Beschluss vom Oberverwaltungsgericht Nordrhein-Westfalen - 6 B 406/22
Tenor
Der angefochtene Beschluss wird mit Ausnahme der Streitwertfestsetzung geändert.
Der Antrag wird abgelehnt.
Die Antragstellerin trägt die Kosten des Verfahrens in beiden Rechtszügen mit Ausnahme etwaiger außergerichtlicher Kosten des Beigeladenen, die dieser selbst trägt.
Der Streitwert wird auch für das Beschwerdeverfahren auf die Wertstufe bis 19.000 Euro festgesetzt.
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G r ü n d e :
2Die Beschwerde ist zulässig und begründet. Die vom Antragsgegner im Beschwerdeverfahren dargelegten Gründe verlangen die Abänderung des angefochtenen Beschlusses. Die Antragstellerin kann nicht beanspruchen, dass dem Antragsgegner im Wege der einstweiligen Anordnung vorläufig untersagt wird, die unter dem 1.10.2021 ausgeschriebene Stelle Sachgebietsleitung 10.2 (IT-Anwendungen, Digitalisierung und Organisation) im Amt für IT, Digitalisierung und Organisation beim Antragsgegner mit dem Beigeladenen zu besetzen, bevor über ihre Bewerbung unter Beachtung der Rechtsauffassung des Gerichts erneut entschieden worden ist.
3Nach Art. 33 Abs. 2 GG hat jeder Deutsche nach Eignung, Befähigung und fachlicher Leistung gleichen Zugang zu jedem öffentlichen Amt. Die Norm vermittelt ein grundrechtsgleiches Recht auf leistungsgerechte Einbeziehung in die Bewerberauswahl unmittelbar nach Maßgabe von Eignung, Befähigung und fachlicher Leistung. Ein Bewerber um ein öffentliches Amt kann verlangen, dass seine Bewerbung nur aus Gründen zurückgewiesen wird, die durch den Leistungsgrundsatz gedeckt sind (Bewerbungsverfahrensanspruch). Dieser Anspruch ist im Fall der Antragstellerin nicht verletzt.
4I. Das Verwaltungsgericht hat zu Unrecht angenommen, die streitgegenständliche Auswahlentscheidung beruhe auf einem rechtlich fehlerhaften Qualifikationsvergleich, weil sie auf der Grundlage dienstlicher Beurteilungen getroffen worden sei, die den an ihre hinreichende Vergleichbarkeit in zeitlicher Hinsicht zu stellenden Anforderungen nicht ansatzweise genügten. Die herangezogene Regelbeurteilung der Antragstellerin vom 30.10.2019 umfasse den Zeitraum vom 1.1.2016 bis zum 31.12.2018. Die Anlassbeurteilung des Beigeladenen vom 19.10.2021 hingegen umfasse den Zeitraum vom 1.1.2019 bis zum 18.10.2021. Damit wiesen die Beurteilungen schon keinen Überschneidungszeitraum auf. Darüber hinaus fielen die Enddaten der jeweiligen Beurteilungszeiträume um den gravierenden Zeitraum von rund 2 ¾ Jahren auseinander. Diese erhebliche und offensichtliche Aktualitätsdifferenz gewährleiste die anzustrebende größtmögliche Vergleichbarkeit nicht.
5Diese Rechtsauffassung erweist sich ausgehend von der neueren Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts nicht als tragfähig. Im Grundsatz ist für eine rechtmäßige Auswahlentscheidung über beamtenrechtliche Stellenbesetzungen allerdings erforderlich, dass die dienstliche Beurteilung jedes Bewerbers
6- im Folgenden wird aus Gründen der besseren Lesbarkeit auf die gleichzeitige Verwendung der männlichen und weiblichen Sprachform verzichtet und gilt die männliche Sprachform für alle Geschlechter -
7auch im Verhältnis zu den Beurteilungen der Mitbewerber hinreichend aktuell ist. Indessen nimmt ein Beurteilungssystem, das nicht nur Regelbeurteilungen, sondern in bestimmten Fallgestaltungen ergänzend Anlassbeurteilungen vorsieht, zwangsläufig unterschiedliche Beurteilungszeiträume und unterschiedliche Aktualitätsgrade der Beurteilungen, die einer Auswahlentscheidung zugrunde gelegt werden müssen, in Kauf. Das Bundesverwaltungsgericht hat hierzu ausgeführt, der Umstand, dass für einen Beamten wegen einer veränderten Aufgabenwahrnehmung eine Anlassbeurteilung erstellt werden müsse, habe nicht zwangsläufig zur Folge, dass allein deswegen auch für alle Mitbewerber, bei denen keine solche Tätigkeitsänderung eingetreten sei, ebenfalls Anlassbeurteilungen zu erstellen seien. Auch größere Zeitdifferenzen zwischen einer Regel- und einer Anlassbeurteilung seien hinzunehmen, solange ein Qualifikationsvergleich auf der Grundlage dieser Beurteilungen ohne ins Gewicht fallende Benachteiligung eines Bewerbers nach Bestenauslesegrundsätzen möglich bleibe. Eine "an sich" hinreichend aktuelle Regelbeurteilung wird demnach nicht bereits deshalb "inaktuell", weil bei einem anderen Beamten ausnahmsweise eine Anlassbeurteilung erforderlich ist.
