Beschluss vom Oberverwaltungsgericht Rheinland-Pfalz (8. Senat) - 8 A 10043/13
Tenor
Der Antrag der Beklagten auf Zulassung der Berufung gegen das Urteil des Verwaltungsgerichts Mainz vom 21. November 2012 wird abgelehnt.
Die Beklagte hat die Kosten des Berufungszulassungsverfahrens zu tragen.
Der Wert des Streitgegenstandes für das Zulassungsverfahren wird auf 10.000,00 € festgesetzt.
Gründe
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Der Berufungszulassungsantrag ist nicht begründet.
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Der geltend gemachte Zulassungsgrund nach § 124 Abs. 2 Nr. 1 VwGO liegt nicht vor.
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Das Verwaltungsgericht hat der Anfechtungsklage gegen die mit Bescheid vom 20. September 2011 verfügte Rücknahme des positiven Bauvorbescheids vom 2. Februar 2011 im Wesentlichen mit der Begründung stattgegeben, dass die Beklagte nicht ermächtigt gewesen sei, den positiven Bauvorbescheid nach § 48 VwVfG i.V.m. § 1 Abs. 1 LVwVfG zurückzunehmen. Die Beklagte sei nicht befugt gewesen, die Rechtswidrigkeit des Bauvorbescheids mit der Begründung anzunehmen, der für die positive Bescheidung herangezogene Bebauungsplan „Münchfeld Teil II (H 28/II)“ sei hinsichtlich der Festsetzung der überbaubaren Grundstücksfläche im südöstlichen Teil funktionslos. Für eine dahingehende Annahme fehle es der Beklagten an der Normverwerfungskompetenz. Einer solchen Normverwerfungskompetenz bedürfe es auch für die auf Funktionslosigkeit bauplanerischer Festsetzungen beruhende Ungültigkeit des Bebauungsplans.
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1. Die gegen die Richtigkeit des Urteils des Verwaltungsgerichts geltend gemachten Gründe liegen nicht vor, weshalb der Berufungszulassungsantrag abzulehnen ist (§ 124 a Abs. 5 Satz 2 VwGO).
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Die Beklagte durfte von der Ermächtigung zur Rücknahme des positiven Bauvorbescheids deshalb keinen Gebrauch machen, weil sie gehindert war, sich auf die Ungültigkeit des Bebauungsplanes „Münchfeld Teil II (H 28/II)“ zu berufen und daraus die Rechtswidrigkeit des Bauvorbescheids vom 2. Februar 2011 herzuleiten.
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Es kann deshalb dahingestellt bleiben, ob die Festsetzung zur überbaubaren Grundstücksfläche im südöstlichen Teil des Bebauungsplans bei dessen Ausfertigung und erneuter Bekanntmachung im Jahr 1991 funktionslos war, wie die Beklagte vorträgt. Hiervon dürfte allerdings mit dem Verwaltungsgericht auszugehen sein, weil von der ursprünglichen – 1965 als Satzung beschlossenen - Festsetzung mit einem kleineren Baufenster für ein Wohngebäude sowie einem größeren und deutlich tieferen Baufenster für ein „Treibhaus“ durch die seit den 1970er Jahren vollzogene Errichtung von vier Wohnhäusern entlang des Wohnwegs so deutlich abgewichen wurde, dass der Bebauungsplan seine ursprüngliche Gestaltungsfunktion für diesen Planbereich nicht mehr erfüllen kann und auch ein dahingehendes Vertrauen nicht mehr schutzwürdig ist (vgl. zu den Voraussetzungen der Funktionslosigkeit: BVerwG, Beschluss vom 29. Mai 2001 - 4 B 33.01 -, NuR 2002, 218 und juris, Rn. 5).
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Dass die Beklagte sich im Rahmen ihrer Tätigkeit als Bauaufsichtsbehörde nicht auf die Ungültigkeit der bauleitplanerischen Festsetzung zur überbaubaren Grundstücksfläche berufen darf, ergibt sich aus der fehlenden behördlichen Normverwerfungskompetenz. Insofern hat auch die Beklagte den Grundsatz nicht in Frage gestellt, dass (Bauaufsichts-) Behörden eine Kompetenz zur inzidenten Verwerfung eines als rechtswidrig erkannten Bebauungsplans in aller Regel nicht zusteht. Gründe der Rechtssicherheit und Rechtsklarheit sowie die Beachtung der Planungshoheit der Gemeinden sprechen dafür, behördliche Normverwerfungskompetenzen allenfalls in engen Grenzen anzunehmen. Nach der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts kommt dies nur in Betracht, wenn die Behörde vor der Inzidentverwerfung zunächst die Gemeinde auf den erkannten Fehler hinweist, um ihr Gelegenheit zu geben, den Fehler zu heilen oder den Bebauungsplan aufzuheben; darüber hinaus kann eine (akzessorische) Normverwerfungskompetenz der Behörden dann angenommen werden, wenn ein Verwaltungsgericht die Satzung in einem Parallelprozess bereits als ungültig behandelt hat (vgl. BVerwG, Urteil vom 31. Januar 2001 - 6 CN 2.00 -, BVerwGE 112, 373 und juris, LS 2 und Rn. 25 f.; auch: BGH, Urteil vom 25. März 2004 - III ZR 227/02 -, DVBl. 2004, 947 [948]; ferner: OVG NRW, Urteil vom 30. Juni 2005 - 20 A 3988/03 -, NuR 2006, 191 [192 f.]).
