Urteil vom Oberverwaltungsgericht Rheinland-Pfalz (1. Senat) - 1 A 10677/15

Die Berufungen werden zurückgewiesen.

Der Beklagte und die Beigeladene tragen die Kosten des Berufungsverfahrens je zur Hälfte.

Das Urteil ist wegen der Kosten vorläufig vollstreckbar.

Die Revision wird nicht zugelassen.

Tatbestand

1

Die Beteiligten streiten um die Rechtmäßigkeit eines Enteignungsbeschlusses.

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Der Kläger ist Eigentümer der benachbarten und einheitlich genutzten Grundstücke Gemarkung G…, Flur ..., Parzellen Nrn. .../. und ... Die beiden mit zwei Mehrfamilienwohnhäusern bebauten Grundstücke liegen in einem Bereich, für den kein Bebauungsplan besteht. Das im südlichen Bereich beider Grundstücke befindliche Gebäude Ü… Straße ... wurde im Jahre 1983 genehmigt; nach den Bauzeichnungen, die Bestandteil dieser Genehmigung sind, sollen auf den genannten Grundstücken nördlich des Gebäudes vier Stellplätze und südlich ein Kinderspielplatz angelegt werden. Tatsächlich wurden nördlich dieses Gebäudes zwei Garagen und südlich hiervon unmittelbar an der Ü... Straße eine Stellplatzfläche für vier Pkw errichtet.

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Der Ortsgemeinderat der Beigeladenen beschloss im Juni 2006, die Ü…-straße in drei Abschnitten ausbauen zu lassen. Um die Ü... Straße im 2. Teilabschnitt entsprechend der Ausbauplanung verbreitern zu können, bat die Beigeladene den Kläger um die Überlassung von Teilflächen seiner Grundstücke gegen Zahlung von 15,00 €/m². Dies lehnte der Kläger mit der Begründung ab, er müsse diese Flächen behalten, um sie seinen Mietern als Stellplatzfläche zur Verfügung stellen zu können.

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Daraufhin beantragte die Beigeladene mit Schreiben vom 5. Juli 2013 und vom 31. Oktober 2013 die Durchführung eines Enteignungsverfahrens. Da eine Einigung über mögliche Alternativen zwischen dem Kläger und der Beigeladenen nicht zustande kam, wurden die Träger öffentlicher Belange beteiligt und ein Gutachten des örtlich zuständigen Gutachterausschusses zum Wert der abzugebenden Teilflächen und etwaiger zu entschädigender sonstiger Vermögensnachteile eingeholt. Am 12. März 2014 fand ein Erörterungstermin statt, in dessen Verlauf der Ortsbürgermeister der Beigeladenen erklärte, es sei geplant, die Ü... Straße auf das Mindestmaß von 5,50 m auszubauen, um einen geordneten Winterdienst oder eine gefahrenlose Müllabfuhr zu gewährleisten.

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Mit Enteignungs- und Entschädigungsfeststellungsbeschluss vom 10. November 2014 ordnete der Beklagte unter Nr. I. an, dem Kläger zugunsten der Beigeladenen das Eigentum an den Grundstücken Gemarkung G…, Flur ..., Parzellen Nr. .../. und ... teilweise zu entziehen, wobei sich die genaue Lage und Größe zweier zu diesem Zweck neu gebildeter Teilflächen Nr. .../A mit einer Größe von ca. 4,5 m² sowie Nr. .../A mit einer Größe von ca. 7,3 m² aus einem beigefügten Lageplan und einem Vermessungsriss ergeben. Mit der Nr. II. wurde eine vorläufige Besitzeinweisung ausgesprochen. Zudem wurden unter III. und IV. die Entschädigungen für den Eigentumsentzug auf 354,00 € und für vorläufige Besitzeinweisung auf 200,00 € festgesetzt. Zur Begründung hieß es im Wesentlichen, Rechtsgrundlage für die Enteignung sei § 2 Nr. 1 des Landesenteignungsgesetz (LEG). Nach der Rechtsprechung des BGH (Urteil vom 1. Juni 1978 – III ZR 170/76 –, juris) dürfe das Vorhaben verwirklicht werden, ohne dass zuvor ein Bebauungsplan erlassen werden müsse. Bundesrecht sei nicht anwendbar. Die Verbreiterung der Ü... Straße diene dem Allgemeinwohl. Sie sei zur Gewährleistung eines geordneten Winterdienstes und einer problemlosen Müllabfuhr sinnvoll. Der Versprung der Straße auf Höhe der Parzellen des Klägers, wie von diesem gefordert, erscheine als undienlich.

