Beschluss vom Oberverwaltungsgericht Nordrhein-Westfalen - 18 B 632/22
Tenor
Der angegriffene Beschluss wird (teilweise) geändert.
Die aufschiebende Wirkung der Klage 12 K 1376/22 (VG Köln) wird insoweit angeordnet, als sie sich gegen Ziffer 6. der Ordnungsverfügung der Antragsgegnerin vom 25. Januar 2022 (für den Fall der Abschiebung erlassenes und auf sieben Jahre befristetes Einreise- und Aufenthaltsverbot) richtet.
Im Übrigen wird die Beschwerde zurückgewiesen.
Die Kosten des Verfahrens in beiden Instanzen tragen der Antragsteller zu 7/8 und die Antragsgegnerin zu 1/8.
Der Streitwert wird auch für das Beschwerdeverfahren auf 2.500 Euro festgesetzt.
1
Gründe:
2Die Beschwerde des Antragstellers hat (nur) in dem aus der Beschlussformel ersichtlichen Umfang Erfolg. Das Beschwerdevorbringen gibt Anlass, den angegriffenen Beschluss teilweise zu ändern.
3Das Verwaltungsgericht hat zur Begründung seines Beschlusses im Wesentlichen ausgeführt: Die in Ziffer 2 der Ordnungsverfügung erfolgte Anordnung der sofortigen Vollziehung der in Ziffer 1 der Ordnungsverfügung enthaltenen Ausweisung sei entgegen der Auffassung des Antragstellers nicht zu beanstanden. Die verfügte Ausweisung sei offensichtlich rechtmäßig. Sie finde ihre Rechtsgrundlage in § 53 Abs. 1 i. V. m. Abs. 3 AufenthG. Das persönliche Verhalten des Antragstellers stelle eine gegenwärtige schwerwiegende Gefahr für die öffentliche Sicherheit und Ordnung dar, die ein Grundinteresse der Gesellschaft berühre. Für die Wahrung dieses Interesses sei die Ausweisung unerlässlich. Insofern handele es sich um eine Prognoseentscheidung, die die Ausländerbehörden und Verwaltungsgerichte eigenständig zu treffen hätten. Es sei mit hinreichender Wahrscheinlichkeit damit zu rechnen, dass der Antragsteller erneut schwere Straftaten, die ein Grundinteresse der Gesellschaft berührten, begehen werde. Im Hinblick auf die Bewertung einer Wiederholungsgefahr seien zwar mehrere positive Entwicklungsansätze beim Antragsteller zu beobachten (Beginn einer Umschulung zum Fachinformatiker, Absolvierung eines berufsbegleitenden Praktikums, Vorlage negativer Drogenscreenings, Bewerbung um einen Behandlungsplatz in der Behandlungsabteilung für Täter mit Gewaltproblematik, Aufnahme in eine entsprechende Wohngruppe sowie Teilnahme an Einzelpsychotherapie). Gleichwohl ließen diese positiven Momente nicht den Schluss zu, vom Antragsteller gehe nicht mehr die Gefahr der erneuten Begehung schwerer Straftaten aus. Der Antragsteller sei in der Vergangenheit regelmäßig - teilweise als Bewährungsversager - straffällig geworden. Hinzuweisen sei insbesondere auf die Verurteilungen durch das Landgericht L. vom 12. November 2013 (Freiheitsstrafe von drei Jahren und sechs Monaten wegen Vergewaltigung in Tateinheit mit Körperverletzung, Führungsaufsicht nach vollständiger Haftverbüßung bis 22. August 2023) und das Amtsgericht L. vom 10. Juni 2020 (Freiheitsstrafe von einem Jahr wegen Verstoßes gegen Weisungen der Führungsaufsicht, Bewährungszeit bis 8. Oktober 2022). Aus der Sicht der Kammer sei ausschlaggebend zu berücksichtigen, dass über die ausdrücklich abgeurteilten Drogendelikte hinaus der eigene Drogenkonsum ganz wesentlich die strafrechtliche Vita des Antragstellers beeinflusst habe. Dass der Antragsteller eine Drogentherapie aufgenommen