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Entgegen der Auffassung der Beklagten bedarf es einer behördlichen Normverwerfungskompetenz nicht nur in Fällen anfänglicher Unwirksamkeit des Bebauungsplans infolge Verstoßes gegen zwingende Planungsschranken oder das Abwägungsgebot, sondern auch dann, wenn die Ungültigkeit einer bauplanerischen Festsetzung auf deren Funktionslosigkeit beruht. Der Senat teilt hierzu die Auffassung des Verwaltungsgerichts, dass es für die Frage der Verwerfungskompetenz für als ungültig erkannte Bebauungspläne auf den Grund der Ungültigkeit nicht ankommt (vgl. Jäde, in: Jäde/Dirnberger/Weiss, BauGB - BauNVO, 6. Aufl. 2010, § 30 Rn. 39).
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Soweit die Beklagte auf Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts verweist, wonach funktionslose bauplanerische Festsetzungen ipso iure, also kraft Gesetzes und ohne förmlichen Aufhebungsakt ungültig werden (vgl. BVerwG, Urteil vom 29. April 1977 - IV C 39.75 -, BVerwGE 54, 5 und juris, Rn. 34; Urteil vom 3. August 1990 - 7 C 41 bis 43.89 -, BVerwGE 85, 273 und juris, Rn. 16), rechtfertigt dies keine andere Beurteilung. Denn insofern hat die Beklagte lediglich auf die materielle Rechtsfolge bei Vorliegen der Voraussetzungen für die Funktionslosigkeit bauplanerischer Festsetzungen hingewiesen, die sich allerdings nicht von der Rechtsfolge im Falle eines ursprünglichen Verstoßes gegen höherrangiges Recht unterscheidet (vgl. Jäde, a.a.O., § 30 Rn. 31). Auch in diesem Fall tritt die Unwirksamkeit der bauplanerischen Festsetzung ipso iure ein, weshalb der Unwirksamkeitserklärung im Rahmen der abstrakten Normenkontrolle auch nur deklaratorische Wirkung zukommt (vgl. Ziekow, in: Sodan/Ziekow, VwGO, 3. Aufl. 2010, § 47, Rn. 355). Wie das Bundesverwaltungsgericht in dem zitierten Urteil vom 31. Januar 2001 bereits ausgeführt hat, ist die Frage der materiell-rechtlichen Nichtigkeitsfolge rechtserheblicher Mängel (oder - wie hier - der Funktionslosigkeit) eines Bebauungsplans von der Frage zu unterscheiden, wie Behörden vorzugehen haben, wenn sie überzeugt sind, ein für ihre Entscheidung erheblicher Bebauungsplan sei unwirksam (vgl. a.a.O., juris, Rn. 23). Die oben angeführten Gründe für eine nur auf Ausnahmen beschränkte Normverwerfungskompetenz der Behörden (Rechtssicherheit und Rechtsklarheit sowie Respekt vor dem Satzungsgeber) treffen auf Fälle der Ungültigkeit eines Bebauungsplans infolge Funktionslosigkeit indessen gleichermaßen zu. Dies gilt in besonderem Maße für einen Fall – wie hier -, bei dem der Bebauungsplan lange Jahre nach dem Satzungsbeschluss und zwischenzeitlicher Behebung eines Ausfertigungsmangels bereits mit funktionslosem Inhalt in Kraft getreten ist, also ebenfalls ein Fall anfänglicher Unwirksamkeit vorgelegen hat (vgl. hierzu: BVerwG, Beschluss vom 12. März 2008 - 4 BN 5.08 -, BauR 2008, 1417).
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Der Pflicht der Behörde zur vorherigen Unterrichtung der Gemeinde über die festgestellte Ungültigkeit der bauplanerischen Festsetzung entspricht in den Fällen, in denen die Gemeinde selbst Trägerin der Bauaufsichtsbehörde ist - wie hier -, deren Pflicht zur Unterrichtung des kommunalrechtlich für die Aufstellung der Bebauungspläne zuständigen Organs, hier also des Stadtrats. Da hier seitens der Bauaufsichtsbehörde der Beklagten eine solche Unterrichtung nicht erfolgt war, war sie nicht befugt, im Rahmen ihrer bauaufsichtlichen Tätigkeit von der Ungültigkeit des Bebauungsplans „Münchfeld Teil II (H 28/II)“ auszugehen. Sollte der Stadtrat der Beklagten im Nachgang zu diesem Rechtsstreit die hier umstrittene Festsetzung zur überbaubaren Grundstücksfläche aufheben, so bleibt es der Bauaufsichtsbehörde unbenommen, den Widerruf des positiven Bauvorbescheids vom 2. Februar 2011 nach § 49 Abs. 2 Satz 1 Nr. 4 VwVfG zu erwägen.