8BVerwG, Urteil vom 9.5.2019 - 2 C 1.18 -, BVerwGE 165, 305 = juris Rn. 61 m. w. N., sowie Beschlüsse vom 2.7.2020 - 2 A 6.19 -, ZBR 2020, 346 = juris Rn. 9 ff., und vom 7.1.2021 - 2 VR 4.20 -, NVwZ 2021, 1551 = juris Rn. 44.
9Liegen bei einem Konkurrenten die Voraussetzungen für eine Anlassbeurteilung nicht vor, dann ist dessen letzte Regelbeurteilung ungeachtet des Umstands, dass bei einem Mitbewerber eine Anlassbeurteilung erforderlich geworden ist, mithin hinreichend aktuell. Auch eine größere Aktualitätsdifferenz zwischen den der Auswahlentscheidung zugrunde gelegten Beurteilungen ist dann hinzunehmen. Denn andernfalls entstünde gerade in der zweiten Hälfte des Regelbeurteilungszeitraums und bei größeren Bewerberfeldern regelmäßig das Bedürfnis, zur Vermeidung solcher Aktualitätsdifferenzen für sämtliche Bewerber Anlassbeurteilungen zu erstellen. Dies führte zu einer weitgehenden Entwertung des hier nach § 92 Abs. 1 Satz 2 LBG NRW, Ziff. 3.1 der Beurteilungsrichtlinien für die dienstliche Beurteilung der Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter bei der Kreisverwaltung T. -X. in der seit dem 15.11.2018 geltenden Fassung vorgegebenen Regelbeurteilungssystems, die nach dem Bundesverwaltungsgericht aber gerade zu vermeiden ist.
10BVerwG, Beschluss 17.1.2021 - 2 VR 4.20 -, a. a. O. Rn. 44; Bay. VGH, Beschluss vom 25.3.2021 - 6 CE 21.489 -, RiA 2021, 221 = juris Rn. 15.
11Dies zugrunde gelegt ist die im Streitfall festzustellende Aktualitätsdifferenz unschädlich, auch wenn diese - eben weil die Auswahlentscheidung kurz vor Ende des laufenden Regelbeurteilungszeitraum getroffen worden ist - mit 2 ¾ Jahren erheblich ist.
12II. Der Antrag hat auch nicht aus anderen Gründen Erfolg. Das diesbezügliche Vorbringen, das sich im Wesentlichen in (Rechts-)Behauptungen erschöpft, für die eine Grundlage schon nicht angegeben wird, greift nicht durch. Im Einzelnen gilt insoweit Folgendes:
131. Zu Unrecht macht die Antragstellerin geltend, die Auswahlentscheidung sei rechtswidrig, weil es an der ordnungsgemäßen Beteiligung des Personalrats fehle, die nach § 72 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 LPVG erforderlich sei. Die entsprechende Personalratsvorlage kann, wie der Antragsgegner zutreffend ausgeführt hat, ebenso wie die unter dem 29.10.2021 erteilte Zustimmung des Personalrats den Blättern 47a und 47b des Stellenbesetzungsvorganges entnommen werden. Da die Vorlage die Auswahlerwägungen des Antragsgegners ausführlich darstellt, dürfte auch der Vorwurf der Antragstellerin, der Personalrat habe keine hinreichenden Informationen erhalten, um sein Mitbestimmungsrecht ausüben zu können, nicht zutreffen. Letztlich kann dies aber auf sich beruhen. Denn die Beschwerde übersieht insoweit, dass sich der Beamte, der von der Maßnahme betroffen ist, auf eine unzureichende Unterrichtung des Personalrats über die Umstände einer mitwirkungspflichtigen Maßnahme nicht mit Erfolg berufen kann, wenn der Personalrat dies nicht beanstandet.
