Urteil vom Sozialgericht Braunschweig (44. Kammer) - S 44 AS 798/17

Tenor

1. Die Klage wird abgewiesen.

2. Kosten sind nicht zu erstatten.

Tatbestand

1

Die Klägerin wendet sich im Rahmen von Leistungen nach dem Zweiten Buch des Sozialgesetzbuchs (SGB II) gegen einen Aufrechnungsbescheid des Beklagten.

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Die Klägerin steht im langjährigen Bezug von SGB II- Leistungen. Mit Bescheiden vom 06.04.2011, 24.10.2012 und 28.02.2013 hob der Beklagte seine zuvor erlassenen Bewilligungsbescheide teilweise auf und forderte von der Klägerin einen Betrag in Höhe von insgesamt 1.102,12 € zurück. Die genannten Bescheide erwuchsen in Bestandskraft. Mit Beschluss des Amtsgerichts Braunschweig vom 29.12.2011 (Az.: 274 IK 939/11 b) wurde über das Vermögen der Klägerin das Verbraucherinsolvenzverfahren eröffnet. Mit Beschluss vom 18.12.2012 wurde sodann die Restschuldbefreiung rechtskräftig angekündigt, soweit die Klägerin während der Wohlverhaltensperiode die Obliegenheiten gemäß § 295 InsO erfüllte. Die Wohlverhaltensperiode begann am 29.12.2011 und endete nach 6 Jahren, mithin am 29.12.2017. Mit Beschluss vom 16.02.2018 wurde der Klägerin die Restschuldbefreiung erteilt.

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Bereits zuvor - mit Bescheid vom 01.12.2016 - erklärte der Beklagte nach erfolgter Anhörung gemäß § 43 SGB II die monatliche Aufrechnung des Betrags von 1.102,12 € mit den laufenden Leistungen in Höhe von 10 % des maßgeblichen Regelbedarfs.

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Hiergegen erhob die Klägerin mit Schreiben vom 12.12.2016 Widerspruch und verwies zur Begründung u.a. auf ihre Privatinsolvenz. Der Widerspruch wurde mit Widerspruchsbescheid vom 18.04.2017 zurückgewiesen. Zur Begründung erläuterte der Beklagte die Vorschrift des § 43 SGB II und erklärte, das Interesse der Klägerin, dass zumindest für die Dauer der Privatinsolvenz keine Aufrechnung der Forderung mit ihren laufenden Leistungen vorgenommen werde, müsse gegenüber dem öffentlichen Interesse, sparsam und wirtschaftlich mit Steuermitteln umzugehen sowie gleiche Sachverhalte in gleicher Weise zu behandeln, zurücktreten. Der Aufrechnung stehe auch nicht entgegen, dass über das Vermögen der Klägerin ein Insolvenzverfahren eröffnet wurde. Es sei nicht im öffentlichen Interesse, zunächst die privaten Schulden und erst danach die öffentlich-rechtlichen Forderungen des Beklagten zu tilgen.

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Am 09.05.2017 hat die Klägerin Klage erhoben und sodann mit Schriftsatz vom 24.05.2017 einen Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung gestellt (Az.: S 44 AS 246/17 ER). Mit Schriftsatz vom 29.05.2017 erklärte der Beklagte hierauf, durch Einlegung der Klage sei eine aufschiebende Wirkung eingetreten. Der bereits für den Monat Mai 2017 aufgerechnete Betrag in Höhe von 40,90 € sei der Klägerin zurücküberwiesen worden. Mit Schriftsatz vom 30.05.2017 erklärte die Klägerin hierauf ihren Antrag für erledigt.

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Zur Begründung ihrer Klage führt die Klägerin u.a. aus, die Aufrechnung sei aus formalen und materiellen Gründen rechtswidrig. Eine Aufrechnung mit Leistungen nach dem SGB II sei während eines laufenden Insolvenz- bzw. Restschuldbefreiungsverfahrens grundsätzlich unzulässig. Darüber hinaus sei § 43 SGB II verfassungswidrig, weil die Leistungsberechtigten gezwungen seien, für längere Zeit mit Geldleistungen unterhalb des Existenzminimums zu leben.

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Die Klägerin beantragt,

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den Bescheid vom 01.12.2016 in Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 18.04.2017 aufzuheben.

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Der Beklagte beantragt,

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die Klage abzuweisen.

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Er verweist auf seine Ausführungen im Verwaltungsverfahren. Trotz eines laufenden Insolvenzverfahrens bleibe § 43 SGB II anwendbar. So habe auch bereits das Sozialgericht Aurich entschieden (Urteil vom 09.02.2012 - S 35 AS 16/11).

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Wegen der weiteren Einzelheiten und des Vorbringens der Beteiligten im Übrigen wird auf den Inhalt der Gerichtsakte und der Gerichtsakte des Verfahrens S 44 AS 246/17 ER und die Verwaltungsakte des Beklagten (1 Band) Bezug genommen.