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2. Soweit die Beklagte schließlich sinngemäß einen Verfahrensmangel wegen unterbliebener notwendiger Beiladung der Nachbarin des Klägers im verwaltungsgerichtlichen Verfahren rügt, rechtfertigt auch dies nicht die Zulassung der Berufung nach § 124 a Abs. 2 Nr. 5 VwGO. Denn die Nachbarin war nicht notwendig beizuladen.
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Eine Pflicht zur Beiladung besteht nach § 65 Abs. 2 VwGO dann, wenn Dritte an dem streitigen Rechtsverhältnis derart beteiligt sind, dass die Entscheidung auch ihnen gegenüber nur einheitlich ergehen kann. Diese Voraussetzung liegt nur vor, wenn die begehrte Sachentscheidung des Gerichts nicht wirksam getroffen werden kann, ohne dass dadurch gleichzeitig und unmittelbar in Rechte der Dritten eingegriffen wird, d.h. ihre Rechte gestaltet, bestätigt oder festgestellt, verändert oder aufgehoben werden (vgl. BVerwG, Beschluss vom 9. Januar 1999 - 11 C 8.97 -, NVwZ 1999, 296 und juris, Rn. 2). Dies ist im Falle des Erlasses eines belastenden Verwaltungsakts - wie hier des Rücknahmebescheids - danach zu beurteilen, ob Adressat der behördlichen Entscheidung nur die von ihr belastete Person ist oder auch ein Dritter; ob die Behörde auch den Dritten zum Bescheid-Adressaten gemacht hat oder nicht, ist eine Frage der Auslegung des Bescheides, und zwar vorrangig des Bescheidtenors; diese Interpretation wird regelmäßig ergeben, dass der Dritte nicht Adressat der behördlichen Anordnung ist (vgl. Bier, in: Schoch/Schneider/Bier, VwGO, 24. EL. 2012, § 65 Rn. 20; Kopp/Schenke, VwGO, 18. Aufl. 2012, § 65 Rn. 17 [Fn. 37]).
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Die Beklagte hat im Tenor des Rücknahmebescheids vom 20. September 2011 nicht zu erkennen ergeben, dass sie mit der Rücknahme des Bauvorbescheids vom 2. Februar 2011 auch einem Begehren der Nachbarin nachkommen und deren Berechtigung anerkennen will. Zwar wird in der Begründung des Rücknahmebescheids von einer Verletzung der Nachbarin in ihrem subjektiven Recht auf Beachtung des Rücksichtnahmegebots ausgegangen. Der Bescheidtenor und der überwiegende Teil der Begründung sprechen indes für ein Vorgehen der Behörde zur Durchsetzung der objektiven Rechtslage. Die Begünstigung der Nachbarin stellt sich damit als Rechtsreflex dar, ohne dass sie ausdrücklich zum Adressaten der Verfügung gemacht worden wäre. Gegen die Annahme einer Abhilfeentscheidung zugunsten der Nachbarin spricht schließlich auch, dass sie die für die Rücknahme ausschlaggebende Frage der Vereinbarkeit des Bauvorhabens des Klägers mit den bauplanerischen Vorgaben zur überbaubaren Grundstücksfläche ausdrücklich nicht zum Gegenstand ihres Widerspruchs gegen den Bauvorbescheid gemacht hat (vgl. Protokoll der Sitzung des Stadtrechtsausschusses vom 29. Juli 2011, Bl. 215 der Behördenakte).
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Demzufolge hätte die Nachbarin (einfach) beigeladen werden können. Ein Fall notwendiger Beiladung und damit ein Verfahrensfehler des Verwaltungsgerichts lag indes nicht vor. Die Rechtsposition der Nachbarin bleibt von der letztlich aus formalen Gründen (fehlende Normverwerfungskompetenz) erfolgten Aufhebung des Rücknahmebescheids unberührt, da ihr Widerspruchsverfahren gegen den positiven Bauvorbescheid vom 2. Februar 2011 weiterhin anhängig ist.
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Die Kostenentscheidung folgt aus § 154 Abs. 2 VwGO.
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Die Festsetzung des Streitwertes beruht auf §§ 47, 52 GKG.
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Referenzen
- VwVfG § 48 Rücknahme eines rechtswidrigen Verwaltungsaktes 1x
- VwGO § 124a 2x
- VwGO § 124 1x
- VwGO § 65 1x
- § 1 Abs. 1 LVwVfG 1x (nicht zugeordnet)
- VwGO § 154 1x
- 20 A 3988/03 1x (nicht zugeordnet)
- VwVfG § 49 Widerruf eines rechtmäßigen Verwaltungsaktes 1x
- §§ 47, 52 GKG 2x (nicht zugeordnet)
- III ZR 227/02 1x (nicht zugeordnet)