Beschluss vom Oberverwaltungsgericht des Saarlandes - 1 B 5/20

Tenor

Unter Abänderung des Beschlusses des Verwaltungsgerichts des Saarlandes vom 23. Dezember 2019 - 5 L 1926/19 - wird die aufschiebende Wirkung der Klage des Antragstellers gegen den Bescheid des Antraggegners vom 23.08.2019 wiederhergestellt.

Der Antragsgegner trägt die Kosten des Verfahrens erster und zweiter Instanz.

Der Streitwert wird auch für das Beschwerdeverfahren auf 1.800,- EUR festgesetzt.

Gründe

I.

Hinsichtlich des vom Antragsteller gehaltenen Kraftrades ... mit dem amtlichen Saison-Kennzeichen ... wurde im Rahmen einer Verkehrsüberwachung durch den Landkreis Goslar auf der B 4 im Bereich Braunlage eine am 19.4.2019 um 10:54 Uhr begangene Überschreitung der zulässigen Höchstgeschwindigkeit von 70 km/h außerhalb geschlossener Ortschaften um 25 km/h (nach Toleranzabzug) gemessen. Die Messung erfolgte unter Einsatz eines bis zum 31.12.2019 geeichten Geschwindigkeitsmessgeräts E... Einseitensensor 3.0 des Herstellers E... GmbH durch einen entsprechend geschulten Polizeibeamten.

Nachdem der Antragsteller auf eine ihm vom Landkreis Goslar zur Fahrerermittlung übersandte „Zeugenanhörung“ nicht reagierte und auch gegenüber den im Wege der Amtshilfe mit der Feststellung des Fahrzeugführers beauftragten Beamten der Polizeiinspektion St. Wendel nach Vorlage des Lichtbildes keine Angaben machte, stellte der Landkreis Goslar das Ordnungswidrigkeitsverfahren unter dem 19.6.2019 ein.

Im Rahmen seiner Anhörung zu der mit Schreiben des Antragsgegners vom 14.8.2019 angezeigten Absicht, ihm die Führung eines Fahrtenbuchs aufzulegen, machte der Antragsteller mit Schreiben vom 21.8.2019 unter anderem geltend, dass er eine Geschwindigkeitsüberschreitung sowie eine Überprüfung von Messungen bestreite, und verwies im Weiteren vorsorglich auf die aktuelle Rechtsprechung des Verfassungsgerichtshofs des Saarlandes „zu den dortigen Messgeräten“.

Daraufhin gab der Antragsgegner mit Bescheid vom 23.8.2019 unter Anordnung des Sofortvollzugs dem Antragsteller auf, in Bezug auf sein Kraftrad für die Dauer von neun Monaten ein Fahrtenbuch zu führen.

Den hiergegen am 4.9.2019 eingelegten Widerspruch, mit dem sich der Antragsteller unter anderem ebenfalls auf die Rechtsprechung des Verfassungsgerichtshofs des Saarlandes „zur Erforderlichkeit entsprechender Dokumentation“, die hier fehle, berief, wies der Kreisrechtsausschuss beim Landkreis St. Wendel durch Bescheid vom 28.11.2019 zurück. Die daraufhin am 13.1.2020 erhobene Klage ist unter der Geschäftsnummer 5 K 47/20 beim Verwaltungsgericht des Saarlandes anhängig.

Den am 9.12.2019 - der Sache nach - gestellten Antrag auf Wiederherstellung der aufschiebenden Wirkung des Widerspruchs wies das Verwaltungsgericht durch Beschluss vom 23.12.2019 - 5 L 1926/19 -, dem Antragsteller zugestellt am 30.12.2019, zurück.

Hiergegen richtet sich die am 9.1.2020 eingelegte und begründete Beschwerde.

II.

Die Beschwerde des Antragstellers ist zulässig und begründet.

Das Vorbringen des Antragstellers in dem fristgerecht eingereichten Beschwerdebegründungsschriftsatz gibt - soweit er sich auf die Rechtsprechung des Saarländischen Verfassungsgerichtshofs beruft - Veranlassung, die erstinstanzliche Entscheidung antragsgemäß abzuändern.