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Nach Zustellung dieses Beschlusses am 12. November 2014 hat der Kläger am 12. Dezember 2014 Klage erhoben. Er hat im Wesentlichen geltend gemacht, der Enteignungsbeschluss verstoße gegen Art. 14 des Grundgesetzes (GG). Die Rechtsgrundlage für die Enteignung begegne verfassungsrechtlichen Bedenken. Es wäre durchaus möglich, die Linienführung der Straße so zu wählen, dass in die Genehmigung zur Anlegung des Kinderspielplatzes nicht eingegriffen werde. Er, der Kläger, könne durch die unverhältnismäßige Enteignung nicht mehr seine Stellplatzverpflichtung erfüllen. Überdies sähen die einschlägigen Richtlinien durchaus geringere Straßenquerschnitte vor.

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Der Beklagte hat unter anderem vorgetragen, die Enteignung auf der Grundlage einer Ausführungsplanung begegne keinen verfassungsrechtlichen Bedenken.

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Die Beigeladene hat ausgeführt, sie sei nicht zur Durchführung einer Bauleitplanung verpflichtet, da ein Erfordernis hierfür nach § 1 Abs. 3 Baugesetzbuch (BauGB) nicht bestehe. Die Ermächtigungsgrundlage des § 2 Nr. 1 LEG sei hinreichend bestimmt.

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Das Verwaltungsgericht Koblenz hat der Klage durch Urteil vom 28. Mai 2015 stattgegeben und die Ziffern I. und II. des Enteignungs- und Entschädigungsbeschlusses vom 10. November 2014 aufgehoben. Zur Begründung heißt es im Wesentlichen, der Beklagte habe die Enteignung der beiden neugebildeten Teilflächen Parzellen Nrn. .../A und .../A nicht aufgrund des § 2 Nr. 1 LEG verfügen dürfen, da diese Vorschrift hier von den §§ 85ff. BauGB verdrängt werde. Die Verbreiterung der Ü... Straße diene der Verfestigung der Erschließungsfunktion dieser Verkehrsanlage und sei somit eine Maßnahme von städtebaulicher Relevanz. Die beigeladene Gemeinde habe daher gemäß § 1 Abs. 3 BauGB einen Bebauungsplan erlassen müssen.

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Selbst wenn man dies anders bewerten wolle, rechtfertige § 2 Nr. 1 LEG nicht die angegriffene Enteignung. Der Ausbau des 2. Teilabschnittes der Ü... Straße stelle, auch wenn die Gemeindestraße dem Allgemeinwohl diene, für sich genommen kein Unternehmen dar, das Gegenstand einer Enteignung aufgrund landesrechtlicher Vorschriften sein könne. Eine Enteignung erfordere nach Art. 14 Abs. 3 GG einen behördlichen Vollzugsakt, der mit Rechtsmitteln angefochten werden könne. Die Festsetzung eines Ausbauprogramms durch einfachen Beschluss des Ortsgemeinderates der Beigeladenen genüge daher nicht.

