Beschluss vom Pfälzisches Oberlandesgericht Zweibrücken (1. Strafsenat) - 1 Ws 203/19

Tenor

1. Auf die Beschwerde der Staatsanwaltschaft Landau in der Pfalz wird der Beschluss der 3. Großen Strafkammer des Landgerichts Landau in der Pfalz vom 18. Juni 2019 aufgehoben.

2. Gegen den Verurteilten wird der in Anlage befindliche Europäische Haftbefehl ausgestellt.

3. Die Kosten des Beschwerdeverfahrens trägt der Verurteilte.

Gründe

I.

1

Die Staatsanwaltschaft Landau in der Pfalz hat am 28. Mai 2019 einen Unterbringungsbefehl zum Zwecke der Vollstreckung einer im Urteil der 3. Großen Strafkammer des Landgerichts Landau in der Pfalz vom 19. Oktober 2018 (rechtkräftig seit 12. April 2019) angeordneten Maßregel der Unterbringung in einer Entziehungsanstalt erlassen. Es bestehen Hinweise, dass sich der Verurteilte im europäischen Ausland aufhält. Am 12. Juni 2019 hat die Vollstreckungsbehörde der Strafkammer das Vollstreckungsheft zugeleitet verbunden mit dem Antrag, als Gericht des ersten Rechtszugs einen Europäischen Haftbefehl auszustellen. Das Landgericht hat mit Beschluss vom 18. Juni 2019 den Antrag mit der Begründung abgelehnt, eine Zuständigkeit der Kammer für den Erlass der Maßnahme sei nicht ersichtlich. Hiergegen wendet sich die Staatsanwaltschaft mit ihrer Beschwerde vom 25. Juni 2019, der die Strafkammer nicht abgeholfen hat.

II.

2

Das Rechtsmittel ist zulässig und begründet. Eine Zuständigkeit des Gerichts des ersten Rechtszugs für den Erlass des beantragten Europä;ischen Haftbefehls ergibt sich aus §§ 131 Abs. 1, 457 Abs. 3 i.V.m. Abs. 2, 463 Abs. 1 StPO i.V.m. § 77 Abs. 1 IRG.

1.

3

Der Europäische Haftbefehl stellt eine justizielle Entscheidung dar, die in einem Mitgliedstaat ergangen ist und die die Festnahme und Übergabe einer gesuchten Person durch einen anderen Mitgliedstaat zur Strafverfolgung oder zur Vollstreckung einer Freiheitsstrafe oder einer freiheitsentziehenden Maßregel der Sicherung bezweckt (vgl. Art 1 des Rahmenbeschlusses (EU) 2002/584/JI des Rates [nachfolgend: RbEUHb]). Er ist damit ein EU-weites Fahndungsinstrument, verbunden mit dem Ersuchen um Auslieferung im Falle einer Festnahme (OLG Stuttgart, Beschluss vom 07.09.2004 – 3 Ausl 80/04, NJW 2004, 3437, 3438; Ambos/König/Rackow, Rechtshilferecht in Strafsachen, 1. Aufl., 2. Hauptteil, RbEUHb Art. 1 Rn. 637) und ist mit einer Ausschreibung im SIS verbunden, sofern nicht die Ausschreibung zur Festnahme zwecks Auslieferung nach dem Schengener Durchführungsübereinkommen gleich als Europäischer Haftbefehl gemäß § 83a Abs. 2 IRG gilt (OLG Celle, Beschluss vom 16.04.2009 – 2 VAs 3/09, NStZ 2010, 534; s.a. Art. 9 Abs. 3 S. 2 RbEUHb). Er geht einer nationalen Haftanordnung nach und setzt diese voraus (Inhofer in BeckOK/StPO, 33. Ed. 1.4.2019, RB (EU) 2002/584/JI Art. 1, Rn. 6). Ausgestellt werden kann der Europäische Haftbefehl von der Justizbehörde des Ausstellungsmitgliedstaats, die nach dem Recht dieses Staats für die Ausstellung eines Europäischen Haftbefehls zuständig ist (Art. 6 Abs. 1 RbEuHb). Nach dem bisherigen Verständnis erfolgte in Deutschland die Ausstellung Europäischer Haftbefehle nach Maßgabe der Zuständigkeitsregelungen aufgrund des § 74 Abs. 2 S. 2 IRG. Zuständig für die Ausübung der Befugnis, Auslieferungsersuchen zu stellen, war danach aufgrund einer Delegation regelmäßig die das Verfahren führende Staatsanwaltschaft bzw. der jeweilige Behördenleiter (vgl. die Zuständigkeitsvereinbarung vom 04.05.2004, BAnz 2004, 11494, in Rheinland-Pfalz i.V.m. Nr. 2.1 der VV der Landesregierung vom 30.07.2004 [JM 9350-4-61, JBl. 2004, 204, JBl. 2009, 149, JBl. 2014, 107] und Nr. 8.1 der VV des Ministeriums der Justiz vom 09.08.2004 [9350 – 4 – 62, JBl. 2004, 205, JBl. 2009, 150, JBl. 2014, 117]).

