Beschluss vom Oberverwaltungsgericht des Landes Sachsen-Anhalt (3. Senat) - 3 M 292/12

Gründe

1

Die Beschwerde bleibt ohne Erfolg. Die zur Begründung der Beschwerde vorgebrachten Einwände, auf deren Prüfung der Senat gemäß § 146 Abs. 4 Satz 6 VwGO beschränkt ist, greifen nicht durch.

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Nach § 13 Abs. 1 VersammlG LSA kann die zuständige Behörde die Versammlung oder den Aufzug von bestimmten Beschränkungen abhängig machen oder verbieten, wenn nach den zur Zeit des Erlasses der Verfügung erkennbaren Umständen die öffentliche Sicherheit bei Durchführung der Versammlung oder des Aufzuges unmittelbar gefährdet ist.

3

Diese Voraussetzungen für ein Verbot der vom Antragsteller angemeldeten Kundgebung unter dem Thema „Wir für Euch – Jetzt erst recht!“ sind erfüllt. Eine Gefährdung der öffentlichen Sicherheit stand im maßgeblichen Zeitpunkt des Erlasses der Verfügungen vom 06. Juni 2012 unmittelbar bevor. Nach der Anmeldung des Antragstellers waren für die Versammlung etwa 30 Teilnehmer zu erwarten. Nach den vom Antragsteller nicht in Frage gestellten Angaben in der angefochtenen Verfügung der Antragsgegnerin rechne der Antragsteller nach seinen Angaben im Kooperationsgespräch aufgrund der Medienaufmerksamkeit nunmehr mit 50 bis 100 Teilnehmern. Der erkennbare Zweck der Veranstaltung besteht darin, die Bewohner des Ortsteils D. der Stadt E. in ihren Bemühungen, die beiden ehemaligen Strafgefangenen, die dort nach der Haftentlassung ihren Wohnsitz begründet haben, zu vertreiben.

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Der Senat hat zu den versammlungsrechtlichen Aktivitäten der Bürgerinitiative in D. in seinem Beschluss vom 25. April 2012 – 3 M 100/12 – ausgeführt, dass die seit September 2011 – mit gewissen zeitlichen Unterbrechungen – wöchentlich vor dem Wohnhaus der ehemaligen Strafgefangenen durchgeführten Versammlungen den Zweck hatten und haben, mit der physischen Präsenz der Versammlungsteilnehmer, der Verwendung von akustischen Hilfsmitteln, wie Trillerpfeifen und Trompeten und dem Skandieren von Parolen („Wir kommen wieder bis ihr geht – Raus aus D.“, „Frauenschänder raus aus D.“, Kinderschänder raus aus D.“) einen Vertreibungsdruck zu erzeugen, der die ehemaligen Strafgefangenen zur Aufgabe des von ihnen gewählten Wohnsitzes zwingen solle. Diese nach dem dokumentierten Ablauf der Versammlungen in der Vergangenheit und wöchentlich wiederholte gezielte massive Einwirkung auf die Willensentschließungsfreiheit der betroffenen ehemaligen Strafgefangenen sei objektiv betrachtet auf eine Zermürbung der Adressaten angelegt. Sie diene bei verständiger Würdigung mit der wiederkehrenden physischen Präsenz der Versammlungsteilnehmer unmittelbar vor dem Wohnhaus und dem in den privaten Rückzugsbereich der ehemaligen Strafgefangenen einwirkenden Lärm und den Vertreibungsparolen dazu, den Willen der Adressaten zu beugen.

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An diesen Demonstrationen haben sich nach den Feststellungen in der angefochtenen Verfügung, denen der Antragsteller nicht entgegengetreten ist, in der Vergangenheit Mitglieder des rechtsextremen Spektrums und unter ihnen auch der Antragsteller selbst mehrfach beteiligt.

6

Nachdem einer der ehemaligen Strafgefangenen nach einer vorübergehenden Wohnsitznahme in F. nach Protestveranstaltungen dort, an denen sich die NPD beteiligte hatte, nach D. zurückgekehrt war, versuchten in den Abendstunden des 01. Juni 2012 sieben Personen, die von der Polizei dem rechten Spektrum zugeordnet wurden, eine Polizeiabsperrung zu durchbrechen, um zu dem Wohnhaus der ehemaligen Strafgefangenen vorzudringen. Am Sonntag, den 03. Juni 2012 haben nach den Angaben in der angefochtenen Verfügung in den frühen Abendstunden erneut 40 Personen unter dem Vorwand, einen „Spaziergang“ in der G-Straße, dem Wohnort der ehemaligen Strafgefangenen unternehmen zu wollen, in die Umgebung des Wohnhauses zu gelangen. Das habe die Polizei unterbinden können. Die Versammlungsteilnehmer hätten gereizt reagiert und mit etwa einem Drittel der Teilnehmer bis nach 21.15 Uhr ausgeharrt.