habe, sei weder vorgetragen noch sonst ersichtlich. Im Falle einer Drogensucht könne nicht mit der notwendigen Sicherheit von einem dauerhaften Einstellungswandel ausgegangen werden, solange sich der Ausländer nicht außerhalb des Straf- bzw. Maßregelvollzugs bewährt habe. Gerade bei Straftaten, die auf einer Suchterkrankung beruhten, könne von einem Wegfall der Wiederholungsgefahr nicht ausgegangen werden, solange der Ausländer nicht eine Drogentherapie erfolgreich abgeschlossen habe. Gerade die letzte Verurteilung durch das Amtsgericht L. im Jahr 2020 spreche dafür, dass der Antragsteller nicht dauerhaft ein drogenfreies Leben führen und deshalb weitere Straftaten begehen werde. Dieser Einschätzung stehe nicht entgegen, dass die mit Urteil des Amtsgerichts L. vom 10. Juni 2020 verhängte Freiheitsstrafe zur Bewährung ausgesetzt worden sei. Hieran sei die Kammer nicht gebunden. Die Abwägung der Bleibeinteressen mit den Ausweisungsinteressen falle, auch gemessen an den Anforderungen aus § 53 Abs. 3 AufenthG, zu Lasten des Antragstellers aus. In der Person des Antragstellers lägen besonders schwerwiegende typisierte Bleibeinteressen i. S. v. § 55 Abs. 1 Nr. 1 und 2 AufenthG vor. Die für den Verbleib des Antragstellers in Deutschland sprechenden Umstände würden aber durch die dagegen sprechenden Umstände überwogen. Soweit der Antragsteller meine, die Ausweisung sei rechtswidrig, weil die Antragsgegnerin noch am 20. Januar 2017 zu dem Ergebnis gekommen sei, dass das Bleibeinteresse das Ausweisungsinteresse überwiege und deshalb lediglich eine Verwarnung ausgesprochen habe, folge die Kammer dem nicht. Die Verwarnung sage klar aus, dass sie nicht als Einverständnis oder Erklärung gelte, bereits begangene Rechtsverstöße für die Zukunft nicht mehr zu beachten, sondern vielmehr als eingehender Hinweis diene, dass bei erneuten Rechtsverstößen, insbesondere strafrechtlichen aber auch solchen gegen behördliche oder gerichtliche Weisungen, Entscheidungen, Beschlüsse etc. eine Aufenthaltsbeendigung unter Würdigung des gesamten Werdegangs des Antragstellers unverzüglich und umfangreich geprüft und ggf. durchgesetzt werde. Ferner sei die Antragsgegnerin in Ziffer 3 der angefochtenen Ordnungsverfügung zutreffend davon ausgegangen, die Rechte des Antragstellers aus dem ARB 1/80 und die Niederlassungserlaubnis seien erloschen. Die Abschiebungsandrohung in Ziffer 4 der Ordnungsverfügung erweise sich als offensichtlich rechtmäßig. Auch die in Ziffer 5 der Ordnungsverfügung getroffene Entscheidung, die Sperrwirkung der Ausweisung anzuordnen und auf sechs Jahre zu befristen, sei rechtmäßig. Die Antragsgegnerin habe zu Recht insoweit die vielfachen Verstöße des Antragstellers gegen die deutsche Rechtsordnung berücksichtigt und sodann fristverkürzend seinen langen Aufenthalt in Deutschland seit dem Säuglingsalter und seine sozialen und familiären Bindungen in Deutschland gewertet. Entsprechendes gelte für das in Ziffer 6 der angefochtenen Ordnungsverfügung für den Fall der Abschiebung erlassene Einreise- und Aufenthaltsverbot von sieben Jahren. Es sei nicht ermessensfehlerhaft, wenn die Antragsgegnerin für den Fall der Abschiebung ein um ein Jahr erhöhtes Einreise- und Aufenthaltsverbot erlasse. Der Antragsteller könne diesem durch eine freiwillige Ausreise begegnen.