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Gegen dieses Urteil hat der Beklagte fristgerecht Berufung eingelegt und begründet. Er führt im Wesentlichen aus, die beigeladene Gemeinde habe – abgesehen von der Verbreiterung der Straße – keine von der bisherigen Straßengestaltung abweichenden städtebaulichen Vorstellungen gehabt. Ein Planungsbedürfnis, das sich zu einer Planungspflicht verdichtet hätte, habe daher nicht vorgelegen. Der Gemeinde müsse daher das Enteignungsrecht auf der Basis des § 2 Nr. 1 LEG zugestanden werden. Gerade für Fälle dieser Art sei die genannte Vorschrift geschaffen worden. Sinn, Gehalt und Anwendungsbereich dieser gesetzlichen Grundlage würden ausgehöhlt, würde man sie im vorliegenden Fall, in dem ein Planerfordernis zu verneinen sei, nicht für anwendbar halten. § 2 LEG habe die Funktion einer Auffangvorschrift, wenn spezialgesetzliche Enteignungsvorschriften den jeweiligen Fall nicht erfassen und daher nicht eingreifen könnten.

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Die beigeladene Ortsgemeinde hat ebenfalls Berufung eingelegt. Sie macht im Wesentlichen geltend, wenn die Erforderlichkeit einen Bebauungsplan aufzustellen nicht vorliege, bestehe weder eine Planungspflicht noch eine Befugnis zur Planung. Hinsichtlich der Erforderlichkeit der Planung stehe der Gemeinde ein sehr weites planerisches Ermessen zu. Das Verwaltungsgericht ersetze mit seiner Entscheidung die städtebaulichen Vorstellungen der Gemeinde durch eigene, um daraus eine Planungspflicht abzuleiten. Eine städtebauliche Erforderlichkeit für die isolierte Straßenplanung durch Bebauungsplan lasse sich so nicht begründen. Es sei nicht nachvollziehbar, wie sich aus einer „Verfestigung der Erschießungsfunktion dieser Verkehrsanlage“ eine Maßnahme von städtebaulicher Relevanz ableiten lasse. Zwar eröffne § 1 Abs. 3 Satz 1 BauGB der Gemeinde auch die Möglichkeit, das bauplanungsrechtliche Festsetzungsinstrumentarium für eine städtebaulich begründete eigene „Verkehrspolitik“ zu nutzen, jedoch gehe es vorliegend gerade nicht darum Verkehrspolitik zu betreiben, etwa indem eine neue Ortsentlastungsstraße geplant werde, sondern allein darum, eine bereits bestehende Straße für die aktuellen Verkehrsbedürfnisse zu verbreitern. Entgegen den Ausführungen des Verwaltungsgerichts sei auch eine Enteignung nach § 2 Nr. 1 LEG möglich. Es bestehe kein verfassungsrechtliches Erfordernis eines doppelten verwaltungsgerichtlichen Rechtsschutzes. Auch nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts sei keineswegs ein dem administrativen Enteignungsbeschluss vorgelagerter, ebenfalls mit Rechtsmittelbelehrung angreifbarer zweiter behördlicher Vollzugsakt erforderlich.

13

Das Landesstraßengesetz enthalte keine abschließende Regelung der Enteignung zum Zwecke der Anlegung und der Änderung von Gemeindestraßen. Nach § 9 Abs. 1 LStrG sei zugunsten des Trägers der Straßenbaulast die Enteignung zulässig, soweit sie zur Ausführung eines festgestellten Planes notwendig sei. Die Planfeststellung sei im Landesstraßengesetz jedoch nur für den Bau oder die Änderung neuer Landesstraßen oder Kreisstraßen zwingend vorgeschrieben. Für Gemeindestraße bedürfe es dagegen grundsätzlich keiner Planfeststellung.

14

Der Beklagte und die Beigeladene beantragen jeweils,

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das Urteil des Verwaltungsgerichts Koblenz vom 28. Mai 2015 aufzuheben und die Klage abzuweisen.

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Der Kläger beantragt,

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die Berufungen zurückzuweisen.

