Beschluss vom Oberverwaltungsgericht Nordrhein-Westfalen - 13 C 7/22 und 13 C 8/22
Tenor
Die im Rubrum aufgeführten Verfahren werden zur gemeinsamen Entscheidung verbunden.
Auf die Beschwerden der Antragsteller werden die Beschlüsse des Verwaltungsgerichts Gelsenkirchen vom 31. Mai 2022 geändert. Die Antragsgegnerin wird im Wege der einstweiligen Anordnung verpflichtet, die Antragsteller vorläufig zum Studium der Humanmedizin nach den Rechtsverhältnissen des WS 2021/2022 zuzulassen und die Antragsteller einzuschreiben, sofern sie innerhalb von 10 Werktagen nach Bekanntgabe der Zulassung durch Zustellung mit Postzustellungsurkunde bzw. durch Zustellung gegen Empfangsbekenntnis des bevollmächtigten Rechtsanwalts die Immatrikulation bei der Antragsgegnerin beantragen und sie die allgemeinen Immatrikulationsvoraussetzungen erfüllen.
Die Antragsgegnerin trägt die Kosten des Beschwerdeverfahrens. Die Kosten der erstinstanzlichen Verfahren tragen die Antragsteller jeweils zu 16/17 und die Antragsgegnerin zu 1/17.
Der Streitwert für das Beschwerdeverfahren wird für die Zeit bis zur Verbindung für jedes der verbundenen Verfahren auf 5.000 Euro und für die Zeit ab der Verbindung auf insgesamt 10.000 Euro festgesetzt.
1
G r ü n d e :
2Der Senat entscheidet über die auf dasselbe Ziel gerichteten Begehren der Antrag-steller gemäß § 93 Satz 1 VwGO in gemeinsamer Entscheidung.
3Die Beschwerden sind zulässig und begründet. Die zur Begründung der Beschwerden fristgemäß dargelegten Gründe, auf deren Prüfung der Senat nach Maßgabe von § 146 Abs. 4 Satz 6 VwGO beschränkt ist, rechtfertigen es, die angefochtenen Beschlüsse des Verwaltungsgerichts zu ändern. Die im vorliegenden einstweiligen Rechtsschutzverfahren vorzunehmende Prüfung ergibt, dass über die vom Verwaltungsgericht berechneten und bereits vergebenen Studienplätze hinaus zwei weitere nicht besetzte Studienplätze vorhanden sind. Insoweit haben die Antragsteller mit ihrem Beschwerdevorbringen sowohl einen Anordnungsanspruch als auch einen Anordnungsgrund glaubhaft gemacht (§ 123 Abs. 1 Satz 2 und Abs. 3 VwGO i.V.m. §§ 920 Abs. 2, 294 ZPO).
4Die Antragsteller rügen zu Recht den Ansatz eines Lehrdeputats in Höhe von fünf DS nach § 3 Abs. 1 Nr. 11 LVV NRW in der hier wegen § 5 Abs. 1 KapVO maßgeblichen bis zum 28. September 2021 geltenden Fassung der Zweiten Verordnung zur Änderung der Lehrverpflichtungsverordnung vom 1. Juli 2016 (GV. NRW. 526) - LVV NRW a.F.- für PD Dr. I. . Die Antragsgegnerin hat nicht schlüssig und in sich widerspruchsfrei aufgezeigt, dass diesem zu mindestens drei Vierteln der regelmäßigen Arbeitszeit Dienstaufgaben ohne Lehraufgaben obliegen (1.). Nach der Senatsrechtsprechung zu § 3 Abs. 1 Nr. 10, 11 LVV NRW a.F. hat dies einen Ansatz von vier zusätzlichen DS zur Folge (2.), was zu zwei zusätzlichen Studienplätzen führt, die an die Antragsteller vergeben werden können (3.).
51. Ausweislich der von der Antragsgegnerin übersandten Tätigkeitsbeschreibung vom 20. Juli 2021 obliegen PD Dr. I. Aufgaben zu 25 % im Bereich der Lehre , zu 45 % im Bereich des Managements und der Organisation der Lehre, zu 25 % im Bereich der Forschung und zu 5 % im Bereich der Arbeitssicherheit. Als Aufgaben im Bereich des Managements und der Organisation der Lehre werden u.a. die „Organisation, Durchführung und Korrektur von Klausuren und Prüfungen des Fachs“ angeführt. Die Antragsteller machen zu Recht geltend, dass die Durchführung und Korrektur von Klausuren der Lehre zuzuordnen sind.
6a) Zu den nicht in der Lehrverpflichtungsverordnung im Einzelnen definierten Lehraufgaben gehört die Abhaltung von Lehrveranstaltungen (insbes. Vorlesungen, Übungen, Seminare und Kolloquien), deren inhaltliche und methodische Ausgestaltung und die damit im Zusammenhang stehende oder auch auf andere Weise erfolgende Äußerung wissenschaftlicher Erkenntnisse.