4Die dagegen erhobenen Einwände führen insoweit zum Erfolg der Beschwerde, als sie sich gegen die Annahme des Verwaltungsgerichts richten, das in Ziffer 6 der angegriffenen Ordnungsverfügung für den Fall der Abschiebung erlassene und auf sieben Jahre befristete Einreise- und Aufenthaltsverbot sei rechtmäßig.
5Denn die entsprechenden Ermessenserwägungen der Antragsgegnerin in der Ordnungsverfügung vom 25. Januar 2022 genügen den Vorgaben des § 11 Abs. 3 Satz 1 AufenthG nicht.
6Mit dem Einreise- und Aufenthaltsverbot verfolgt der Gesetzgeber gewichtige spezial- und generalpräventive Gründe, die für das ausweisungsbedingte und für das abschiebungsbedingte Einreiseverbot je gesondert zu bestimmen sind. Das hier betroffene abschiebungsbedingte Verbot hat eine doppelte Zweckrichtung. Es dient zum einen in Bezug auf den betroffenen ausreisepflichtigen Ausländer der Durchsetzung des Vorrangs seiner freiwilligen Ausreise vor der Abschiebung und zum anderen auch in Bezug auf sonstige ausreisepflichtige Ausländer der Förderung der freiwilligen Ausreise. In spezialpräventiver Hinsicht soll der Ausländer aus dem Unionsgebiet ferngehalten werden, weil er Anlass zu Vollstreckungsmaßnahmen gegeben hat und die Besorgnis besteht, dass diese bei einem künftigen Aufenthalt erneut erforderlich werden. Zugleich soll in generalpräventiver Hinsicht verhindert werden, dass sich andere Ausländer in dem Vorhaben, ebenfalls nicht freiwillig auszureisen, ohne ein an die erforderlich gewordene Vollstreckungsmaßnahme anknüpfendes Einreise- und Aufenthaltsverbot bestärkt fühlen könnten.
7Vgl. BVerwG, Urteil vom 7. September 2021- 1 C 47.20 -, juris, Rn. 16; OVG NRW, Beschlüsse vom 10. März 2022 - 18 B 326/22 - (BA Bl. 3), und vom 3. Februar 2022 - 18 B 1873/21 - (BA Bl. 6 f.).
8Diese auf der ersten Stufe der zu treffenden Ermessensentscheidung maßgeblichen ermessensleitenden Erwägungen hat die Antragsgegnerin verkannt. Sie hat nämlich zur Begründung der Fristbemessung maßgeblich darauf abgestellt, der Antragsteller sei mehrfach strafrechtlich in Erscheinung getreten. Damit kommt es nicht mehr entscheidungstragend darauf an, ob die Erwägung des Verwaltungsgerichts, der Antragsteller könne dem erhöhten Einreise- und Aufenthaltsverbot durch eine freiwillige Ausreise begegnen, zutrifft.
9Im Übrigen hat die Beschwerde keinen Erfolg. Die erhobenen Einwände verfangen nicht. Das gilt zunächst, soweit sie sich gegen die Ausführungen des Verwaltungsgerichts zur offensichtlichen Rechtmäßigkeit von Ziffer 1 der Ordnungsverfügung (Ausweisung) richten. Im Einzelnen:
10Selbst unterstellt, der mehrfach erhobene Vorwurf, das Verwaltungsgericht habe in die Argumentation der Antragsgegnerin „eingegriffen“, träfe in der Sache zu, führte dies nicht zum Erfolg der Beschwerde.