Entscheidungsgründe

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Die Klage ist als isolierte Anfechtungsklage (§ 54 Abs. 1 SGG) zulässig aber unbegründet.

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Der Bescheid vom 01.12.2016 in Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 18.04.2017 ist rechtmäßig und verletzt die Klägerin nicht in eigenen Rechten.

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Rechtsgrundlage für die Aufrechnungsentscheidung des Beklagten ist § 43 Abs. 1 Nr. 1 SGB II. Danach können die SGB II-Leistungsträger Ansprüche von leistungsberechtigten Personen auf Geldleistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts mit ihren Erstattungsansprüchen nach § 50 SGB X aufrechnen. Nach § 43 Abs. 2 Satz 1 SGB II beträgt die Höhe der Aufrechnung bei Erstattungsansprüchen, die auf § 48 Abs.1 Satz 2 Nr. 3 in Verbindung mit § 50 SGB X beruhen, 10 Prozent des für die leistungsberechtigte Person maßgebenden Regelbedarfs.

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a) Die formalen Voraussetzungen des § 43 SGB II lagen hier vor. Es bestand hier mit der Gegenseitigkeit und Gleichartigkeit der sich gegenüberstehenden Forderungen (Hauptforderung des Leistungsempfängers einerseits und Gegenforderung des Leistungsträgers andererseits) eine Aufrechnungslage. Die Gegenforderung war auch wirksam und fällig, weil die zugrundeliegenden Aufhebungs- und Erstattungsbescheide sämtlich bestandskräftig sind. Die Hauptforderung war erfüllbar (vgl. § 387 BGB). Auch die weitere Voraussetzung des § 43 SGB II, wonach die Aufrechnung durch einen Leistungsträger nach dem SGB II erfolgt und der Aufrechnungsgegner der Inhaber eines Anspruchs auf Geldleistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts nach dem SGB II sein muss, war hier gegeben.

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b) Soweit die Klägerin gegen die vom Beklagten vorgenommene Aufrechnung anführt, diese sei verfassungswidrig, weil sie die Leistungsberechtigten zwinge, für längere Zeit mit Geldleistungen unterhalb des Existenzminimums zu leben, folgt die Kammer dieser Auffassung nicht.

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Dabei ist nach Auffassung der Kammer zwar das physische Existenzminimum, also die absolut unerlässlichen Mittel zur Bestreitung des Lebensunterhaltes, in jedem Fall zu gewährleisten. Insoweit dürften auch keine faktischen Kürzungen durch Aufrechnungen des SGB II-Leistungsträgers erfolgen. Das physische Existenzminimum ist jedoch nicht gleichzusetzen mit dem soziokulturellen Existenzminimum, das sich in der Höhe der ungekürzten SGB II-Leistungen ausdrückt. Insoweit hatte auch das Bundesverfassungsgericht bereits entschieden, dass die Verfassung keineswegs die Gewährung bedarfsunabhängiger, voraussetzungsloser Sozialleistungen gebietet (vgl. Urteile vom 07.07.2010 – 1 BvR 2556/09 und 09.02.2010 - 1 BvL 1/09, 1 BvL 3/09, 1 BvL 4/09 - BVerfGE 125, 175, 229).

19

Das Bundessozialgericht (BSG, Urteil vom 09.03.2016 - B 14 AS 20/15 R) hat insoweit entschieden, dass die gesetzliche Ermächtigung zur Aufrechnung in Höhe von bis zu 30% des Regelbedarfs über bis zu drei Jahre mit der Verfassung vereinbar sei. Das Grundrecht auf Gewährleistung eines menschenwürdigen Existenzminimums sei als Gewährleistungsrecht auf die Ausgestaltung durch den Gesetzgeber angelegt. Gegenstand dieser Ausgestaltung seien nicht nur die Höhe der Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts und das Verfahren ihrer Bemessung, sondern könnten auch Leistungsminderungen und Leistungsmodalitäten sein. Die Aufrechnung nach § 43 SGB II, die die Höhe der Leistungsbewilligung unberührt lasse, aber die bewilligten Geldleistungen nicht ungekürzt dem Leistungsberechtigten zur eigenverantwortlichen Verwendung zur Verfügung stelle, sei eine verfassungsrechtlich zulässige Ausgestaltung des Gewährleistungsrechts. […] Zudem enthielten die gesetzlichen Regelungen mit der Einräumung von Ermessen hinsichtlich des Ob und der Dauer einer Aufrechnung, der Möglichkeit einer Aufhebung des Dauerverwaltungsakts der Aufrechnung bei Änderung der Verhältnisse sowie mit der möglichen Bewilligung ergänzender Leistungen während der Aufrechnung bei besonderen Bedarfslagen hinreichende Kompensationsmöglichkeiten, um verfassungsrechtlich nicht hinnehmbaren Härten im Einzelfall zu begegnen.