2.

4

Der EuGH hat nunmehr mit Urteilen vom 27. Mai 2019 (C-508/18, C-82/19 PPU, BeckRS 2019, 9722 und C 509/18, BeckRs 2019, 9647) entschieden, dass die Staatsanwaltschaften eines Mitgliedstaats, die - wie bei den deutschen Staatsanwaltschaften gegeben - der Gefahr ausgesetzt sind, im Rahmen einer Entscheidung über die Ausstellung eines Europäischen Haftbefehls unmittelbar oder mittelbar Anordnungen oder Einzelweisungen seitens der Exekutive, etwa eines Justizministers, unterworfen zu werden, nicht unter den Begriff „ausstellende Justizbehörde“ im Sinne von Art. 6 Abs. 1 RB EUHb fallen. Die deutschen Staatsanwaltschaften sind danach nicht zur Ausstellung eines Europäischen Haftbefehls befugt. Basierend auf der derzeitigen Rechtslage sind Europäische Haftbefehle vielmehr von deutschen Gerichten auszustellen (OLG München, Beschluss vom 13.06.2019 – 2 Ws 587/19, juris Rn. 18). Die nationalen Zuständigkeitsbestimmungen bezüglich der Ausstellung eines europäischen Haftbefehls bedürfen einer europarechtskonformen Auslegung.

5

a) Aus dem Vorrang des Unionsrechts ergibt sich, dass im Widerspruch zu EU-Vorgaben stehende Bestimmungen des nationalen Rechts im Sinne des Unionsrechts auszulegen sind, um den Zwecksetzungen der vertraglichen Bestimmungen im bestmöglichen Umfang zu entsprechen (EuGH, Urteil vom 16.06.2005, C-105/03, juris Rn. 43 ff.; Ambos/König/Rackow, Rechtshilfe in Strafsachen, 2. Hauptteil, Rn. 626, 775; Hackner in Schomburg/Lagodny/Gleß/Hackner, Internationale Rechtshilfe in Strafsachen, 5. Aufl., Vor § 78 Rn. 10; Begemeier, HRRS 2013, 179, 180f.). Zuständigkeitsbestimmungen in Bezug auf Fahndung und Festnahme auf der Grundlage einer richterlichen Haftanordnung ergeben sich nicht nur aus § 74 IRG. Die allgemeinen Bestimmungen der StPO, die über § 77 IRG grundsätzlich auch in Bezug auf an das Ausland gerichtete Ersuchen Anwendung finden können, sehen ebenfalls Ermächtigungen zur Anordnung von Fahndungsmaßnahmen vor. Die Beschwerdeführerin stellt daher in ihrer Beschwerdebegründung vom 25. Juni 2019 zutreffend darauf ab, dass die nationale besondere Zuständigkeitsbestimmung in § 74 Abs. 1 IRG (in Verbindung mit den oben genannten Delegationserlassen) im Lichte der Rechtsprechung des EuGHs teilweise unanwendbar (geworden) ist und stattdessen für die Bestimmung der Zuständigkeit für die Ausstellung eines Europäischen Haftbefehls auf die allgemeinen Zuständigkeitsregelungen zurückgegriffen werden muss.

