möglicherweise in Zweifel hätten ziehen können, war hingegen keine Rede, obwohl die Therapie bereits Ende Juni 2016 aufgenommen wurde. Entsprechendes gilt für die im Hilfeplan vom 22. Februar 2017 festgehaltene Äußerung des Klägers, er fühle sich in der Praxis wohl. Im gleichen Kontext heißt es, der Kläger bespreche seine Wünsche, Bedürfnisse und Erlebnisse in der Einzeltherapie bei "Q. ". Vor diesem Gesamtkontext sind durchgreifende Zweifel an der erstinstanzlichen Annahme, es habe kein unaufschiebbarer Bedarf bestanden, aufgrund des Klägervorbringens nicht erkennbar.
9Inwieweit die vom Kläger weiter angeführte Bewilligung einer Einzeltherapie zu einem deutlich späteren Zeitpunkt geeignet sein soll, einen unaufschiebbaren Hilfebedarf im hier maßgeblichen Zeitpunkt zu begründen, wird im Zulassungsantrag nicht näher dargelegt und erschließt sich auch anderweitig nicht. Das gilt insbesondere angesichts der Entwicklungsfortschritte des Klägers (etwa Reintegration in die Schule), die einen sich wandelnden Hilfebedarf nahelegen.
10Soweit der Kläger rügt, er habe nicht auf die Therapie bei "Q. " verwiesen werden können, weil diese lediglich der Verarbeitung des sexuellen Übergriffs und der Abgrenzung in sexueller Hinsicht gedient habe, setzt er sich nicht mit den Ausfüh-rungen des Verwaltungsgerichts auseinander. Dieses hat zum einen den unaufschiebbaren Bedarf des Klägers wegen des kumulativen Vorliegens weiterer Hilfen, von denen die Maßnahme bei "Q. " lediglich ein Baustein war, abgelehnt und zum anderen ausgeführt, dass auch im Rahmen dieser Maßnahme die Arbeit mit dem (familiären) Bezugssystem in Gänze vorgesehen sei.
11Vor diesem Hintergrund bedarf es keiner Entscheidung, ob der Kläger mit Erfolg die weitere Annahme des Verwaltungsgerichts in Zweifel zieht, es fehle bereits an einem auf die Maßnahme gerichteten Antrag. Denn der dagegen gerichtete Einwand des Klägers, sein Antrag sei umfassend als Antrag auf angemessene Hilfe zu verstehen, da seine Eltern keine Therapeuten seien, ist jedenfalls nicht geeignet, die Ergebnisrichtigkeit des erstinstanzlichen Urteils in Zweifel zu ziehen. Das Verwaltungsgericht hat die ablehnende Entscheidung selbständig tragend auf das Fehlen eines unaufschiebbaren Bedarfs gestützt, was der Kläger nach den vorstehenden Ausführungen nicht durchgreifend in Frage gestellt hat.
12II. Auch der Zulassungsgrund der grundsätzlichen Bedeutung gemäß § 124 Abs. 2 Nr. 3 VwGO wird vom Kläger nicht hinreichend dargelegt.
13Eine Rechtssache hat grundsätzliche Bedeutung, wenn sie eine bisher höchstrichterlich oder obergerichtlich nicht beantwortete Rechtsfrage oder eine im Bereich der Tatsachenfeststellung bisher obergerichtlich nicht geklärte Frage von allgemeiner Bedeutung aufwirft, die sich in dem angestrebten Berufungsverfahren stellen würde und die im Interesse der Einheitlichkeit der Rechtsprechung oder der Fortentwicklung des Rechts berufungsgerichtlicher Klärung bedarf. Für die Darlegung dieser Voraussetzungen ist neben der Formulierung einer Rechts- oder Tatsachenfrage erforderlich, dass der Zulassungsantrag konkret auf die Klärungsbedürftigkeit und -fähigkeit der Rechts- bzw. Tatsachenfrage sowie ihre über den Einzelfall hinausgehende Bedeutung eingeht.
14Vgl. OVG NRW, Beschluss vom 29. Januar 2016- 4 A 2103/15.A -, juris Rn. 2 f., m. w. N.