14Vgl. OVG NRW, Beschlüsse vom 3.11.2010 - 6 B 1249/10 -, NVwZ-RR 2011, 73 = juris Rn. 4 und vom 10.7.2018 - 6 B 1/18 -, juris Rn. 39 ff. m. w. N.
152. Die Antragstellerin macht des Weiteren vergeblich geltend, für den Beigeladenen hätte im Auswahlverfahren keine Anlassbeurteilung erstellt werden dürfen (a.) bzw. für sie hätte ebenfalls eine Anlassbeurteilung erstellt werden müssen (b.).
16Grundsätzlich bedarf es eines Anlasses für eine Anlassbeurteilung. Fehlt ein solcher, bedarf es nicht nur keiner Anlassbeurteilung, sondern ist dem Dienstherrn der Erlass einer solchen auch verwehrt. Denn das System von Regelbeurteilungen darf nicht dadurch unterlaufen werden, dass im Rahmen eines Auswahlverfahrens trotz des Vorliegens einer hinreichend aktuellen Regelbeurteilung ohne ausreichenden Grund Anlassbeurteilungen erstellt werden.
17BVerwG, Beschluss vom 17.1.2021 - 2 VR 4.20 -, a. a. O. Rn. 45.
18Eine dienstliche (Regel-)Beurteilung kann allerdings ihre für eine Auswahlentscheidung erforderliche hinreichende Aktualität verlieren, wenn der Beamte nach dem Beurteilungsstichtag der letzten Regelbeurteilung während eines erheblichen Zeitraums wesentlich andere Aufgaben wahrgenommen hat. In einem solchen Fall ist demgemäß für den Betreffenden eine Anlassbeurteilung zu erstellen. Ein erheblicher Zeitraum in diesem Sinne liegt vor, wenn bei einem dreijährigen Regelbeurteilungszeitraum die anderen Aufgaben während des (deutlich) überwiegenden Teils (zu zwei Dritteln) des Beurteilungszeitraums wahrgenommen wurden, also zwei Jahre lang. Wesentlich andere Aufgaben im vorstehenden Sinne liegen vor, wenn der Beamte in seinem veränderten Tätigkeitsbereich Aufgaben wahrnimmt, die einem anderen (höherwertigen oder einer anderen Laufbahn zugehörigen) Statusamt zuzuordnen sind.
19BVerwG, Urteil vom 9.5.2019 - 2 C 1.18 -, a. a. O. Rn. 42 ff., und Beschlüsse vom 2.7.2020 - 2 A 6.19 -, a. a. O. Rn. 12, sowie vom 17.1.2021 - 2 VR 4.20 -, a. a. O. Rn. 44.
20a. Gemessen daran ist es rechtlich unbedenklich, dass für den Beigeladenen anlässlich des streitgegenständlichen Auswahlverfahrens eine Anlassbeurteilung erstellt worden ist. Der Antragsgegner hat zur Begründung der Erstellung einer Anlassbeurteilung für den Beigeladenen ausgeführt, dieser sei zum 5.8.2019 höhergruppiert worden und nehme somit seit über zwei Jahren "höhere" Aufgaben als zum Regelbeurteilungsstichtag wahr. Dieser Vortrag wird durch die entsprechende Höhergruppierungsurkunde in der Personalakte des Beigeladenen bestätigt, so dass das entsprechende Bestreiten der Antragstellerin ins Leere geht. Nach Ziff. 2 der Beurteilungsrichtlinien gelten diese für die dienstliche Beurteilung sowohl der Beamtinnen und Beamte als auch der tariflich Beschäftigten des Antragsgegners wie den Beigeladenen. Gemäß Ziff. 3.2 der Beurteilungsrichtlinien sind anlassbezogene Beurteilungen im Rahmen von Stellenbesetzungsverfahren auf Anforderung des Amtes für Personal und Organisation zu erstellen, soweit die vorliegenden Beurteilungen nicht mehr hinreichend aktuell oder vergleichbar sind. Der Wahrnehmung höherwertiger ‑ dem höheren Statusamt zuzuordnender - Aufgaben bei Beamten ist im Fall von Tarifbeschäftigten die Wahrnehmung einer höheren Entgeltgruppe zuzuordnender Aufgaben nach einer Höhergruppierung vergleichbar. Vor diesem Hintergrund ist aus Rechtsgründen nichts dagegen einzuwenden, wenn der Antragsgegner die oben aufgeführten Maßgaben des Bundesverwaltungsgerichts zur Notwendigkeit der Erstellung einer Anlassbeurteilung im Stellenbesetzungsverfahren wie dargestellt auf den Fall des Beigeladenen übertragen hat.
