Beschluss vom Oberverwaltungsgericht Nordrhein-Westfalen - 9 A 4271/19.A
Tenor
Der Antrag wird abgelehnt.
Die Klägerin trägt die Kosten des Zulassungsverfahrens, für das Gerichtskosten nicht erhoben werden.
Gründe:
1Der Antrag auf Zulassung der Berufung hat keinen Erfolg.
2Die Berufung ist nicht wegen der allein geltend gemachten grundsätzlichen Bedeutung der Rechtssache (§ 78 Abs. 3 Nr. 1 AsylG) zuzulassen.
3Eine Rechtssache hat grundsätzliche Bedeutung, wenn sie eine im Berufungsverfahren klärungsbedürftige und für die Entscheidung dieses Verfahrens erhebliche Rechts- oder Tatsachenfrage aufwirft, deren Beantwortung über den konkreten Fall hinaus wesentliche Bedeutung für die einheitliche Anwendung oder Weiterentwicklung des Rechts hat. Dabei ist zur Darlegung dieses Zulassungsgrundes erforderlich, dass die entsprechende Frage aufgeworfen und substantiiert ausgeführt wird, warum sie für entscheidungserheblich gehalten und aus welchen Gründen ihr Bedeutung über den Einzelfall hinaus zugemessen wird. Eine auf tatsächliche Verhältnisse gestützte Grundsatzrüge erfordert überdies die Angabe konkreter Anhaltspunkte dafür, dass die für die Entscheidung erheblichen Tatsachen etwa im Hinblick auf hierzu vorliegende gegensätzliche Auskünfte oder abweichende Rechtsprechung einer unterschiedlichen Würdigung zugänglich sind. Insoweit ist es Aufgabe des Rechtsmittelführers, durch die Benennung von bestimmten begründeten Informationen, Auskünften, Presseberichten oder sonstigen Erkenntnisquellen zumindest eine gewisse Wahrscheinlichkeit dafür darzulegen, dass nicht die Feststellungen, Erkenntnisse und Einschätzungen des Verwaltungsgerichts, sondern die gegenteiligen Bewertungen in der Zulassungsschrift zutreffend sind, so dass es zur Klärung der sich insoweit stellenden Fragen der Durchführung eines Berufungsverfahrens bedarf.
4Vgl. OVG NRW, Beschluss vom 26. Juli 2018 - 9 A 2789/17.A -, juris Rn. 4 f. m. w. N.
5Diesen Anforderungen wird die Antragsbegründung nicht gerecht.
6Hinsichtlich der Frage,
7ob von einer regionalen Gruppen(vor)verfolgung von Yeziden in ehemals vom IS kontrollierten Regionen/ Orten im Jahre 2014 bis 2016 auszugehen ist, ohne dass interner Schutz zur Verfügung stand,
8legt die Klägerin die Entscheidungserheblichkeit nicht dar. Denn das Verwaltungsgericht hat angenommen, es könne zugunsten der Klägerin unterstellt werden, dass sie vor ihrer Ausreise aus dem Irak als Jesidin von einer Gruppenverfolgung durch den IS bedroht gewesen sei. Die dadurch begründete Vermutung des Art. 4 Abs. 4 Richtlinie 2011/95/EU (im Folgenden: QRL) wäre aber widerlegt, weil stichhaltige Gründe dagegen sprächen, dass sie erneut von einer solchen Gruppenverfolgung bedroht würde (Urteilsabdruck S. 7 f.).
9Auch in Bezug auf die Fragen,
10ob stichhaltige Gründe i. S. v. Art. 4 Abs. 4 QRL vorliegen, die eine erneute, gleichartige, aber nur individuelle Verfolgung von Yeziden in ehemals vom IS kontrollierten Gebieten im Irak, die gruppenvorverfolgt durch den IS ausgereist sind, ausschließen,
11ob stichhaltige Gründe i. S. d. Art. 4 Abs. 4 QRL im FaIle einer erlittenen Gruppenverfolgung bereits dann vorliegen, wenn eine erneute, gleichgelagerte Gruppenverfolgung auszuschließen ist, oder erst dann, wenn auch eine erneute, gleichgelagerte individuelle Verfolgung ausgeschlossen erscheint,
12und ob es stichhaltige Erkenntnisse gibt, dass der gruppenvorverfolgt ausgereiste Yezide im Falle der Rückkehr vor erneuter, gleichgelagerter zumindest individueller Verfolgung sicher wäre,
13legt die Klägerin schon die Entscheidungserheblichkeit nicht dar. Denn sie hat weder bei der Anhörung durch das Bundesamt noch im gerichtlichen Verfahren Gründe für eine ihr bei einer Rückkehr in die Provinz Ninive individuell drohende, gerade gegen sie selbst gerichtete Verfolgung durch einen konkret von ihr benannten Akteur i. S. d. § 3c AsylG vorgetragen. Der Verweis auf Seite 29 ff. der Antragsbegründung auf eine mögliche Bedrohung durch den IS, dessen Nachfolgeorganisation oder damit vergleichbare Akteure ist insoweit viel zu pauschal und zeigt keinen individuellen Verfolgungsgrund in Bezug auf die Klägerin auf. Vielmehr beruft die Klägerin sich der Sache nach allein auf eine Verfolgung als Angehörige der Gruppe der Yeziden, von der sie - wie jedes andere Mitglied der verfolgten Gruppe auch - wegen des gruppenspezifischen Merkmals des yezidischen Glaubens betroffen sei.