6

b) Im Hinblick auf die Ausführungen der Strafkammer unter Ziff. 2b des angefochtenen Beschlusses ist in diesem Zusammenhang anzumerken, dass hiervon die Zuständigkeiten der Staatsanwaltschaften für die Weiterleitung eines ausgestellten Europäischen Haftbefehls und sonstige Folgemaßnahmen unberührt bleiben. Einer einschränkenden Auslegung der besonderen Zuständigkeitsbestimmung in § 74 IRG im Lichte des EU-Rechts in seiner Auslegung durch den EuGH bedarf es für solche Folgemaßnahmen nicht. Der EuGH hat maßgeblich darauf abgestellt, dass (lediglich) die Entscheidung über die Ausstellung eines Europäischen Haftbefehls und insbesondere die Prüfung seiner Verhältnismäßigkeit durch eine unabhängige, keinen „externen“ Weisungen unterliegende Justizbehörde vorgenommen werden muss (EuGH aaO. Rn. 75). Im Rahmen der seiner Ausstellung nachfolgenden Übermittlung des Europäischen Haftbefehls und sonstiger Folgemaßnahmen sind solche Prüfungen hingegen nicht veranlasst. Insoweit kann es daher bei der Anwendung von § 74 Abs. 2 IRG und den darauf gründenden Delegationserlassen verbleiben.

3.

7

Die Zuständigkeit für die Ausstellung eines europäischen Haftbefehls bestimmt sich nach §§ 78 Abs. 1, 77 Abs. 1 IRG entsprechend den allgemeinen Regelungen der StPO und des GVGs (LG Bamberg, Beschluss vom 26.06.2019 – 21 Qs 25/19). Die Zuständigkeit für den Erlass eines zum Zwecke der Sicherung der Vollstreckung einer Maßregel zur Besserung und Sicherung auszustellenden Europäischen Haftbefehls ergibt sich aus den §§ 457 Abs. 3 S. 3, 463 Abs. 1, 131 Abs. 1 StPO i.V.m. § 77 IRG. Die im Zusammenhang mit der Festnahme zur Vollstreckung einer Freiheitsstrafe bzw. Maßregel notwendig werdenden gerichtlichen Entscheidungen trifft danach das Gericht des ersten Rechtszuges.