20

Diese Ausführungen hält auch die Kammer für zutreffend und schließt sich ihnen aus eigener Überzeugung an. Das BSG entschied im Übrigen für den - hier nicht einschlägigen - Fall einer Aufrechnung in Höhe von 30 % des Regelbedarfs. Die Ausführungen entfalten daher im Fall einer Aufrechnung in Höhe von - wie hier - lediglich 10 % erst Recht Geltung. Eine gegen die o.g. Entscheidung des BSG gerichtete Verfassungsbeschwerde war ohne Erfolg geblieben (BVerfG [K], Beschluss vom 10.08.2017 - 1 BvR 1412/16).

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c) Eine Aufrechnung von bestandskräftigen Forderungen des SGB II-Leistungsträgers mit laufenden SGB II- Leistungen ist auch während eines laufenden Privatinsolvenzverfahrens des Leistungsempfängers möglich.

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Dabei regelt § 96 Insolvenzordnung (InsO) verschiedene - hier nicht einschlägige - Fälle der Unzulässigkeit einer Aufrechnung. Ein generelles Aufrechnungsverbot lässt sich dieser Vorschrift indes gerade nicht entnehmen.

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Vielmehr ist nach Auffassung der Kammer zu berücksichtigen, dass nach § 94 InsO im Fall, dass ein Insolvenzgläubiger zur Zeit der Eröffnung des Insolvenzverfahrens kraft Gesetzes oder auf Grund einer Vereinbarung zur Aufrechnung berechtigt ist, dieses Recht durch das Verfahren nicht berührt wird.

24

Das Insolvenzverfahren wurde hier am 29.12.2011 eröffnet, weshalb jedenfalls die Forderung aus dem Aufhebungs- und Erstattungsbescheid vom 06.04.2011 über 947,16 € zu diesem Zeitpunkt bereits bestand. § 43 SGB II berechtigte den Beklagten also bereits zum Zeitpunkt der Eröffnung des Insolvenzverfahrens zur Aufrechnung, weshalb nach § 94 InsO die Eröffnung des Verfahrens auf das Recht zur Aufrechnung keine Auswirkung haben konnte.

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Unabhängig von den vorgenannten Vorschriften der Insolvenzordnung ist hier nach Auffassung der Kammer allerdings maßgeblich, dass die Insolvenzordnung darauf gerichtet ist, eine Gläubigerbenachteiligung zu verhindern. Durch eine Aufrechnung soll sich nicht ein Gläubiger besserstellen können als andere. Die Leistungen nach dem SGB II dienen aber der Sicherung des Existenzminimums und sind daher ohnehin der Pfändung nicht unterworfen. Wenn also der Beklagte hier eine Aufrechnung mit SGB II-Leistungen vornimmt, bleibt diese für die anderen Gläubiger völlig ohne Belang. Die Frage einer Insolvenz spielt daher für eine Aufrechnung innerhalb der Leistungsbeziehung zwischen dem SGB II- Leistungsträger und dem SGB II-Leistungsempfänger überhaupt keine Rolle und kann daher auch im Rahmen einer nach § 43 SGB II zu treffenden Ermessensentscheidung vollständig unberücksichtigt bleiben. Insoweit sieht sich die Kammer auch durch eine Entscheidung des Bundessozialgerichts (Urteil vom 10.12.2013 – B 5 RJ 18/03 R) bestätigt, welches erklärte, dass während des laufenden Insolvenzverfahrens auch Verrechnungen nach § 52 SGB I grundsätzlich wirksam sind. Es ist nicht ersichtlich, warum für Aufrechnungen nach § 43 SGB II Abweichendes gelten sollte (zur Frage einer möglichen Aufrechnung während eines laufenden Insolvenzverfahrens wohl grundsätzlich zustimmend auch: LSG Niedersachsen-Bremen, Urteil vom 06.02.2017 – L 11 AS 862/14 und Beschluss vom 31.07.2013 – L 11 AS 1371/10 B und SG Aurich, Urteil vom 09.02.2012 - S 35 AS 16/11).

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Im Übrigen hat der Beklagte spätestens im Widerspruchsbescheid vom 18.04.2017 sein Ermessen umfassend und in nicht zu beanstandender Weise ausgeübt.

27

Ob der Umstand, dass der Klägerin nach Ablauf der Wohlverhaltensperiode zwischenzeitlich mit Beschluss des Amtsgerichts Braunschweig vom 16.02.2018 die Restschuldbefreiung erteilt wurde, hier dazu führt, dass auch die Forderungen des Beklagten erloschen sind, konnte offenbleiben, weil Prüfungsmaßstab des Gerichts im Rahmen einer isolierten Anfechtungsklage der Zeitpunkt des Erlasses des Widerspruchsbescheids - hier am 18.04.2017 - war (vgl. Keller in: Meyer-Ladewig/Keller/Leitherer/Schmidt, SGG Kommentar, 12. Aufl., § 54 Rn. 33 m.w.N.).

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Nach alledem war die Klage abzuweisen.

29

Die Kostenentscheidung ergeht nach § 193 SGG.

 


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