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Er macht im Wesentlichen geltend, § 85 BauGB sei nichts anderes als eine Umformung des Art. 14 Abs. 3 GG. Bei einer Enteignung nach den Fachnormen, wie z.B. nach § 85 BauGB, bestehe die Möglichkeit, die Grundlagen der Fachplanung anzugreifen und in einem weiteren Verfahren die Enteignung selbst. Die Schlechterstellung des effektiven Rechtsschutzes gegenüber Fachplanungen durch das Landesenteignungsgesetz sei rechtlich bedenklich, sodass dieses restriktiv auszulegen sei. Die Erforderlichkeit eines Bebauungsplanes dürfe nicht mit einer Planungspflicht verwechselt werden. Selbst wenn man unterstelle, § 2 Nr. 1 LEG sei eine ausreichende Rechtsgrundlage, entsprechende die Enteignung hier nicht dem Wohl der Allgemeinheit. Das Wohl der Allgemeinheit verlange keine militärisch ausgerichteten Straßen, sondern es könne auch hingenommen werden, dass die Straßenbreiten einer einzelnen Straße sehr unterschiedlich sein und auf die städtebaulich vorhandenen Gegebenheiten Achtung nehmen könnten.

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Die weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes ergeben sich aus den zu den Gerichtsakten gereichten Schriftsätze der Beteiligten sowie aus dem Inhalt der vorliegenden Verwaltungsakten (1 Halbordner, 4 Hefter).

Entscheidungsgründe

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Die zulässigen Berufungen haben in der Sache keinen Erfolg. Das Verwaltungsgericht hat den angefochtenen Enteignungs- und Entschädigungsbeschluss im Ergebnis zu Recht aufgehoben.

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Die Enteignungsbehörde hat die Anwendung der §§ 85 ff BauGB zwar zutreffend als „nicht geboten“ betrachtet (1.), für den hier angegriffenen Enteignungsbeschluss fehlt es aber an einer hinreichenden Ermächtigungsgrundlage, insbesondere kann dieser nicht auf § 2 Nr. 1 des Landesenteignungsgesetzes – LEG – gestützt werden (2.).

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1. Das städtebauliche Enteignungsrecht der §§ 85 ff BauGB verdrängt hier entgegen den Überlegungen des Verwaltungsgerichts nicht die landesrechtlichen Be-stimmungen über die Enteignung.

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Nach § 85 Abs. 1 Nr. 1 BauGB kann enteignet werden, um entsprechend den Festsetzungen des Bebauungsplans ein Grundstück zu nutzen oder eine solche Nutzung vorzubereiten. Ergänzend bestimmt § 85 Abs. 2 Nr. 1 BauGB, dass die Vorschriften über eine Enteignung zu anderen als den in Abs. 1 genannten Zwecken unberührt bleiben. Eine städtebauliche Enteignung findet daher statt und schließt die Enteignung auf landesrechtlicher Rechtsgrundlage dem Wortlaut des Gesetzes nach dann aus, wenn enteignet werden soll, „…um … entsprechend den Festsetzungen des Bebauungsplanes ein Grundstück zu nutzen oder eine solche Nutzung vorzubereiten,…“. Für die Sperrwirkung des § 85 Abs. 2 Nr. 1 i.V.m. Abs. 1 Nr. 1 BauGB ist mithin allein maßgeblich, ob enteignet werden soll, um die im Bebauungsplan festgesetzte Nutzung zu verwirklichen (BVerwG, Urt. v. 20. Dezember 2012 – 4 B 6/11 –, juris). Ein Enteignungszweck, „um entsprechend den Festsetzungen eines noch nicht erlassenen, aber nach § 1 Abs. 3 BauGB gebotenen Bebauungsplanes ein Grundstück zu nutzen“ ist in § 85 Abs. 1 Nr. 1 BauGB nicht "genannt". Da vorliegend ein Bebauungsplan nicht erlassen worden ist, muss daher geschlossen werden, dass eine Enteignung gemäß § 85 Abs.1 BauGB nicht möglich ist.