11Das Verwaltungsgericht hat im Falle einer – wie hier – gebundenen Entscheidung zu prüfen, ob der angefochtene Verwaltungsakt mit dem objektiven Recht in Einklang steht und, falls nicht, ob er den Antragsteller zudem in seinen Rechten verletzt. Bei dieser Prüfung hat das Verwaltungsgericht alle einschlägigen Rechtsvorschriften und - nach Maßgabe der Sachaufklärungspflicht gemäß § 86 Abs. 1 VwGO - alle rechtserheblichen Tatsachen zu berücksichtigen, gleichgültig, ob die Normen und Tatsachen von der erlassenden Behörde zur Begründung des Verwaltungsaktes angeführt worden sind oder nicht.
12Vgl. st. Rspr. BVerwG, siehe nur Urteil vom 21. November 1989 - 9 C 28.89 -, juris, Rn. 12, jüngst auch Beschluss vom 29. Juli 2019 - 2 B 19.18 -, juris, Rn. 24.
13Die Heranziehung anderer als im Bescheid genannter Normen und Tatsachen ist dem Gericht nur insoweit verwehrt, als die anderweitige rechtliche Begründung oder das Zugrundelegen anderer Tatsachen zu einer Wesensveränderung des angefochtenen Bescheides führen würde.
14Vgl. BVerwG, Beschluss vom 30. September 2020- 4 B 45.19 -, juris, Rn. 7, und Urteil vom 8. April 1997 - 1 C 7.93 -, juris, Rn. 21.
15Das ist zum Beispiel der Fall, wenn der Austausch der Rechtsgrundlage wegen unterschiedlicher Rechtsfolgen prozessual zu einem neuen Streitgegenstand führt.
16Vgl. BVerwG, Urteil vom 21. April 2020- 1 C 4.19 -, juris, Rn. 24.
17Bei gebundenen Verwaltungsakten schadet eine inhaltlich fehlerhafte Begründung (auch) zur zugrunde liegenden Rechtsgrundlage daher grundsätzlich nicht.
18Vgl. BVerwG, Beschluss vom 29. Juli 2019- 2 B 19.18 -, juris, Rn. 24.
19Auch § 39 Abs. 1 VwVfG (NRW) normiert für Verwaltungsakte lediglich eine formelle Begründungspflicht; aus der Regelung folgt keine Pflicht zur objektiv richtigen Begründung mit der Folge eines Rechtswidrigkeitsverdikts, falls die von der Behörde genannte Rechtsnorm nicht die materiell-rechtlich richtige ist, um ihren Entscheidungsausspruch zu tragen
20Vgl. BVerwG, Beschluss vom 29. Juli 2019- 2 B 19.18 -, juris, Rn. 24.
21Ausgehend von diesen Maßstäben ist es unter Berücksichtigung des Umstands, dass es sich bei einer Ausweisung nach § 53 AufenthG um eine gebundene Entscheidung handelt,
22vgl. BVerwG, Urteil vom 22. Februar 2017- 1 C 3.16 -, juris, Rn. 21,
23unschädlich, wenn - wie der Antragsteller behauptet - die Ordnungsverfügung die einschlägige Rechtsgrundlage des § 53 Abs. 3 AufenthG mit ihren strengen Voraussetzungen nicht in der gebotenen Weise berücksichtigt, sondern erst das Verwaltungsgericht diese Prüfung vornimmt. Zu einer Wesensveränderung des Bescheides führte dies nicht.
24Ebenso dringt der Antragsteller mit seinem Einwand nicht durch, der Bescheid sei mit Blick auf Ziffer 1 formell rechtswidrig, weil die gesetzlich vorgesehene Begründungspflicht für Ausweisungen (§ 77 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 AufenthG) wegen der (behaupteten) inhaltlichen Fehlerhaftigkeit der Begründung verletzt werde. Denn für § 77 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 AufenthG gilt nichts anderes als für § 39 Abs. 1 VwVfG (NRW). Ein Verstoß gegen das Prinzip der Gewaltenteilung folgt daraus (offensichtlich) nicht.