21b. Demgegenüber ist nicht erkennbar, dass für die Antragstellerin eine Anlassbeurteilung zu erstellen gewesen wäre. Sie verweist hierzu darauf, sie habe für die Zeit von Anfang September 2019 bis Anfang März 2020 aufgrund der Stellenvakanz die Leitung des Sozialamtes innegehabt. Selbst wenn es sich dabei um die Wahrnehmung wesentlich anderer Aufgaben im oben genannten Sinne gehandelt haben sollte (was der Antragsgegner in Abrede stellt), ist der Zeitraum der Aufgabenwahrnehmung mit etwa sechs Monaten offensichtlich deutlich zu gering, um ein Bedürfnis für die Erteilung einer Anlassbeurteilung zu begründen.
223. Vergeblich beruft sich die Antragstellerin ferner auf Rechtsmängel der ihr bzw. dem Beigeladenen erteilten dienstlichen Beurteilungen, die der Auswahlentscheidung zugrunde gelegt worden sind.
23a. Einwände gegen die Rechtmäßigkeit der ihr erteilten dienstlichen Beurteilung vom 30.10.2019, bekanntgegeben im November 2019, kann die Antragstellerin schon deshalb nicht mehr mit Erfolg vorbringen, weil sie sich gegen diese Beurteilung erstmals im vorliegenden Stellenbesetzungsverfahren gewandt hat. Einwendungen gegen eine dienstliche Beurteilung ist eine Grenze durch den Grundsatz von Treu und Glauben in Form der Verwirkung gezogen, die sowohl das materielle Recht auf Überprüfung und gegebenenfalls Änderung der dienstlichen Beurteilung als auch prozessuale Rechte betrifft. Die Verwirkung tritt ein, wenn der beurteilte Beamte während eines längeren Zeitraumes unter Verhältnissen untätig geblieben ist, unter denen vernünftigerweise etwas zur Rechtswahrung unternommen zu werden pflegt, so dass beim Dienstherrn der Anschein erweckt worden ist, er werde bezüglich der Beurteilung nichts mehr unternehmen. Für die Bemessung des Zeitmoments im Rahmen der Verwirkung bietet die Jahresfrist des § 58 Abs. 2 VwGO eine zeitliche Orientierung.
24OVG NRW, Beschluss vom 15.2.2022 - 6 A 2766/20 -, juris Rn. 5 m. w. N.; BVerwG, Beschluss vom 4.6.2014 - 2 B 108.13 -, Buchholz 449 § 3 SG Nr. 72 = juris Rn. 11.
25Es ist im Streitfall offensichtlich gegeben, da sich die Antragstellerin erst rund zwei Jahre nach der Bekanntgabe ihrer Beurteilung auf deren Rechtswidrigkeit berufen hat. Auch das Umstandsmoment für die Annahme der Verwirkung ist im Streitfall erfüllt. Denn die Antragstellerin hat offenbar nicht nur keine Gegenäußerung zu ihrer Regelbeurteilung abgegeben, sondern sich nach deren Bekanntgabe mehrfach gestützt auf dieselbe auf ausgeschriebene Stellen beworben, nämlich die Sachgebietsleitung im Amt für Finanzwirtschaft (A 13), die Leitung des Amtes für IT, Digitalisierung und Organisation (A 14) sowie die Sachgebietsleitung im Schulverwaltungsamt (A 12). Letztere Stelle ist der Antragstellerin im Januar 2022 auch (statusgleich) übertragen worden. Auch in den Fällen, in denen die Antragstellerin nicht zum Zuge gekommen ist, hat sie die Rechtsfehlerhaftigkeit der ihr erteilten Regelbeurteilung nicht geltend gemacht. Angesichts dessen musste der Antragsgegner damit nicht mehr rechnen.