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Diese auf den Wortlaut gestützte Auslegung entspricht auch dem Sinn und Zweck der Vorschriften über die städtebauliche Enteignung. Der in der Literatur vertretenen erweiternden Auslegung des § 85 Abs. 2 Nr. 1 i. V. m. Abs. 1 Nr. 1 BauGB dahin, dass eine Enteignung nach Landesrecht auch dann ausgeschlossen ist, wenn ein Bebauungsplan zwar nicht erlassen, aber erforderlich i.S. des § 1 Abs. 3 BauGB ist (vgl. Runkel in Ernst/Zinkahn/Bielenberg/Krautzberger, BauGB § 85 Rn. 176,177; Halama, Berliner Kommentar zum BauGB § 85 Rn. 97; Battis in Battis/Krautzberger/Löhr, § 85 Rn. 9), kann sich der Senat daher nicht anschließen. Sinn und Zweck des § 85 Abs. 1 Nr. 1 BauGB bestehen darin, die Enteignung nur für solche Nutzungen zuzulassen, die mit den Festsetzungen des Bebauungsplanes übereinstimmen. Zur Verwirklichung welcher konkreten Nutzungen auf der Grundlage des § 85 Abs. 1 Nr. 1 BauGB enteignet werden darf, soll die planende Gemeinde durch die Festsetzungen des Bebauungsplans verbindlich festlegen. Durch diese strenge Planakzessorietät wollte sich der Gesetzgeber ersparen, die einzelnen zulässigen Enteignungszwecke enumerativ aufzählen zu müssen (vgl. Regierungsentwurf eines Bundesbaugesetzes, Begründung zu § 96, BT-Drs. 3/336, S. 88).

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Ohne einen Bebauungsplan fehlt es an einer verbindlichen Festlegung des die Enteignung rechtfertigenden Zwecks. Würde § 85 Abs. 2 Nr. 1 i.V.m. Abs. 1 Nr. 1 BauGB so ausgelegt, dass bei Planerforderlichkeit auch ohne Bebauungsplan enteignet werden kann, würde dies dazu daher führen, dass der Enteignungsbehörde die Befugnis eingeräumt würde über den Enteignungszweck im Einzelfall zu entscheiden; der zulässige Enteignungszweck wäre nicht gesetzlich festlegt. Eine solche Auslegung wäre aber mit Art. 14 GG nicht zu vereinbaren (vgl. BVerfG, Urteil vom 17. Dezember 2013 – 1 BvR 3139/08, 1 BvR 3386/08–, Garzweiler II, BVerfGE 134, 242f; BVerfG, Urteil vom 24. März1987 – 1 BvR 1046/85 –, Boxberg, BVerfGE 74, 264ff.; BVerwG, Urteil vom 15. Februar 1990 – 4 C 47/89 –, BVerwGE 84, 361ff.).

26

2. Die hier angegriffene Enteignung findet ihre Rechtsgrundlage auch nicht in § 2 Nr. 1 und § 4 LEG oder in einer anderen landesrechtlichen Vorschrift.

27

Insoweit ist zunächst zu berücksichtigen, dass der Landesgesetzgeber mit § 9 LStrG eine spezialgesetzliche Regelung zur Zulässigkeit von Enteignungen zur Erfüllung der Aufgaben aus der Straßenbaulast getroffen hat, die die allgemeinen Regelungen des Landesenteignungsgesetzes verdrängt (so ohne näherer Begründung: Beschluss des Senats vom 21. August 2013 – 1 A 10727/13.OVG –). Dem liegen folgende Überlegungen zugrunde:

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§ 9 LStrG sieht abschließend zwei Enteignungstatbestände vor, die Enteignung zur Ausführung eines festgestellten oder genehmigten Planes und die Enteignung in Fällen unwesentlicher Bedeutung (a.). Die enteignungsrechtliche Generalklausel des § 2 Nr. 1 i.V.m. § 4 LEG ist nicht geeignet, als subsidiäre Enteignungsgrundlage zu dienen (b.).