25Ob die einmalige Erwähnung des Begriffs „Ermessensentscheidung“ auf Seite 13 der angefochtenen Ordnungsverfügung tatsächlich - wie der Antragsteller meint - den Schluss zulässt, die Behörde habe bezüglich der Ausweisung eine Ermessensentscheidung getroffen, oder ob es sich nicht vielmehr schlicht um ein (einmaliges) Versehen handelt, bedarf keiner Entscheidung. Denn selbst wenn die Antragsgegnerin der Ansicht gewesen wäre, die Ausweisung sei eine Ermessensentscheidung, handelte es sich um einen Fall „schlichter Rechtsanwendung“,
26vgl. zur Begrifflichkeit BVerwG, Urteile vom 12. April 1991 - 8 C 92.89 -, juris, Rn. 9, und vom 19. August 1988 - 8 C 29.87 -, juris, Rn. 12,
27wenn das Verwaltungsgericht die erlassene Ausweisung als gebundene Entscheidung für rechtmäßig erachtet.
28Der Antragsteller meint zu Unrecht, das Verwaltungsgericht habe bei der Prüfung der Voraussetzungen des § 53 Abs. 3 nicht auf die in § 54 und § 55 AufenthG typisierten Ausweisungs- und Bleibeinteressen abstellen dürfen.
29In der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts ist geklärt, dass § 53 Abs. 3 AufenthG den allgemeinen Prüfungsmaßstab des § 53 Abs. 1 AufenthG zwar modifiziert, im Übrigen aber nichts an der durch diese Grundnorm vorgegebenen Prüfungsstruktur ändert. Insbesondere sind bei der vorzunehmenden Interessenabwägung im Lichte des spezifischen Prüfungsmaßstabs des § 53 Abs. 3 AufenthG auch die §§ 54 und 55 AufenthG anzuwenden.
30Vgl. BVerwG, Urteil vom 16. Februar 2022- 1 C 6.21 -, juris, Rn. 27.
31Die vom Antragsteller gegen die „Gefahrenprognose“ erhobenen Einwände treffen nicht zu. Zunächst verfehlt die bloße Zusammenfassung der entsprechenden Erwägungen des Verwaltungsgerichts die Darlegungsanforderungen ebenso wie die bloße Bezugnahme auf erstinstanzlichen Vortrag. Anders als der Antragsteller meint, genügen nicht „beliebige, auf in der Vergangenheit liegende Umstände gegründete Annahmen […], um eine […] Gefahr herbeizureden“. Vielmehr hat das Verwaltungsgericht alle Umstände des konkreten Einzelfalles umfassend bewertet und seiner Entscheidung zugrunde gelegt Der Vorwurf, das Verwaltungsgericht habe die Lebensumstände des Antragstellers „selektiv“ gewürdigt, ist daher unzutreffend. Die Annahme des Antragstellers, er könne sich nicht bewähren, wenn man ihm zuvor - auch mit dieser Begründung - das Aufenthaltsrecht entziehe, liegt (offensichtlich) neben der Sache.