26Hieran führt nicht vorbei, dass die Antragstellerin von der mangelnden Beachtung der Richtwerte bei der Erstellung der dienstlichen Beurteilungen erst später - wann genau, wird nicht klar - erfahren haben will. Sie hätte bei Unzufriedenheit mit ihrer Beurteilung bereits zuvor Gelegenheit gehabt, sich über deren Zustandekommen ggfs. im Wege der Akteneinsicht zu informieren. Die Antragstellerin führt nichts dazu aus, warum das Zeitmoment für die Annahme der Verwirkung erst dann zu laufen beginnen soll, wenn dem Betreffenden sämtliche (mögliche) Rechtsfehler der Maßnahme bekannt sind.
27b. Abgesehen hiervon dringt die Antragstellerin mit ihren Monita bezüglich der Rechtmäßigkeit der ihr erteilten sowie der Rechtmäßigkeit der dem Beigeladenen erteilten dienstlichen Beurteilung nicht durch.
28aa. Soweit sie beanstandet, die Beurteilungsrichtlinien des Antragsgegners stünden nicht mit Recht und Gesetz in Einklang, fehlt es an jeglicher Darlegung dazu, inwieweit das erstens der Fall und zweitens von Einfluss auf die streitgegenständliche Auswahlentscheidung gewesen sein soll. Der Senat sieht sich angesichts dessen nicht veranlasst, die Beurteilungsrichtlinien einer umfassenden Rechtsprüfung zu unterziehen.
29bb. Nicht zum Erfolg der Beschwerde führt ferner die Beanstandung der Antragstellerin, "die vorgelegten Quoten gemäß den Beurteilungsrichtlinien" seien nicht eingehalten. In der Tat sind die in § 8 Abs. 3 Satz 1 LVO NRW und auch Ziff. 5.1 Abs. 3 Satz 3 der Beurteilungsrichtlinien festgelegten Richtwerte in der Vergleichsgruppe der Antragstellerin und des Beigeladenen ungenügend beachtet. Auf gerichtliche Nachfrage hat die Antragsgegnerin hierzu mitgeteilt, in der Vergleichsgruppe des Beigeladenen, die 73 Personen zum Regelbeurteilungsstichtag 31.12.2018 umfasst habe, hätten 43,84 % der Beurteilten ein Gesamturteil von 3, 52,05 % von 4 und 4,11 % von 5 Punkten erhalten. In der Vergleichsgruppe der Antragstellerin, die 62 Personen zum Regelbeurteilungsstichtag 31.12.2018 umfasst habe, hätten 32,26 % der Beurteilten ein Gesamturteil von 3, 50 % von 4 und 17,74 % von 5 Punkten erhalten. Damit liegt in beiden Vergleichsgruppen eine deutliche Überschreitung der Richtsätze von 20 % bei der zweitbesten Note (4) - nämlich jeweils etwa um das 2 1/2fache - und (nur) in der Vergleichsgruppe der Antragstellerin darüber hinaus eine Überschreitung des Richtsatzes von 10 % bei der besten Note (5) vor. Dies legt - allerdings in beiden Vergleichsgruppen - eine Maßstabsverkennung zumindest sehr nahe. Die Richtwerte bestimmen das anteilige Verhältnis der betreffenden Noten in dem jeweiligen Verwaltungsbereich. Mittels der so vorweg bestimmten Häufigkeit verdeutlicht und konkretisiert der Dienstherr den Aussagegehalt der in der Regel in Beurteilungsrichtlinien bezeichneten und dort nur kurz umschriebenen Noten. Die Richtwerte verdeutlichen dem beurteilenden Vorgesetzten den vom Dienstherrn gewollten Maßstab. Indem sie dazu beitragen, dass alle Beurteiler eines Verwaltungsbereichs gleiche oder zumindest weitgehend angenäherte Maßstäbe anlegen, erhöhen Richtwerte die Beurteilungsgerechtigkeit.
30BVerwG, etwa Beschluss vom 7.3.2017 - 2 B 25.16 ‑, Buchholz 232.1 § 50 BLV Nr. 4 = juris Rn. 7, und Urteil vom 26.6.1980 - 2 C 13.79 -, ZBR 1981, 197 = juris Rn. 30, 32 ff.