14Zur Abgrenzung einer Einzelverfolgung wegen Gruppenzugehörigkeit von einer Gruppenverfolgung vgl. BVerwG, Beschlüsse vom 5. Mai 2003 - 1 B 234.02 -, juris Rn. 3, sowie vom 22. Februar 1996 - 9 B 14.96 -, DVBl 1996, 623 = juris Rn. 5; OVG NRW, Urteil vom 22. Oktober 2021 - 9 A 2152/20.A -, juris Rn. 32.
15Soweit die Fragen auch auf die Klärung der Tatsache abzielen, ob derzeit eine Verfolgung von Yeziden in ehemals vom IS kontrollierten Gebieten im Irak beachtlich wahrscheinlich ist und damit - entgegen der Auffassung des Verwaltungsgerichts - keine stichhaltigen Gründe i. S. v. Art. 4 Abs. 4 QLR gegen eine erneute Gruppenverfolgung sprechen, legt die Klägerin die grundsätzliche Klärungsbedürftigkeit nicht entsprechend den oben genannten Anforderungen dar. Sie benennt keinerlei Erkenntnisquellen, aus denen sich dies für ihre insoweit maßgebliche Herkunftsregion in der Provinz Ninive - entweder die Stadt Baschiqa im Distrikt Al Hamdaniya, aus der sie stammt, oder den Distrikt Sheikhan, in dem sie sich vor ihrer Ausreise aufgehalten hat - ergibt. Das in der Antragsbegründung benannte Erkenntnismaterial bezieht sich im Wesentlichen auf die Verfolgungssituation der Yeziden zur Zeit der IS-Herrschaft bis Ende 2017 (Antragsbegründung S. 10 bis 20). Soweit Erkenntnisse aus der Zeit danach benannt werden (Antragsbegründung S. 31 bis 36), beziehen diese sich entweder zu pauschal auf die gesamte, sich in ihren tatsächlichen Verhältnissen erheblich unterscheidende Provinz Ninive oder aber auf andere Provinzen im Irak oder Distrikte der Provinz Ninive, aus denen die Klägerin jedoch nicht stammt.
16Abgesehen davon steht der Umstand, dass es aktuell noch zu Übergriffen bzw. Verfolgungshandlungen gegen Yeziden durch den IS kommt und diese auch zukünftig nicht ausgeschlossen werden können, der Annahme des Verwaltungsgerichts nicht entgegen, dass stichhaltige Gründe gegen eine erneute Gruppenverfolgungssituation sprechen. Denn für die Widerlegung der Vermutungswirkung des Art. 4 Abs. 4 QRL ist nicht erforderlich, dass die Wiederholung der Verfolgung mit "hinreichender Wahrscheinlichkeit" - im Sinne des früher vom Bundesverwaltungsgericht verwendeten herabgestuften Wahrscheinlichkeitsmaßstabes - ausgeschlossen ist.
17Vgl. hierzu: OVG NRW, Urteile vom 10. Mai 2021 - 9 A 570/20.A und 9 A 1489/20.A -, jeweils juris Rn. 36 f.
18Die im Zusammenhang mit dem Familienflüchtlingsschutz nach § 26 Abs. 1 Satz 1 Nr. 3 AsylG formulierten Fragen,
19ob die „Unverzüglichkeitsregelung" mit europäischem Recht vereinbar ist,
20und ob der Familienflüchtlingsschutz auch von einem Kernfamilienmitglied abgeleitet werden kann, dem ebenfalls nur der Familienflüchtlingsschutz
21zuerkannt wurde bzw. ob dies zumindest bei der Ableitung eines Elternteils vom familienschutzberechtigten Kind möglich ist,
22bedürfen nicht mehr der Klärung im Berufungsverfahren. Sie sind in der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts zwischenzeitlich geklärt.
23Nach dem Beschluss des Bundesverwaltungsgerichts vom 21. Dezember 2021 - 1 B 35.21 -, juris, war der Gesetzgeber nicht unionsrechtlich gehindert, die Gewährung internationalen Familienschutzes in § 26 Abs. 1 Satz 1 Nr. 3 2. Alt. AsylG in Bezug auf Ehegatten und Lebenspartner eines Schutzberechtigten von der unverzüglichen Stellung des Asylantrags abhängig zu machen (Rn. 14 ff.). Dass § 26 Abs. 2 AsylG ein entsprechendes Erfordernis einer unverzüglichen Antragstellung nicht vorsieht, ist wegen der besonderen Schutzbedürftigkeit von Kindern sachlich gerechtfertigt und liegt in der Logik des Gesetzgebers, auch Kindern, die erst nach der Zuerkennung des internationalen Schutzes an den Stammberechtigten geboren sind, internationalen Schutz zu gewähren (Rn. 17). Ferner hat das Bundesverwaltungsgericht § 26 AsylG dahingehend ausgelegt, dass Angehörige der Kernfamilie Flüchtlingsschutz nur von einer Person ableiten können, welcher die Flüchtlingseigenschaft wegen ihr selbst drohender Verfolgung („aus eigenem Recht“) und nicht ihrerseits kraft Ableitung zuerkannt worden ist (Rn. 5 ff.). Dieser Ausschluss von „Ableitungsketten“ steht auch im Einklang mit Verfassungs- und Unionsrecht (Rn. 8 ff.).