7Vgl. BVerfG, Urteil vom 29. Mai 1973 - 1 BvR 424/71, 1 BvR 325/72 -, juris, Rn. 93 f.; von Coelln in: Leuze/Epping, Gesetz über die Hochschulen des Landes Nordrhein-Westfalen, 18. Lieferung 11.2020, § 3 HG NRW, Rn. 49; Geis in: Ehlers/Fehling/Pünder, Besonderes Verwaltungsrecht - Band 3, 4. Aufl. 2021, Vierzehntes Kapitel § 85 E. I. Lehre, Rn. 77.
8Zu den Lehraufgaben gehört zudem der für die Vor- und Nachbereitung der Lehrveranstaltung anfallende Aufwand. Dieser wird, da er je nach Veranstaltungsart sehr unterschiedlich sein kann (vgl. § 2 Abs. 2, 3, § 4 Abs. 2, 6 LVV NRW a.F. bzw. § 2 Abs. 2, 3, § 4 Abs. 2, 6 LVV NRW in der seit dem seit dem 1. Dezember 2021 geltenden Fassung der Vierten Verordnung zur Änderung der Lehrverpflichtungsverordnung vom 17. November 2021 (GV. NRW. S. 1222) - LVV NRW n.F. -), kapazitätsrechtlich über einen Anrechnungsfaktor bei der Bemessung des auf den Studiengang entfallenden Ausbildungsaufwands (vgl. § 13 KapVO) berücksichtigt. Spiegelbildlich fließen die Vor- und Nachbereitungszeiten in das nach der Lehrverpflichtungsverordnung für die Lehre maßgebliche Lehrdeputat ein.
9Prüfungen und Klausuren, die die Studierenden nach der Prüfungsordnung für den erfolgreichen Besuch der Lehrveranstaltung nachzuweisen haben, sind Bestandteil der Lehrveranstaltung.
10Vgl. entsprechend Bay. VGH, Beschluss vom 12. September 1984 - 7 CE 84 A. 1563 -, DÖV 1985, 496 (497), wonach Prüfungen als Kontrolle des Lernerfolgs in unmittelbaren Zusammenhang mit der Lehre stehen.
11Die damit im Zusammenhang stehenden Aufgaben (etwa die Klausurerstellung, die Klausuraufsicht und die Klausurkorrektur) gelten im Anwendungsbereich der Lehrverpflichtungsverordnung deshalb ebenfalls als Lehraufgabe.
12Vgl. demgegenüber zur Frage, ob die Abnahme von (Abschluss-)Prüfungen vom Begriff der wissenschaftlichen Lehre im Sinne des Art. 5 Abs. 3 GG umfasst ist und § 35 Abs. 1 HG NRW, insoweit als er die Abnahme von Prüfungen neben der Lehre als Aufgabe der Hochschullehrer ausdrücklich benennt, konstitutiv ist, einerseits Epping, in Leuze/Epping, Gesetz über die Hochschulen des Landes Nordrhein-Westfalen, 18. Lieferung November 2020, § 35 HG NRW, Rn. 123 f., m.w.N., der dies verneint, sowie andererseits Geis in: Ehlers/Fehling/Pünder, Besonderes Verwaltungsrecht - Band 3, 4. Aufl. 2021, Vierzehntes Kapitel § 85 E. I. Lehre, Rn. 79, wonach die Lehrfreiheit Prüfungstätigkeiten umfasst.
13Diese Einschätzung steht im Einklang mit § 4 Abs. 5 LVV NRW in der seit dem 29. September 2021 geltenden Fassung der Dritten Verordnung zur Änderung der Lehrverpflichtungsverordnung vom 8. September 2021 (GV. NRW. S. 1100), wonach der für die Betreuung von Studienabschlussarbeiten und vergleichbaren Studienarbeiten notwendige Aufwand bis zu einem Umfang von drei DS angerechnet werden kann. Im Gegensatz zu Ermäßigungen für Belastungen aufgrund der Wahrnehmung von Dienstaufgaben außerhalb der Lehre (vgl. § 5 LVV NRW a.F., n.F.), ermöglichen es die in der Lehrverpflichtungsverordnung vorgesehenen Anrechnungsmöglichkeiten besonderen Situationen innerhalb der Lehre Rechnung zu tragen, so etwa bezogen auf die Art der Veranstaltung (vgl. § 4 Abs. 2 LVV NRW a.F., n.F.: Vorlesungen, Übungen, Seminare, Kolloquien, Repetitorien, seminaristischer Unterricht, Praktika), die Lehrform (vgl. § 4 Abs. 6 und 7 LVV NRW n.F. für digital gestützte Lehrveranstaltungen, § 4 Abs. 6 LVV NRW a.F. für die Erstellung und Betreuung von Multimediaangeboten und von virtuell durchgeführten Lehrveranstaltungen) oder die Anzahl der beteiligten Lehrenden oder Lehreinheiten (§ 4 Abs. 4 LVV NRW a.F., n.F.).