29

a. Nach § 9 Abs. 1 Satz 1 LStrG ist eine Enteignung zugunsten des Trägers der Straßenbaulast zulässig, soweit sie zur Ausführung eines festgestellten oder genehmigten Planes notwendig ist. Der Gesetzgeber ermächtigt somit nach dem Wortlaut der Vorschrift die Enteignungsbehörde zum Zugriff auf das Eigentum von Betroffenen zugunsten des Straßenbaulastträgers nur sofern und soweit ein Planfeststellungsbeschluss oder eine Plangenehmigung vorliegt, durch den bzw. durch die die für die Ausführung des Vorhabens notwendigen und für eine etwaige Enteignung in Frage kommenden Grundstücke bestimmt werden (vgl. BVerfG, Urteil vom 10. März 1981 – 1 BvR 92/71, 1 BvR 96/71–, Dürkheimer Gondelbahn, BVerfGE 56, 249 ff.). Daraus muss geschlossen werden, dass das Gesetz für den Bau und die Änderung von Straßen im nichtförmlichen Verfahren, wie sie hier im Streit steht, die Möglichkeit der Enteignung grundsätzlich nicht vorgesehen hat.

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Neben diesem Junktim zwischen Planfeststellung bzw. Plangenehmigung und Enteignung ergibt sich aus dem systematischen Zusammenhang mit § 5 Abs. 1 Satz 1 und Abs. 3 LStrG eine weitere Einschränkung der Ermächtigung zur Enteignung. Da dort – soweit nicht ausnahmsweise gemäß § 5 Abs. 5 LStrG die Durchführung einer Planfeststellung für den Bau einer Gemeindestraße angeordnet worden ist – die Planfeststellung oder Plangenehmigung nur für Landes- und Kreisstraßen vorgesehen ist, enthält § 9 Abs. 1 Satz 1 i.V.m. § 5 Abs. 1 Satz 1 LStrG eine grundsätzliche Beschränkung des Enteignungszwecks auf den Bau oder die Änderung von Landes- und Kreisstraßen. Für den Bau und die Änderung von Gemeindestraßen ist, abgesehen von der vorerwähnten Ausnahme, eine Enteignung danach nicht zugelassen.

31

Die Regelung des § 9 Abs. 1 Satz 1 LStrG wird ergänzt durch § 9 Abs. 2 LStrG, wonach ein Enteignungsverfahren auch durchgeführt werden kann, soweit die Planfeststellung und die Plangenehmigung nach § 5 Abs. 4 LStrG entfallen ist. Diese Ausnahme von den in § 9 Abs. 1 Satz 1 LStrG vorgesehenen Grundsätzen „Enteignung nur auf der Grundlage einer Planfeststellung oder Plangenehmigung“ und „Enteignung nur zum Zwecke des Baus oder der Änderung von Landes- und Kreisstraßen“ gilt nur in den Fällen unwesentlicher Bedeutung. Eine Enteignung ist dann nur möglich, wenn die oberste Straßenbaubehörde die Zulässigkeit der Enteignung festgestellt hat.

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Da somit nach dem Wortlaut des § 9 Abs. 1 Satz 1 und Abs. 2 LStrG und unter Berücksichtigung des Zusammenhangs mit § 5 Abs. 1 Satz 1 und Abs. 3 LStrG die Enteignung allein zur Ausführung eines festgestellten oder genehmigten Planes für eine Landes- oder Kreisstraße und in Fällen unwesentlicher Bedeutung mit einer besonderen Zustimmung zulässig ist, fehlt es an einer Ermächtigung für die hier in Streit stehende Enteignung zum Zwecke des Baus und der Änderung einer Gemeindestraße ohne förmliches Verfahren.

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Diese Auslegung entspricht auch dem Sinn und Zweck des Gesetzes, wie er in der Begründung der Regierungsvorlage zum Entwurf eines Landesstraßengesetzes vom 5. Juli 1962, LT-Drs. zur 3. WP, Abteilung II S. 3790) zum Ausdruck kommt. Dort heißt es:

34

„…Deshalb wird die Zulässigkeit der Enteignung bereits im Gesetz festgestellt, soweit die Enteignung zur Ausführung eines festgestellten Planes zulässig ist. Hieraus folgt, daß die Zulässigkeit der Enteignung im Einzelfalle durch die oberste Straßenbaubehörde festgestellt werden muss, wenn ein Planfeststellungsverfahren nicht durchgeführt wurde…“

35

Dies spricht dafür, dass die Enteignung nur zugelassen werden sollte, soweit entweder ein Planfeststellungsbeschluss oder in einem Fall unwesentlicher Bedeutung die Genehmigung der obersten Straßenbaubehörde vorliegt.