24Einen darüber hinausgehenden oder erneuten Klärungsbedarf zeigt die Antragsbegründung nicht auf.
25Grundsätzlich klärungsbedürftig ist auch nicht die weitere Frage,
26ob ein „schuldhaftes Zögern" i. S. d. § 26 Abs. 1 Satz 1 Nr. 3 AsylG dann zu verneinen ist, wenn der Antragsteller zunächst die Erteilung eines mehr als 6 Monate gültigen Aufenthaltstitels abwartet, um den Asylantrag nicht persönlich stellen zu müssen und damit die Verpflichtung des Wohnens in einer Aufnahmeeinrichtung vermeidet.
27Sie geht schon von einem Sachverhalt aus, der nach den insoweit maßgeblichen Feststellungen des Verwaltungsgerichts hier nicht vorliegt. Das Verwaltungsgericht hat nicht angenommen, dass die Klägerin zunächst (bewusst) die Erteilung des Aufenthaltstitels abwartete. Denn sie habe in der mündlichen Verhandlung auf Befragen angegeben, sich erst nach zwei bis drei Monaten Gedanken über einen Schutzstatus gemacht zu haben (Urteilsabdruck S. 12).
28Abgesehen davon lässt sich die Frage auch ohne Durchführung eines Berufungsverfahrens ohne Weiteres dahingehend beantworten, dass ein schuldhaftes Zögern anzunehmen ist, wenn nach der Einreise zunächst die Erteilung eines mehr als sechs Monate gültigen Aufenthaltstitels abgewartet und ein Asylantrag bewusst nicht gestellt wird, um so das Verteilungsverfahren und die Verpflichtung des Wohnens in einer Aufnahmeeinrichtung (§ 47 Abs. 1 Satz 1 AsylG) sowie das Erfordernis einer persönlichen Antragstellung bei der Außenstelle des Bundesamts nach § 14 Abs. 1 AsylG zu vermeiden. Ein anderes Verständnis widerspräche dem Zweck des Unverzüglichkeitserfordernisses, den Zusammenhang zu dem Asylverfahren des Stammberechtigten klar- und sicherzustellen. Der Gesetzgeber hat die Wahrung der Familieneinheit über die statusrechtliche Zuerkennung von Familienschutz mit dem Erfordernis eines auch zeitlichen Konnexes zu Verfolgung, Flucht und Schutzbegehren des Stammberechtigten verknüpft.
29Vgl. dazu BVerwG, Beschluss vom 21. Dezember 2021 - 1 B 35.21 -, juris Rn. 15.
30Es wird mit der Antragsbegründung nicht dargelegt und ist auch sonst nicht ersichtlich, dass die gesetzlichen Vorgaben zur Ausgestaltung des Asylverfahrens mit Nachteilen verbunden sind, die eine zeitliche Zurückstellung des Asylantrags als geboten erscheinen ließen.
31Die Frage,
32ob bei der Frage der Unverzüglichkeit eine generelle Bewertung zu erfolgen hat oder jeweils auf die Motive des Einzelnen abzustellen ist.
33steht ausweislich der Antragsbegründung im Zusammenhang mit der vorstehend bereits beantworteten Frage, dass ein schuldhaftes Zögern vorliegt, wenn der Ausländer zunächst die Erteilung eines Aufenthaltstitels mit einer Gesamtgeltungsdauer von mehr als sechs Monaten abwartet, um das Verteilungsverfahren zu vermeiden und den Asylantrag schriftlich stellen zu können.
34Im Übrigen lässt sich der höchstrichterlichen Rechtsprechung entnehmen, dass das Merkmal „unverzüglich“ entsprechend der Legaldefinition in § 121 BGB ohne schuldhaftes Zögern bedeutet und der Antrag deshalb alsbald gestellt werden muss, wobei die Umstände des Einzelfalls zu berücksichtigen sind.
35Vgl. BVerwG, Urteil vom 13. Mai 1997 - 9 C 35.96 -, BVerwGE 104, 362 = juris Rn. 10.
36Auf das vorgenannte, auch in der Antragsbegründung angeführte Urteil hat das Bundesverwaltungsgericht noch jüngst zum Merkmal „unverzüglich“ in seinem Beschluss vom 21. Dezember 2021 - 1 B 35.21 -, juris Rn. 15, Bezug genommen.
37Die Kostenentscheidung folgt aus § 154 Abs. 2 VwGO sowie § 83b AsylG.
38Dieser Beschluss ist unanfechtbar (§ 80 AsylG).
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