32Inwiefern der vom Antragsteller behauptete unmittelbar bevorstehende Abschluss einer gerichtlichen Personensorge- und Umgangsregelung mit der in Tschechien lebenden Mutter seines minderjährigen Sohnes B. (überhaupt) zu einem Wegfall der Gefahr der Begehung weiterer Straftaten führen soll, erschließt sich dem Senat nicht. Ungeachtet dessen ist nicht nachprüfbar, ob das vom Antragsteller zum Beleg seines Vortrags vorgelegte Dokument tatsächlich den behaupteten Inhalt hat, denn es ist - entgegen § 173 Satz 1 VwGO i. V. m. § 184 Satz 1 GVG - allein in tschechischer Sprache vorgelegt worden. Vor dem Hintergrund des letztgenannten Aspekts ist auch nicht ersichtlich, inwiefern die Ausführungen des Verwaltungsgerichts zu Art. 20 AEUV, in dessen Rahmen es den Umstand bewertet hat, dass der 2008 geborene minderjährige Sohn zusammen mit seiner Mutter in Tschechien lebt, unzutreffend sein könnten. Ferner hat der Antragsteller zwar in den Monaten Januar, Februar, April und Mai 2022, Juli 2021 und September 2019 Überweisungen getätigt, um der Mutter des gemeinsamen Sohnes Unterhalt für diesen zukommen zu lassen. Indes erschließt sich auch mit Blick darauf nicht ansatzweise, warum die Zahlung von Unterhalt den Antragsteller in Zukunft von der Begehung weiterer Straftaten abhalten könnte. Sollte sich der Vortrag auch auf die Erwägungen im angefochtenen Beschluss zu Art. 20 AEUV beziehen, vermag er die zutreffende Argumentation des Verwaltungsgerichts, es sei auch möglich, Unterhaltszahlungen von der Türkei aus zu leisten, nicht in Zweifel zu ziehen. Der Vollständigkeit halber sei angemerkt, dass - entgegen dem Vorbringen des Antragstellers - weitere Überweisungen mit entsprechender Zielrichtung bereits nicht nachgewiesen sind. Die vorgelegte Liste, die Transaktionen in den Jahren 2018 und 2019 dokumentieren soll, besitzt schon mangels jeglicher belastbarer Anhaltspunkte, wer diese erstellt hat, keine Aussagekraft. Der Beleg „Bargeld Empfangen“ vom 9. September 2020 benennt den Antragsteller nicht als Person des Überweisenden, sondern vielmehr als Empfänger einer Überweisung eines „B1. C. “.
33Der Vortrag des Antragstellers, er habe bereits seit mehreren Jahren keine Betäubungsmittel mehr konsumiert und stehe in einem ungekündigten und festen Arbeitsverhältnis als Systeminformatiker mit einer wöchentlichen Arbeitszeit von 40 Stunden, vermag der Beschwerde ebenfalls nicht zum Erfolg zu verhelfen. Diese Aspekte hat bereits das Verwaltungsgericht zu Gunsten des Antragstellers berücksichtigt. Es hat jedoch mit Blick auf das Bestehen einer Wiederholungsgefahr stattdessen maßgeblich auf die fehlende Durchführung einer Drogentherapie, das Bagatellisieren des Drogenkonsums seitens des Antragstellers, die letzte Verurteilung durch das Amtsgericht L. vom 10. Juni 2020 (Kokain- und Cannabiskonsum am 31. August 2019 trotz strafbewährter Weisung im Beschluss das Landgerichts Aachen vom 9. August 2018) sowie auf die in zwei Emails des Antragstellers in 2022 zu Tage getretene fehlende Einsichtsfähigkeit abgestellt. Hierzu verhält sich die Beschwerdebegründung nicht.
34Die vom Antragsteller aufgestellte und auf eine nichtdatierte handschriftliche Erklärung seiner Mutter gestützte Behauptung, er habe die Pflege jener „übernommen“, verfehlt mangels näherer Erläuterungen die Darlegungsanforderungen. So genügt es nicht, wenn die Mutter lediglich erklärt, der Antragsteller unterstütze sie weiterhin (Einkaufen, Putzen, Kochen, Arztbesuche, Papierarbeiten, Spaziergänge, Massagen, usw.). Abgesehen davon erschließt sich auch insoweit nicht, wieso diese Tätigkeiten - unterstellt, der Antragsteller führe sie tatsächlich aus -, ihn von der Begehung weiterer Straftaten abhalten sollten. Im Übrigen ist bemerkenswert, dass die von nahen Verwandten des Antragstellers handschriftlich verfasste Erklärung lediglich davon spricht, der Antragsteller habe „jahrelang fürsorglich unsere Mutter bei der Pflege unseres kranken Vaters unterstützt“, ohne jedoch eine weitere Unterstützung der Mutter nach dem Tod des Vaters auch nur zu erwähnen.