8

a) Ausschreibungen zur Festnahme finden ihre Ermächtigungsgrundlage in § 131 StPO, der über § 457 Abs. 3 S. 1 StPO auch im Vollstreckungsverfahren Anwendung findet (Appl in KK-StPO, 8. Aufl., § 457 Rn. 12). Der Senat schließt sich der Auffassung des OLG Celle (Beschluss vom 16.04.2009 – 2 VAs 3/09, NStZ 2010, 534) an, dass auf die Bestimmung auch eine internationale Fahndung gestützt werden kann (ebenso: Schomburg/Hackner in Schomburg/Lagodny/Gleß/Hackner, Internationale Rechtshilfe in Strafsachen, 5. Aufl., Vor § 68 Rn. 25b). Die gegenteilige Rechtsauffassung der Strafkammer, wonach aus § 131 StPO keine Zuständigkeit „für den Erlass eines über den Geltungsbereich der StPO hinauswirkenden Europäischen Haftbefehls abgeleitet werden kann“, greift zu kurz. Eine Beschränkung auf Fahndungsmaßnahmen auf rein nationalem Gebiet ergibt sich weder aus § 131 StPO selbst, noch aus dem IRG (OLG Celle aaO.). Der Geltungsbereich der StPO steht dieser Annahme nicht entgegen. Der Europäische Haftbefehl steht in der Sache einem - auf der Grundlage des nationalen Rechts gestellten - Ersuchen um Auslieferung im Falle der Festnahme gleich (OLG Celle, aaO.; Ambos/König/Rackow, Rechtshilfe in Strafsachen, 1. Aufl., 1. Hauptteil, Rn. 25). Es entspricht dabei allgemeiner Ansicht, dass jedenfalls die mit dem Europäischen Haftbefehl verbundene SIS-Ausschreibung auf § 131 StPO gestü;tzt werden kann (Meyer-Goßner/Schmitt, StPO, 61. Aufl., § 131 Rn. 1; Schultheis in KK-StPO, 8. Aufl., § 131 Rn. 5; Ahlbrecht in Gercke/Julius/Temming/Zöller, StPO, 6. Aufl. § 131 Rn. 2; Meyer/Hüttemann, ZStW 2016, 394, 401). Diese steht einem Europäischen Haftbefehl grundsätzlich gleich (vgl. § 83a Abs. 2 IRG und Art. 9 Abs. 3 S. 2 RbEuHb). Bereits dies spricht dafür, § 131 StPO als Grundlage für die Ausstellung eines Europäischen Haftbefehls heranzuziehen. Gegenteiliges ergibt sich nicht aus dem Umstand, dass der Europäische Haftbefehl neben der Ausschreibung ein Ersuchen um Festnahme und Auslieferung des Verfolgten beinhaltet, welches die Mitgliedsstaaten nur aus den in Art. 3, 4, und 4a des RbEuHb genannten Gründen ablehnen können (vgl. dazu OLG München aaO. Rn. 20; Saarländisches OLG, Beschluss vom 08.07.2019 – 1 Ws 128/19). Dass die Ausstellung und Übermittlung eines Europ28;ischen Haftbefehls Wirkungen entfaltet, die über den r8;umlichen Anwendungsbereich der StPO hinausreichen, stellt den Charakter der Maßnahme als Fahndungsmaßnahme zur Sicherung der nationalen Strafverfolgung bzw. Strafvollstreckung nicht in Frage.

9

b) § 131 Abs. 1 StPO sieht – neben der Staatsanwaltschaft – eine Zuständigkeit des Richters für die Anordnung einer Ausschreibung vor. Eine europarechtskonforme Auslegung der Norm ergibt, dass die internationale Ausschreibung zur Festnahme und Übergabe in der Form der Ausstellung eines Europäischen Haftbefehls ausschließlich durch ein Gericht erfolgen kann und eine alternative Zuständigkeit der Staatsanwaltschaft nicht in Betracht kommt (so bereits: LG Bamberg, aaO.). Handelt es sich – wie hier – um eine Fahndungsmaßnahme im Vollstreckungsverfahren, ergibt sich die sachliche Zuständigkeit der Gerichte aus § 457 Abs. 3 S. 3 StPO (vgl. OLG Celle Beschluss vom 06.01.2014 – 2 Ws 366/13, BeckRS 2014, 6108 zur Telefonüberwachung sowie allgemein: Coen in BeckOK-StPO, 3. Ed. 1.4.2019, StPO § 457 Rn. 7). Ob in Fällen des § 462a Abs. 1 StPO ausnahmsweise eine Zuständigkeit der Strafvollstreckungskammer begründet sein kann (so das Schreiben des Generalstaatsanwalts bei dem Oberlandesgericht Koblenz vom 29. Mai 2019 – Az.: EU-06), muss der Senat nicht entscheiden. Für eine Zuständigkeit der Strafvollstreckungskammer ist vorliegend nichts ersichtlich; insbesondere hat die Maßregelvollstreckung noch nicht begonnen. Das Landgericht war daher als Gericht des ersten Rechtszugs für die Ausstellung eines Europäischen Haftbefehls zuständig.

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