15Soweit der Kläger mit seinem Zulassungsantrag sinngemäß die Frage aufwirft,
16"wie Situationen zu handhaben sind, in denen sich erst im Rahmen der Therapie ergibt, auf welchem Stand ein Kind ist und welche Maßnahmen wirklich notwendig sind",
17sind die vorstehenden Voraussetzungen nicht erfüllt. Der Kläger legt schon nicht dar, dass die Frage grundsätzlich, d.h. in einer von den Umständen des Einzelfalles losgelösten Weise, klärungsfähig ist. Die korrekte Handhabung entsprechender Situationen, die zunächst durch die gesetzlichen Regelungen zum Hilfeplanverfahren in § 36 SGB VIII vorgezeichnet ist, lässt sich ohne Betrachtung des jeweiligen Einzelfalles nicht klären. So kommt es insbesondere im hier maßgeblichen Kontext der Kostenerstattung u. a. darauf an, wie dringlich die Ergreifung weiterer bzw. anderer Maß-nahmen ist, was sich nur anhand der Umstände des jeweiligen Falles beurteilen lässt.
18III. Soweit der Kläger seinen Zulassungsantrag mit der Rüge, das Verwaltungsgericht habe den gebotenen Beweis durch Vernehmung der Therapeutin nicht erhoben, sinngemäß möglicherweise auch auf den Zulassungsgrund des § 124 Abs. 2 Nr. 5 VwGO in Gestalt einer Verletzung der gerichtlichen Aufklärungspflicht stützen wollte, führt dies nicht zur Zulassung der Berufung wegen eines Verfahrensfehlers.
19Eine Verletzung der Aufklärungspflicht und damit ein Verstoß gegen den in § 86 Abs. 1 VwGO verankerten Grundsatz der Amtsermittlung kann im Zulassungsverfahren nur dann mit Erfolg geltend gemacht werden, wenn bereits im erstinstanzlichen Verfahren auf die - nunmehr vom Kläger vermisste - Sachverhaltsaufklärung hingewirkt worden ist oder sich dem Verwaltungsgericht eine derartige Aufklärung hätte aufdrängen müssen. Denn die Aufklärungsrüge stellt kein Mittel dar, um erstinstanzliche Versäumnisse eines Verfahrensbeteiligten, vor allem das Unterlassen der Stellung von Beweisanträgen, zu kompensieren.
20Vgl. BVerwG, Beschluss vom 13. Juli 2007 - 9 B 1.07 -, juris Rn. 2, m. w. N.; Seibert, in: Sodan/Ziekow, VwGO, 5. Auflage (2018), § 124 Rn. 191.
21Ein Gericht verletzt seine Pflicht zur erschöpfenden Aufklärung des Sachverhalts grundsätzlich dann nicht, wenn es von einer Beweiserhebung absieht, die ein durch einen Rechtsanwalt vertretener Beteiligter nicht förmlich beantragt hat. Eine lediglich schriftsätzliche Beweisanregung ist kein förmlicher Beweisantrag.
22Vgl. BVerwG, Beschlüsse vom 11. August 2015 - 1 B 37.15 -, juris Rn. 11, und vom 3. Juli 1998 - 6 B 67.98 -, juris.
23Ein förmlicher Beweisantrag ist vorliegend weder im Erörterungstermin vom 12. Februar 2019 noch - mit Blick auf den Verzicht auf Durchführung einer mündlichen Verhandlung - schriftlich gestellt worden. Dass sich dem Verwaltungsgericht auch ohne ausdrücklichen Beweisantrag eine weitere Ermittlung des Sachverhalts hätte aufdrängen müssen, ist weder dargelegt noch sonst ersichtlich. Ausgehend von der Rechtsauffassung des Verwaltungsgerichts, es fehle schon an einem Antrag auf Bewilligung einer entsprechenden Eingliederungshilfe und jedenfalls sei der Hilfebedarf des Klägers wegen der durchgeführten Maßnahme bei "Q." und der medizinisch-therapeutischen Einzeltherapie nicht unaufschiebbar gewesen, kam es auf die Aussage der Therapeutin der Praxis T. auch nicht entscheidungserheblich an.
24Darüber hinaus genügt das diesbezügliche Zulassungsvorbringen nicht den entsprechenden Darlegungsanforderungen.
25Vgl. BVerwG, Beschluss vom 13. Juli 2007 - 9 B 1.07 -, juris, Rn. 2, m. w. N.
26Der Kläger legt weder substantiiert dar, welche konkreten Tatsachen aufklärungsbedürftig waren, noch welche tatsächlichen Feststellungen im Falle der Zeugenvernehmung der Therapeutin voraussichtlich getroffen worden wären, noch inwieweit diese Feststellungen zu einem günstigeren Ergebnis hätten führen können.
27Die Kostenentscheidung folgt aus §§ 154 Abs. 2, 188 Satz 2 Halbsatz 1 VwGO.
28Dieser Beschluss ist unanfechtbar (§ 152 Abs. 1 VwGO).
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Referenzen
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- VwGO § 188 1x
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