35Das Verwaltungsgericht war nicht gehalten, zur Frage, ob vom Antragsteller weiterhin die Gefahr der Begehung von Straftaten ausgeht, ein Sachverständigengutachten einzuholen. Nach der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts bewegen sich die Tatsachengerichte bei der für eine Aufenthaltsbeendigung erforderlichen Gefahrenprognose regelmäßig in Lebens- und Erkenntnisbereichen, die dem Richter allgemein zugänglich sind. Der Hinzuziehung eines Sachverständigen bedarf es nur ausnahmsweise, wenn die Prognose aufgrund besonderer Umstände - etwa bei der Beurteilung psychischer Erkrankungen - nicht ohne spezielle, dem Gericht nicht zur Verfügung stehende fachliche Kenntnisse erstellt werden kann.
36Vgl. BVerwG, Beschluss vom 9. Dezember 2019- 1 B 74.19 -, juris, Rn. 5, m. w. N. zur Rspr. des BVerwG; OVG NRW, Beschluss vom 2. November 2020 - 18 A 3223/18 - (BA Bl. 10).
37Dass ein solcher Ausnahmefall hier vorliegen könnte, ist nicht ansatzweise dargelegt. Soweit der Antragsteller im Übrigen vorträgt, er habe selbst „angeboten“ ein Gefährdungsgutachten einzuholen, bleibt es ihm unbenommen, ein solches im Hauptsacheverfahren vorzulegen.
38Das Verwaltungsgericht war bei seiner Entscheidung - anders als der Antragsteller anklingen lässt - rechtlich nicht gehindert, von der im Urteil des Amtsgerichts L. vom 10. Juni 2020 getroffenen Entscheidung, die Vollstreckung der einjährigen Freiheitsstrafe wegen einer positiven Legalprognose zur Bewährung auszusetzen, abzuweichen. Ausländerbehörden und Verwaltungsgerichte sind an die tatsächlichen Feststellungen und Beurteilungen des Strafgerichts rechtlich nicht gebunden.
39Vgl. BVerfG, Stattgebender Kammerbeschluss vom 6. Dezember 2021 - 2 BvR 860/21 -, juris, Rn. 19.
40So sind die Entscheidungen der Strafgerichte nach §§ 56, 57 StGB zwar von tatsächlichem Gewicht und stellen bei der Prognose ein wesentliches Indiz dar. Sie entfalten jedoch keine Bindungswirkung im Ausweisungsverfahren in dem Sinne, dass eine Wiederholungsgefahr nicht gegeben ist.
41Vgl. OVG NRW, Beschluss vom 2. November 2020- 18 A 3223/18 - (BA Bl. 9 ff. m. w. N.).
42Die allgemein gehaltenen Ausführungen des Antragstellers zu den Anforderungen an eine Prognoseentscheidung im Rahmen einer Ausweisung lassen den notwendigen konkreten Fallbezug vermissen und sind daher unbeachtlich.
43Angesichts des Vorstehenden gehen auch die - auf die vorgebrachten Einwände aufbauenden - Schlussfolgerungen des Antragstellers zur Rechtswidrigkeit der Ausweisung fehl.
44Die unter der Überschrift „c) angebliches Überwiegen des öffentlichen Interesses“ formulierten Monita sind ebenfalls nicht tragfähig.
45Die behördliche Anordnung der sofortigen Vollziehung genügt den formellen Anforderungen des § 80 Abs. 3 Satz 1 VwGO dann, wenn sie eine auf den Einzelfall bezogene Begründung enthält. Die Frage, ob die von der Behörde zur Begründung der Vollziehungsanordnung angeführten Gründe den Sofortvollzug rechtfertigen, ist in diesem Zusammenhang unerheblich.
46Vgl. OVG NRW, Beschluss vom 21. Januar 2016- 18 B 97/15 -, juris, Rn. 6.
47Ob die Anordnung der sofortigen Vollziehung gerechtfertigt ist, ist vielmehr anhand einer vom Gericht vorzunehmenden eigenständigen Interessenabwägung zu beurteilen.