Nach derzeitigem Erkenntnisstand ist der Widerspruch bzw. die inzwischen erhobene Klage des Antragstellers gegen die ihm durch Bescheid des Antragsgegners vom 23.8.2019 auferlegte Verpflichtung zur Führung eines Fahrtenbuches nicht offensichtlich aussichtslos. Die gegenteilige Annahme des Antragsgegners und ihm folgend des Verwaltungsgerichts wird der Rechtsprechung des Verfassungsgerichtshofs des Saarlandes und der durch § 10 Abs. 1 VerfGHG SL vorgegebenen Bindungswirkung der verfassungsgerichtlichen Entscheidungen, auf die sich der Antragsteller der Sache nach schon im Verwaltungsverfahren berufen hat, nicht gerecht. Dem weiteren, teilweise unsachlichen Vorbringen des Antragstellers muss daher nicht entscheidungserheblich nachgegangen werden.

Der Verfassungsgerichtshof des Saarlandes hat in seinem Urteil vom 5.7.2019 nach einer umfänglichen Beweisaufnahme mit ausführlicher Begründung betont, dass zu einem rechtsstaatlichen Verfahren aus Gründen der Transparenz und Kontrollierbarkeit jeder staatlichen Machtausübung die grundsätzliche Möglichkeit der Nachprüfbarkeit einer auf technischen Abläufen und Algorithmen beruhenden Beschuldigung gehöre. Das in der Garantie eines fairen gerichtlichen Verfahrens angelegte Grundrecht auf wirksame Verteidigung beziehe sich auch darauf, die tatsächliche Grundlage des erhobenen Vorwurfs auf ihr Vorliegen und ihre Validität prüfen zu dürfen. Sei nämlich ein Gericht im Rahmen von Massenverfahren befugt, sich auf standardisierte Beweiserhebungen zu stützen, ohne sie anlasslos hinterfragen zu müssen, so müsse zu einer wirksamen Verteidigung gehören, etwaige Anlässe, sie in Zweifel zu ziehen, recherchieren zu dürfen. Ergebnisse eines standardisierten Messverfahrens hätten keine normativ bindende Kraft, sondern stellten ähnlich antizipierten Sachverständigengutachten eine belastbare wissenschaftliche Grundlage einer Verurteilung dar, ohne diese zu erzwingen. Dass ein Bürger die tatsächlichen Grundlagen seiner Verurteilung zur Kenntnis nehmen, sie in Zweifel ziehen und nachprüfen dürfe, gelte nicht nur in Fällen strafrechtlicher Sanktionen, sondern stets. Staatliches Handeln dürfe, so gering belastend es im Einzelfall sein möge und so sehr ein Bedarf an routinisierten Entscheidungsprozessen bestehe, in einem freiheitlichen Rechtsstaat für den Bürger nicht undurchschaubar sein; eine Verweisung darauf, dass alles schon seine Richtigkeit habe, würde ihn zum unmündigen Objekt staatlicher Verfügbarkeit machen. Daher gehöre die grundsätzliche Nachvollziehbarkeit technischer Prozesse, die zu belastenden Erkenntnissen führten, und ihre staatsferne Prüfbarkeit - wie das Bundesverfassungsgericht zu dem Einsatz elektronischer Wahlgeräte entschieden habe(BVerfGE 123, 39 ff.) - zu den Grundvoraussetzungen eines freiheitlich-rechtsstaatlichen Verfahrens. Die Speicherung der Rohmessdaten sei ohne größeren Aufwand technisch möglich. Zwingende Gründe, Rohmessdaten nicht zu speichern, gebe es nicht und nach dem Ergebnis der Beweisaufnahme stehe zur Überzeugung des Verfassungsgerichtshofs fest, dass ihre Speicherung es erlaube, das Ergebnis eines Messvorgangs nachzuvollziehen. Unter diesen Gegebenheiten könne sich ein Betroffener - selbst ohne nähere Begründung - gegen das Messergebnis wenden und ein Fehlen von Rohmessdaten rügen.(VerfGH des Saarlandes, Urteil vom 5.7.2019 - Lv 7/17 -, juris)

Nach § 10 Abs. 1 VerfGHG SL binden die Entscheidungen des Verfassungsgerichtshofs die Verfassungsorgane des Saarlandes sowie alle saarländischen Gerichte und Verwaltungsbehörden. Demgemäß haben nicht nur die für Ordnungswidrigkeitenverfahren zuständigen Gerichte und die Bußgeldbehörden, sondern auch die saarländischen Verwaltungsgerichte und der Antragsgegner als zuständige Straßenverkehrsbehörde das Urteil des Verfassungsgerichtshofs des Saarlandes zu beachten und im Rahmen der Rechtsanwendung umzusetzen.