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b. Der Senat hat erwogen, ob die Regelungen in § 9 Abs. 1 Satz 1, Abs. 2 LStrG entgegen den vorstehenden Überlegungen nicht abschließend sein könnten und § 9 Abs. 12 LStrG die subsidiäre Heranziehung der Bestimmungen des LEG für die Enteignung aufgrund einer nichtförmlichen Straßenplanung zum Zwecke des Baus einer Gemeindestraße ermöglicht. Dies ist aber nicht der Fall.

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Insoweit ist zunächst zu berücksichtigen, dass dem Gesetzgeber die Möglichkeit einer nichtförmlichen Planung von Gemeindestraßen durchaus bekannt war. Nach § 5 Abs. 5 LStrG ist den Gemeinden die Befugnis eingeräumt für die Durchführung von Baumaßnahmen bei Gemeindestraßen, die nicht im Geltungsbereich eines Bebauungsplanes oder eines Flurbereinigungsplanes gelegen sind, bei Vorliegen weiterer Voraussetzungen nach ihrem Ermessen ein Planfeststellungsverfahren zu beantragen. Die nichtförmliche Planung für die Durchführung von Baumaßnahmen bei einer Gemeindestraße wird daher vom Gesetz vorausgesetzt. Wäre die Ermächtigung für eine Enteignung in derartigen Fällen beabsichtigt gewesen, wäre es naheliegend gewesen, in § 9 Abs. 1 LStrG nicht nur die Landes- und Kreisstraßen, sondern auch die Gemeindestraßen aufzuführen, wie dies etwa in § 42 Abs. 1 des Niedersächsischen Straßengesetzes für Gemeindestraßen im Außenbereich geschehen ist oder die Enteignung generell zur Erfüllung der Aufgaben aus der Straßenbaulast zuzulassen (vgl. Art. 40 des Bayerischen Straßen- und Wegegesetzes – BayStrWG –). Dies ist aber nicht geschehen. Die Übertragung der Straßenbaulast für Gemeindestraßen auf die Gemeinden (vgl. § 14 LStrG) beinhaltet entgegen den Überlegungen der Beigeladenen keine Ermächtigung zur Enteignung; die umfasst gemäß § 11 Abs. 1 LStrG den Bau und die Erneuerung einer Straße und bezieht sich daher nicht auf dem Verkehr nicht gewidmete Grundstücke Dritter.

38

Wenn § 9 Abs. 12 LStrG so ausgelegt würde, dass auch eine Enteignung in Fällen nichtförmlicher Planung von Gemeindestraßen möglich wäre, ergäben sich auch unauflösbare Wertungswidersprüche. Bei einem solchen Verständnis des Gesetzes wäre nämlich die Enteignung zugunsten des Straßenbaulastträgers bei Landes- und Kreisstraßen an eine vorherige Planfeststellung oder Plangenehmigung gebunden. Im Falle der in seinen Auswirkungen für die Betroffenen gleichermaßen gravierenden Enteignung zum Zwecke des Baus von Gemeindestraßen wäre die Enteignung dagegen ohne weiteres zulässig. Ferner müsste dann festgestellt werden, dass das Gesetz in § 9 Abs. 2 LStrG für die Fälle unwesentlicher Bedeutung – die abgesehen von weiteren Voraussetzungen dann vorliegen, wenn Rechte anderer nicht beeinflusst werden (vgl. § 5 Abs. 4 Satz 2 Nr. 3 Alt. 1 LStrG) – die besondere Voraussetzung der Feststellung der Zulässigkeit durch die oberste Straßenbaubehörde vorgesehen, für die viel weitergehende Enteignung zum Zwecke des Baus von Gemeindestraßen dagegen keine Voraussetzungen normiert hat. Dass der Gesetzgeber eine derartige nicht nachvollziehbare und inkonsistente Regelung getroffen haben könnte, erscheint nicht naheliegend.