48Vgl. OVG NRW, Beschluss vom 21. Juli 2015- 18 B 486/14 -, juris, Rn. 2.
49Diese kann auch vom Beschwerdegericht vervollständigt werden.
50Im Falle der Ausweisung als Maßnahme spezifischer Gefahrenabwehr ist ein besonderes Vollzugsinteresse regelmäßig dann zu bejahen, wenn die begründete Besorgnis besteht, die von dem Ausländer ausgehende, mit der Ausweisung bekämpfte Gefahr werde sich schon vor Abschluss des Hauptsacheverfahrens realisieren.
51Vgl. OVG NRW, Beschluss vom 8. Mai 2019- 18 B 176/19 -, juris, Rn. 10.
52Diese Maßstäbe vermischt der Antragsteller im Beschwerdeverfahren teilweise. Dem (in mancher Hinsicht unstrukturierten) Vortrag lässt sich nicht immer mit der unter Darlegungsgesichtspunkten erforderlichen Sicherheit entnehmen, was genau kritisiert wird. Davon abgesehen wird die Richtigkeit der erstinstanzlichen Entscheidung (jedenfalls im Ergebnis) nicht in Zweifel gezogen.
53Dies gilt zunächst mit Blick auf die verwaltungsgerichtliche Prüfung der formellen Voraussetzungen von § 80 Abs. 3 Satz 1 VwGO. Die Beschwerde legt nicht näher dar, inwiefern die Begründung für die unter Ziffer 2 des angegriffenen Bescheides verfügte Anordnung der sofortigen Vollziehung nicht den erforderlichen Einzelfallbezug aufweisen soll. Die bloße Bezugnahme auf vorheriges Vorbringen ist insofern unzureichend.
54Hinsichtlich der Erforderlichkeit der Feststellung eines besonderen Vollzugsinteresses weist der Antragsteller zwar zutreffend darauf hin, dass das Verwaltungsgericht ein solches nicht ausdrücklich geprüft hat. Dies führt indes nicht zum Erfolg der Beschwerde, weil das besondere Vollzugsinteresse hier offensichtlich vorliegt. Zum einen ist einzustellen, dass das Verwaltungsgericht - wie aufgezeigt - zu Recht von einer (hohen) Wiederholungsgefahr ausgegangen ist. Zum anderen ist von besonderer Bedeutung, dass der Antragsteller trotz der ausländerbehördlichen Verwarnung im Jahr 2017 erneut straffällig geworden ist, es mangels Durchführung einer Drogentherapie - trotz der Vorlage negativer Drogenscreenings - an dauerhaft belastbaren Anhaltspunkten für ein drogen- und straffreies Verhalten fehlt und der Antragsteller in seinen Emails aus Februar 2022 zum Ausdruck gebracht hat, über keinerlei Einsichtsfähigkeit zu verfügen.
55Die Ausführungen in der Beschwerdebegründung zur (vermeintlichen) Rechtswidrigkeit von Ziffer 4 der Ordnungsverfügung (Abschiebungsandrohung) sind nicht tragfähig, weil die Annahme des Verwaltungsgerichts, die Ausweisung sei offensichtlich rechtmäßig, von der Beschwerde nicht erschüttert wird.
56Aus diesen Gründen hat die Beschwerde auch keinen Erfolg, soweit sie sich gegen die Feststellung des Verwaltungsgerichts richtet, Ziffer 5 der Ordnungsverfügung (bezüglich der Ausweisung angeordnetes und auf sechs Jahre befristetes Einreise- und Aufenthaltsverbot) sei (offensichtlich) rechtmäßig.
57Die Kostenentscheidung folgt aus § 155 Abs. 1 Satz 1, 1. Alt. VwGO.
58Die Streitwertfestsetzung beruht auf den §§ 47 Abs. 1, 52 Abs. 1 und 2, 53 Abs. 2 GKG.
59Dieser Beschluss ist unanfechtbar.
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