7

Diese in D. geschaffene progromartige Lage, die objektiv auf eine Vertreibung der ehemaligen Strafgefangenen gerichtet ist, aufrechtzuerhalten und zu stützen, ist Zweck und Ziel der vom Antragsteller angemeldeten Versammlung. Das folgt aus den o. g. Umständen und der Beteiligung des Antragstellers und Anhängern der rechtsextremen Szene, dem Motto der Versammlung („Wir für Euch – jetzt erst recht!“) und dem geplanten Auftritt der F. NPD-Stadträtin K., die sich in F. für die Vertreibung eines der ehemaligen Strafgefangenen engagiert hatte (vgl. Pressemitteilung der NPD Sachsen v. 31.05.2012; veröffentlicht unter www.npd.de).

8

Die Ermessensausübung durch die Behörde ist im Ergebnis nicht zu beanstanden. Das durch Art. 8 Abs. 1 GG gewährleistete Recht, Versammlungen unter freiem Himmel durchzuführen, findet seine Schranken in den verfassungsrechtlich geschützten Rechten Dritter. Kollidieren Freiheitsrechte, so sind die widerstreitenden Interessen im Wege der praktischen Konkordanz zum Ausgleich zu bringen. Das Versammlungsverbot erweist sich daran gemessen nicht als unverhältnismäßig.

9

Der Senat verkennt nicht die weitreichende verfassungsrechtliche Gewährleistung der Versammlungsfreiheit und Meinungsäußerung. Das Totalverbot ist die absolute ultima ratio des Versammlungsrechts. Von diesem allerletzten Mittel ist nach dem Willen des Gesetzgebers und mit Blick auf den verfassungsrechtlichen Schutz des in Art. 8 GG gewährleistet Grundrechts auf Versammlungsfreiheit nur dann Gebrauch zu machen, wenn sämtliche andere Möglichkeiten, die öffentliche Sicherheit anderweitig einer Gefährdung zu entziehen, nicht in Betracht kommen.

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Dem Antragsteller ist zunächst einzuräumen, dass keine belegten Anhaltspunkte dafür bestehen, dass mit der beabsichtigten Versammlung (erneut) Übergriffe, Nötigungen oder auch “nur“ eine Belagerung der im Ortsteil D. lebenden ehemaligen Straftäter einhergehen. Auch ist dem Antragsteller darin beizupflichten, wenn er mit der Beschwerde geltend macht, die Versammlung könne an einen anderen Ort verlegt werden, wenn es lediglich darum gehe, die Gefahr einer Belagerung oder andere Übergriffe zu verhindern.

11

Ebenso vermag der Senat der Auffassung des Verwaltungsgerichts nicht zu folgen, dass die Verlegung des Versammlungsortes daran scheitere, dass angesichts der räumlichen Verhältnisse im Ortsteil D. auch bei der vom Antragsteller angebotenen Verlegung des Versammlungsortes – z. B. auf den (…) – notwendigerweise von einer derart nachhaltigen „physischen Präsenz der Versammlungsteilnehmer“ und „akustischen Wahrnehmbarkeit“ der Meinungskundgabe der Versammlungsteilnehmer auszugehen sei, dass dies für die betroffenen, im Ortsteil D. lebenden ehemaligen Strafgefangenen nicht hinnehmbar sei. Zu Recht verweist der Antragsteller darauf hin, dass diesen Beeinträchtigungen, sofern sie denn feststellbar wären, durch geeignete Auflagen wie etwa einem Verzicht auf akustische Hilfsmittel wirksam begegnet werden könnte.

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Allerdings ist nach Auffassung des Senats den Besonderheiten des vorliegenden Falles Rechnung zu tragen, welche bei der im vorliegenden Fall allein möglichen und veranlassten überschlägigen Prüfung der Sach- und Rechtslage ein umfassendes Verbot der angemeldeten Versammlung sachgerecht und angemessen erscheinen lassen.

13

Denn vorliegend erscheint dem Senat mit Blick auf den bisherigen Geschehensablauf und die inzwischen eingetretenen Verhältnisse, unter denen die Versammlung abgehalten werden soll, die Annahme berechtigt, dass sich durch die in Rede stehenden Veranstaltung eine bereits vorhandene Gefahr für die öffentliche Sicherheit und Ordnung zumindest als Folge der Veranstaltung in der Weise realisiert, dass ihr allein durch ein Verbot derselben wirksam begegnet werden kann. Dabei ist im Einzelnen von Folgendem auszugehen:

14

Die Stimmungslage im Ortsteil D. hat sich zur Überzeugung des Senats im zunehmenden Maße zugespitzt. Dies belegen die Ereignisse in der jüngsten Vergangenheit, bei denen wiederholt versucht worden ist, den Forderungen gewaltsam Nachdruck zu verleihen. Auch wenn der Antragsteller und die potentiellen Versammlungsteilnehmer dies selbst nicht zu verantworten haben mögen, müssen sie sich bei ihrem Vorhaben gleichwohl entgegen halten lassen, dass vor Ort eine äußerst gespannte und gefahrengeneigte Situation entstanden ist, an der die Zulässigkeit des Vorhabens zu messen ist.