39

Der Annahme, dass sich die Möglichkeit einer Enteignung in Fällen nichtförmlicher Planung von Gemeindestraßen aus § 9 Abs. 12 LStrG i.V.m. den Bestimmungen des Landesenteignungsgesetzes ergibt, wäre schließlich auch unvereinbar mit Art. 14 Abs. 3 Satz 2 GG. Danach ist es dem Gesetzgeber vorbehalten, zu bestimmen, unter welchen Voraussetzungen und für welche Zwecke eine Enteignung zulässig sein soll (vgl. BVerfG, Urteil vom 10. März 1981, a.a.O.). Wie sich aus den vorstehenden Ausführungen ergibt, fehlt es aber im Landesstraßengesetz an einer Regelung des Inhalts, dass – abgesehen von der städtebaulichen Enteignung auf der Grundlage eines Bebauungsplanes – eine Enteignung auch für den Bau von Gemeindestraßen möglich sein soll. Die Auslegung des § 9 Abs. 12 LStrG i.V.m. dem Landesenteignungsgesetz im Sinne einer Enteignungsauffangnorm würde daher bewirken, dass die Enteignung gestattet wäre, um "ein dem Wohl der Allgemeinheit dienendes Vorhaben" zu verwirklichen (§ 2 Nr. 1 und § 4 LEG). Damit wäre aber weder das Vorhaben, für das die Enteignung zugelassen werden soll, noch das die Enteignung rechtfertigende Wohl der Allgemeinheit gesetzlich näher präzisiert, sondern eine administrative Zweckfestlegung ermöglicht worden. Eine solche Regelung, mit der nur der Wortlaut des Grundgesetzes wiederholt wird, würde daher die dem Gesetzgeber vorbehaltene Konkretisierungsaufgabe verfehlen (vgl. BVerfG, Urteil vom 17. Dezember 2013, a.a.O.). § 9 Abs. 12 LStrG kann daher verfassungskonform nur so ausgelegt werden, dass die Bestimmungen des LEG ergänzend heranzuziehen sind, soweit eine gesetzlich zulässige Enteignung durchgeführt werden soll.

40

Nach alledem fehlt es auch an einer landesrechtlichen Ermächtigungsgrundlage für die hier ausgesprochene Enteignung. Soweit der Beklagte und die Beigeladene geltend machen, es sei misslich und führe zu einem unangemessenen Aufwand, wenn eine Gemeinde selbst bei einem Ausbau von Gemeindestraßen, der nur in geringem Umfang private Flächen in Anspruch nehme, stets gezwungen sei, einen Bebauungsplan zu erlassen, mag das zutreffen. Dem gegenzusteuern ist aber nicht Aufgabe des Gerichts, das sich an dem geltenden Recht orientieren muss. Hier Abhilfe zu schaffen obliegt vielmehr dem Gesetzgeber, der etwa das Landesstraßengesetz um den Enteignungszweck „Bau und Änderung von Gemeindestraßen“ erweitern könnte (vgl. etwa Art. 40 des Bayerischen Straßen- und Wegegesetzes).

41

Ist danach die Enteignung rechtswidrig, so liegen, wie bereits das Verwaltungsgericht zutreffend ausgeführt hat, auch die Voraussetzungen für eine vorläufige Besitzeinweisung nicht vor.

42

Die Kostenentscheidung beruht auf § 154 Abs. 2 VwGO.

43

Die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit des Urteils wegen der Kosten folgt aus § 167 VwGO i.V.m. §§ 708 Nr. 10 ZPO.

44

Die Revision wird nicht zugelassen, weil Gründe der in § 132 Abs. 2 VwGO bezeichneten Art nicht vorliegen.

Beschluss

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Der Wert des Streitgegenstandes wird auf 554,00 € festgesetzt (§§ 63 Abs. 2, 52 Abs. 1 GKG).

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