Vor diesem Hintergrund kann entgegen der Begründung des Verwaltungsgerichts nicht darauf abgestellt werden, dass die Entscheidung des Verfassungsgerichtshofs des Saarlandes ein Bußgeldverfahren betrifft und die fallbezogen in Rede stehende Anordnung zur Führung eines Fahrtenbuches eine Maßnahme zur vorbeugenden Abwehr von Gefahren für die Sicherheit und Ordnung des Straßenverkehrs darstellt. Der Verfassungsgerichtshof hat seine Entscheidung aus den sich aus dem rechtstaatlichen Verfahren und der Garantie eines fairen gerichtlichen Verfahrens ergebenden Geboten der Transparenz und Kontrollierbarkeit jeder staatlichen Machtausübung hergeleitet und sich damit auch auf präventives staatliches Handeln bezogen.

Ebenso wenig kann die angefochtene Verfügung des Antragsgegners deshalb als offensichtlich rechtmäßig erachtet werden, weil die Messung nicht mit einem der Entscheidung des Saarländischen Verfassungsgerichtshofs zugrundeliegenden Gerät des Typs Traffistar S 350, sondern mit dem Messgerät E... Einseitensensor 3.0 durchgeführt worden ist. Vielmehr wird im Hauptsacheverfahren aufzuklären sein, ob Messgeräte des im vorliegenden Fall eingesetzten Typs ausgehend von der Rechtsprechung des Saarländischen Verfassungsgerichtshofs den dortigen Bedenken in gleicher Weise unterliegen wie Messgeräte des Modells Traffistar S 350 der Firma ... . Ist das der Fall, kann die Auferlegung eines Fahrtenbuchs nach Maßgabe der Rechtsprechung des Saarländischen Verfassungsgerichtshofs keinen rechtlichen Bestand haben.

Dies rechtfertigt es, im verfahrensgegenständlichen einstweiligen Rechtsschutzverfahren die Sach- und Rechtslage zum derzeitigen Erkenntnisstand zumindest als offen anzusehen. Die dann erforderliche Abwägung der widerstreitenden Interessen der Beteiligten muss gerade auch vor dem Hintergrund der das Verwaltungsgericht und den Senat bindenden Rechtsprechung des Saarländischen Verfassungsgerichtshofs(VerfGH des Saarlandes, Beschluss vom 27.4.2018 - Lv 1/18 -, juris, und Urteil vom 5.7.2019, a.a.O.) zugunsten des Antragstellers ausfallen.

Dass die Rechtsprechung des Saarländischen Verfassungsgerichtshofs in der Rechtsprechung anderer Bundesländer nach ersten Reaktionen auf eine gewisse Skepsis(VerfGH Rheinland-Pfalz, a.a.O., Rdnr. 48) bzw. auf umfängliche Kritik(zusammenfassend: Brandenburgisches OLG Senat für Bußgeldsachen, Beschluss vom 15.1.2020 - (1 Z) 53 Ss-OWi 798/19 (4/20) -, Juris Rdnrn. 2 f. und 5 m.w.N.) gestoßen ist, ändert hieran nichts. Allerdings wäre zwecks einer bundesgerichtlichen Klärung seitens der Fachgerichte(VerfGH des Saarlandes, Urteil vom 5.7.2019, a.a.O., Rdnr. 62) unabhängig vom Ausgang des erstinstanzlichen Hauptsacheverfahrens zu erwägen, die für die Rechtmäßigkeit einer Fahrtenbuchauflage erheblichen Rechtsfragen in Anwendung des § 134 VwGO durch Zulassung der Sprungrevision einer zeitnahen Klärung zuzuführen.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 154 Abs. 1 VwGO.

Die Festsetzung des Streitwerts folgt aus den §§ 63 Abs. 2, 47 Abs. 1, 52 Abs. 1 GKG i.V.m. Nrn. 1.5 und 46.11 des Streitwertkatalogs für die Verwaltungsgerichtsbarkeit.

Dieser Beschluss ist nicht anfechtbar.

Verwandte Urteile

Keine verwandten Inhalte vorhanden.

Referenzen