14Ausgehend hiervon gehört die Durchführung und Korrektur von Klausuren und Prüfungen des Fachs zur Lehre. Diese Tätigkeiten werden von PD Dr. I. wahrgenommen. Dies hat die Antragsgegnerin in ihrem Schriftsatz vom 27. Juni 2022 bestätigt und dazu ausgeführt, dass dieser u.a. Klausurfragen eigenverantwortlich plane, erstelle und diese dann gemeinsam mit Prof. Dr. F. bzw. nach Abstimmung mit Prof. Dr. F. korrigiere.
15Warum die Antragsgegnerin im Übrigen die „Vorbereitung, Organisation und Durchführung der Klausuren Physiologie I (2. Sem.) und Physiologie III (4. Semester)“ in der Tätigkeitsbeschreibung für Prof. Dr. G. der Lehre zuordnet, diese Zuordnung für die nahezu wortgleich beschriebene Tätigkeit des PD Dr. I. hingegen nicht gelten soll, ist nicht nachvollziehbar. Ihre mit Schriftsatz vom 29. Juli 2022 erfolgten ergänzenden Erläuterungen, wonach die Tätigkeiten von PD Dr. I. bzgl. der Vorbereitung, Durchführung und Organisation der Klausuren weit über das hinausgingen, was Herr Prof. Dr. G. bzgl. der Vorbereitung, Durchführung und Organisation der Klausuren als Aufgaben wahrnehme, sind unergiebig. Sie zeigen zwar auf, dass dem PD Dr. I. weitergehende Verwaltungsaufgaben im Zusammenhang mit der Organisation, der Durchführung und der Auswertung der Klausuren im Fach medizinische Psychologie und Soziologie obliegen als Prof. Dr. G. . Hieraus folgt aber nicht, dass die Durchführung und Korrektur der Klausuren inhaltlich nicht mehr Tätigkeiten wären, die der Lehre zuzuordnen sind. Zu diesen Tätigkeiten des PD Dr. I. verhält sich der Schriftsatz der Antragsgegnerin im Übrigen auch nicht.
162. Nach der Senatsrechtsprechung zu § 3 Abs. 1 Nr. 11 LVV NRW a.F. ist die Ermäßigung des auf eine volle Stelle bezogenen Lehrdeputats von neun auf fünf DS nur gerechtfertigt, wenn eine einzelfallbezogene Betrachtung der den in § 3 Abs. 1 Nr. 11 LVV NRW benannten Personen zugewiesenen Aufgaben eine solche rechtfertigt. Ist dies - wie hier - nicht der Fall, bleibt es bei dem Grundsatz, dass sich das auf die Stelle entfallende Lehrdeputat - abstrakt - nach § 3 Abs. 1 Nr. 10 LVV NRW a.F. bestimmt und mit 9 DS anzusetzen ist.
17Vgl. OVG NRW, Beschluss vom 26. Mai 2021 - 13 C 5/21 -, juris, Rn. 11.
183. Daraus errechnen sich, die Parameter des Verwaltungsgerichts im Übrigen zugrunde gelegt, bei einem Curriculareigenanteil von 1,84 und einer Schwundquote von 0,96 anstelle der vom Verwaltungsgericht berechneten 346 Studienplätze 350 Studienplätze:
19(305,30 DS + 4 DS) x 2 = 618,6 DS
20618,6 DS: 1,84 = 336,19 (gerundet 336 Studienplätze)
21336 : 0,96 = 350 Studienplätze
22Vergeben hat die Antragsgegnerin nach den Feststellungen des Verwaltungsgerichts 348 Studienplätze, sodass weitere zwei Studienplätze zur Verfügung stehen, die vorläufig an die Antragsteller vergeben werden können. An dieser Vergabe sieht der Senat sich nicht durch § 33 Satz 4 VergabeVO NRW gehindert.
23Vgl. OVG NRW, Beschluss vom 19. Mai 2020 - 13 C 66/19 -, juris, Rn. 27.
24Auf die von den Antragstellern darüber hinaus erhobenen Rügen kommt es nach alldem nicht mehr an.
25Die Kostenentscheidung folgt für das Beschwerdeverfahren aus § 154 Abs. 1 VwGO und für das erstinstanzliche Verfahren aus § 155 Abs. 1 Satz 1 VwGO. Für das erstinstanzliche Verfahren ist es gerechtfertigt, die Verteilung der Kosten im Verhältnis des teilweisen Obsiegens und Unterliegens vorzunehmen und diese verhältnismäßige Teilung nach der Loschance auszurichten, das heißt dem Verhältnis der Anzahl der in das Losverfahren einzubeziehenden Antragsteller (34) und der errechneten weiteren Studienplätze außerhalb der festgesetzten Kapazität (2).
26Die Streitwertfestsetzung beruht auf §§ 47 Abs. 1, 53 Abs. 2 Nr. 1, 52 Abs. 2, 39 Abs. 1 GKG.
27Dieser Beschluss ist unanfechtbar.
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Referenzen
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- VwGO § 155 1x
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- §§ 47 Abs. 1, 53 Abs. 2 Nr. 1, 52 Abs. 2, 39 Abs. 1 GKG 4x (nicht zugeordnet)
- § 4 Abs. 4 LVV 1x (nicht zugeordnet)
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- VwGO § 93 1x
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- VwGO § 146 1x
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