15

Die in Rede stehende Versammlung kann nicht isoliert betrachtet werden. Sie reiht sich ein in eine Vielzahl von Veranstaltungen und Versammlungen – insgesamt etwa 38 –, mit denen ebenfalls gegen die in Rede stehende Resozialisierung der im Ortsteil D. lebenden ehemaligen Straftäter demonstriert worden ist. Zwar ist es grundsätzlich den Veranstaltern einer Versammlung überlassen, wie häufig und nachhaltig sie ihre Meinungen kundtun wollen. Indes kann die hiervon ausgehende Wirkung nicht ausgeblendet werden, wenn es um die Einschätzung einer damit einhergehenden Gefahr für einen speziell betroffenen Personenkreis geht.

16

Es kommt hinzu, dass aufgrund der beabsichtigten Rede von Frau K. aus F. Grund zu der Annahme besteht, dass sich die angespannte Situation noch zuspitzt und zunehmend auch die Bereitschaft der Einwohner von D. geweckt wird, sich gegen die Wohnungsnahme und den Aufenthalt der ehemaligen Straftäter massiv und gegebenenfalls auch (erneut) unter Einsatz körperlicher Gewalt und anderer strafrechtlicher Handlungen zur Wehr zu setzen. Dies gilt umso mehr, als davon auszugehen ist, dass Frau K. von ihren Erfahrungen berichtet, die sie mit ihrem „Erfolg“ in F. gemacht hat.

17

Vor dem aufgezeigten Hintergrund ist davon auszugehen, dass die angemeldete Versammlung in ihrer objektiven Gerichtetheit darauf abzielt, dass sich die Situation im Ortsteil D. zum Nachteil der betroffenen ehemaligen Straftäter weiter zuspitzt und eskaliert. Es steht gegenwärtig zu besorgen, dass mit weiteren Versammlungen und Veranstaltungen der in Rede stehenden Art, wenngleich auch nicht notwendigerweise im Verlauf der Versammlung, so doch im Anschluss hieran und im alltäglichen Zusammenleben, zu Bedrohungen, Nötigungen und womöglich sogar Übergriffen gegenüber den ehemaligen Straftätern kommt. D. h. es dürften mit weiteren Veranstaltungen und Kundgebungen zu dem in Rede stehenden Versammlungszweck im Ortsteil D. eine weiter angeheizte und zudem aggressive Stimmungslage geschaffen werden, welche bei keineswegs unrealistischer Einschätzung die Gefahr einer progromartigen Verfolgungslage begründet. Sie finden ihren Ausdruck u. a. darin, dass faktisch ein Vertreibungsdruck geschaffen wird, der sich – wie es im angefochtenen Bescheid zutreffend heißt – wie folgt umschreiben lässt: „Der Gang zum Supermarkt wird zum Spießrutenlauf.“ Diese Aspekte der beabsichtigten Versammlung können und dürfen unter den derzeit gegebenen Verhältnissen nicht ausgeblendet werden. Dies gilt erst recht angesichts der Tatsache, dass es sich vorliegend um einen sehr überschaubaren Lebenskreis der betroffenen Personen handelt und nicht von der Anonymität einer Großstadt auszugehen ist.

18

Soweit der Antragsteller demgegenüber einwendet, dass es ihm angeblich nicht um eine Vertreibung der ehemaligen Straftäter oder die Ausübung eines darauf zielenden Druckes gehe – was dem Senat allerdings fraglich erscheint –, bedarf hier keiner weiteren Erörterung, weil vorliegend bei der anzustellenden Gefahrenprognose maßgeblich eben auch auf die objektiven Verhältnisse und die vorausgegangenen Geschehnisse abzustellen ist. Den genannten Gefahren lässt sich auch nicht durch eine Verlegung der Versammlung innerhalb des Ortsteils D. oder durch sonstigen polizeilichen Maßnahmen wirksam begegnen.

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Soweit der Antragsteller darauf verweist, dass sich das Verbot der Antragsgegnerin (lediglich) auf den Ortsteil D. beschränke und dies für den Antragsteller nicht bedeute, dass er kein Recht habe, seine Versammlung zum gleichen Zeitpunkt des außerhalb des Ortsteils D. durchzuführen, verweist der Senat auf die Anmeldung der Versammlung durch den Antragsteller vom 31. Mai 2012, welche sich allein auf den Ortsteil D. beschränkt.

20

Die Kostenentscheidung beruht auf § 155 Abs. 2 VwGO. Die Festsetzung des Streitwertes für das Verfahren im zweiten Rechtszug beruht auf den §§ 53 Abs. 2 Nr. 2, 52 Abs. 1 GKG.

21

Der Beschluss ist unanfechtbar.


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