31An der danach anzunehmenden Maßstabsverfehlung führt das Vorbringen des Antragsgegners nicht vorbei, wichtiger als die Einhaltung von Quoten sei es, dass jede/r einzelne Beschäftigte eine gerechte Beurteilung erhalte. Der Antragsgegner bezieht sich dazu auf Entscheidungen des Hamburgischen Oberverwaltungsgerichts vom 29.8.2008 (richtig wohl: vom 29.5.2008) - 1 Bs 79/08 - und vom 3.2.2009 - 1 Bs 208/08 -, wonach strikte Vorgaben über maximal oder minimal erreichbare Benotungen ohne die Möglichkeit einer Abweichung im Einzelfall mit dem Gebot der individuell gerechten Beurteilung des jeweiligen Beamten unvereinbar und Vorgaben für Bewertungen im Einzelfall ebenso unzulässig seien wie Vorgaben zur strikten Einhaltung von Richtwerten.
32Es trifft zwar zu, dass - wenn auch Richtsätze für das anteilige Verhältnis der Gesamtnoten der dienstlichen Beurteilung als Konkretisierung der vom Dienstherrn gewollten Beurteilungsmaßstäbe in hinreichend großen Verwaltungsbereichen zulässig sind - bei ihrer Anwendung geringfügige Über- oder Unterschreitungen der Prozent-sätze möglich sein müssen und die Quoten im Einzelfall einer angemessenen Beurteilung nicht entgegenstehen werden dürfen.
33BVerwG, Urteil vom 26.6.1980 - 2 C 13.79 -, a. .a. O. Rn. 37; OVG Rheinland-Pfalz, Urteil vom 13.5.2014 ‑ 2 A 10637/13 -, NVwZ-RR 2014, 813 = juris Rn. 41.
34Im Streitfall ist die Überschreitung der Quote insbesondere im Bereich der zweitbesten Note allerdings keineswegs geringfügig, sondern so deutlich, dass sie mit dem Verweis auf die Notwendigkeit der Erteilung einer im Einzelfall angemessenen Beurteilung allein nicht gerechtfertigt werden kann. Die - hier nicht unmittelbar anwendbare - Bestimmung des § 50 Abs. 2 Satz 2 BLV etwa erlaubt, um der Einzelfallgerechtigkeit zu genügen, eine Überschreitung der Quotierungswerte um jeweils maximal fünf Prozentpunkte. Über dieses Maß geht die vorliegend in Rede stehende Überschreitung der Richtwerte weit hinaus.
35Nicht erkennbar ist hingegen, dass die Antragstellerin durch den danach naheliegenden Rechtsmangel benachteiligt worden ist bzw. dass sie bei Vermeidung allein dieses Rechtsfehlers ernsthafte Auswahlchancen hätte.
36Vgl. zu diesem Erfordernis nur BVerfG, Beschluss vom 4.2.2016 - 2 BvR 2223/15 -, NVwZ 2016, 764 = juris Rn. 83; OVG NRW, Beschluss vom 22.7.2019 ‑ 6 B 708/19 -, juris Rn. 16.
37Denn die durch die Missachtung der Richtwerte in der Weise, dass (gerade) erheblich zu viele Gesamturteile im quotierten Bereich vergeben worden sind, deutlich werdende Maßstabsverschiebung ist gerade auch in der Vergleichsgruppe festzustellen, der die Antragstellerin angehört. Auch sie hat eine Beurteilung mit einem Gesamtergebnis im quotierten Bereich erhalten.
38cc. Erfolglos bestreitet die Antragstellerin, dass die Gleichstellungsbeauftragte an der Beurteilungsbesprechung teilgenommen hat. Der Antragsgegner hat zu Recht darauf hingewiesen, die Zweifel hinsichtlich der Teilnahme der Gleichstellungsbeauftragten an der Beurteilungsbesprechung der letzten Regelbeurteilung könnten nicht nachvollzogen werden, nachdem dem Protokoll der Beurteilungskonferenz zu entnehmen sei, dass Frau Böttcher in der Konferenz am 24.9.2019 um 09:30 Uhr anwesend war. In der Tat ist dort als "anwesend" "GL" aufgeführt. Die Antragstellerin hat dem nichts weiter entgegengesetzt.
39dd. Schließlich ist nicht zu erkennen, dass "wesentliche dienstliche Tätigkeiten hier völlig ausgeblendet worden" wären oder "der maßgebliche Sachverhalt insgesamt für die Beurteilung nicht vollständig erfasst" worden wäre, wie die Antragstellerin mit Schriftsatz vom 11.4.2022 ohne jede Erläuterung noch geltend gemacht hat. Nicht mitgeteilt oder sonst ersichtlich ist namentlich, welche Tätigkeiten bzw. welcher Sachverhalt unberücksichtigt geblieben sein sollen.
40ee. Schon kaum verständlich ist das Vorbringen, es werde "bestritten, dass das Verfahren für die Erstellung der Beurteilung von vorne herein, bevor es überhaupt zu den Beurteilungen kam, festgelegt worden war. Nach den Informationen, die der Antragstellerin vorliegen, ist der Entschluss erst nach dem Erstellen der Beurteilungen gefasst worden. Eine diesbezügliche Rückmeldung (hinsichtlich der Nichteinhaltung der Quoten) an die Erstbeurteiler ist nicht erfolgt. Demzufolge wurden die Beurteilungen nicht noch einmal überdacht/überprüft (ohne die Einhaltung der Quoten beachten zu müssen)" (Schriftsatz vom 15.12.2021, Bl. 55 GA VG).
41Soweit dieser Vortrag verständlich ist, greift er nicht durch. Die Behauptung, das Verfahren für die Erstellung der Beurteilung sei nicht von Vornherein festgelegt gewesen, ist angesichts des Bestehens der Beurteilungsrichtlinien und insbesondere der dortigen Regelungen zum Beurteilungsverfahren unter Ziff. 5.1 nicht nachvollziehbar; dies gesteht die Antragstellerin mit Schriftsatz vom 21.12.2021 im Übrigen selbst zu. Welcher Entschluss erst nach dem Erstellen der Beurteilungen gefasst worden sein soll, bleibt dunkel; die hierzu angeblich vorliegenden Informationen werden nicht genannt. Das Notwendige zum Einwand der mangelnden Beachtung der Richtwerte ist oben bereits ausgeführt worden.
424. Der Vortrag der Antragstellerin, es sei "zu bedenken, dass die Auswahlentscheidung statusbezogen" sei, so dass sie grundsätzlich nicht anhand von Anforderungen des konkreten Dienstpostens erfolgen dürfe; schon die Stellenausschreibung erwecke "den Eindruck, dass die Voraussetzungen in Bezug auf das Sachgebiet so überspannt" seien, "dass hier die Anforderungen an die Bewerbung in einem nicht hinnehmbaren Maße überschritten" würden, "bezogen auf die eingeräumten Ermessensspielräume"; es bestünden "erhebliche Zweifel daran, ob die Antragsgegnerseite ihr eingeräumtes Ermessen bei der Auswahlentscheidung ausgeschöpft" habe, ist teilweise wiederum schon kaum verständlich und im Übrigen so unkonkret, dass er dem Senat keinen Anlass zu näherer Prüfung gibt. Dass die Formulierung des Anforderungsprofils Rechtsmängel aufwiese, ist weder näher erläutert noch sonst erkennbar.
435. Ohne Erfolg beanstandet die Antragstellerin schließlich, es sei "nicht so recht nachvollziehbar (...), dass Führungsmerkmale ausgeklammert wurden, da die Führungserfahrung für die Sachgebietsleitung der Wertigkeit EG 12/A 13 keine Voraussetzung sei". In aller Regel ist der Dienstherr nicht aus Rechtsgründen gehalten, bestimmte Anforderungsmerkmale für eine Stellenbesetzung zu verlangen. Dazu, dass ein hiervon abweichender Ausnahmefall vorliegt, führt die Antragstellerin schon nichts aus und ist auch nichts ersichtlich.
44Die Kostenentscheidung folgt aus §§ 154 Abs. 1, 162 Abs. 3 VwGO. Die Streitwertfestsetzung beruht auf §§ 47 Abs. 1, 53 Abs. 2 Nr. 1, 52 Abs. 1, Abs. 6 Satz 4 i.V.m. Satz 1 Nr. 1, Sätze 2 und 3 GKG.
45Dieser Beschluss ist unanfechtbar (§ 152 Abs. 1 VwGO, §§ 66 Abs. 3 Satz 3, 68 Abs. 1 Satz 5 GKG).
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Referenzen
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