Urteil vom Sozialgericht Mainz (14. Kammer) - S 14 AS 260/19

Tenor

1. Der Bescheid vom 8. März 2019 in Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 25. März 2019 wird aufgehoben und der Beklagte dem Grunde nach verurteilt, der Klägerin zu 1 seit dem 18. Februar 2019 und den übrigen Klägern seit dem 7. März 2019 unter Anrechnung des Einkommens sowie von Ortsabwesenheiten für einen Bewilligungszeitraum Arbeitslosengeld II (Klägerin zu 1 und Kläger zu 2) bzw. Sozialgeld (weitere Kläger) zu gewähren. Im Übrigen wird die Klage abgewiesen.

2. Der Beklagte hat den Klägern ihre notwendigen außergerichtlichen Kosten zu erstatten.

Tatbestand

1

Die Beteiligten streiten um Grundsicherungsleistungen seit dem 1. März 2019.

2

Die Kläger sind eine Familie aus Rumänien. Die Klägerin zu 1 und der Kläger zu 2 sind seit Oktober 2012 verheiratet. Die weiteren Kläger sind ihre Kinder.

3

Laut Feststellung des Sozialgerichts Hannover betrieben die Klägerin zu 1 und der Kläger zu 2 in Rumänien eine Gärtnerei. Das Einkommen von monatlich 100 Euro habe nicht zur Sicherung des Lebensunterhalts ausgereicht.

4

Die Klägerin zu 4 wurde 2008 in Spanien geboren.

5

Der Kläger zu 5 wurde 2009 in Spanien geboren.

6

Die Klägerin zu 6 wurde 2011 in Spanien geboren

7

Am 17. November 2012 reiste der Kläger zu 2 ins Bundesgebiet ein. Der Kläger zu 2 gab an, auf Arbeitssuche zu sein. Die Ausländerbehörde der Landeshauptstadt Hannover erteilte eine Bescheinigung nach § 5 Freizügigkeitsgesetz bis zum 16. Mai 2013.

8

Am 17. November 2012 der Kläger zu 2 zog er aus seiner Unterkunft aus.

9

Laut Ausländerakte stand der Kläger zu 2 im Verdacht am 4., 10. und 11. Dezember 2012 Wohnungseinbrüche und zwischen 10. und 12. Dezember 2012 vier Warenkreditbetruge begangen zu haben.

10

Am 23. Juli 2013 erfolgte Mitteilung der Polizei Baden-Württemberg an die Ausländerbehörde Hannover über einen besonders schweren Fall des Diebstahls (§ 243 StGB) des Klägers zu 2 im Galeria Kaufhof Reutlingen.

11

Am 3. August 2013 erfolgte gegen den Kläger zu 2 Anzeige wegen Ladendiebstahls und wegen Wohnungseinbruchs.

12

Am 2. Oktober 2013 und am 26. Oktober 2013 erfolgten gegen den Kläger zu 2 jeweils Anzeigen wegen des Verdachts auf Ladendiebstahl und am 28. Oktober 2013 wegen Altmetalldiebstahls.

13

Am 21. Oktober 2013 zogen die Klägerin zu 1 und der Kläger zu 2, die Klägerin zu 4, der Kläger zu 5 und die Klägerin zu 6 in die Wohnung am Wiesengrunde 11 in Hannover. Es handelte sich um eine Notunterkunft der Landeshauptstadt Hannover. Diese Wohnung wurde der Meldebehörde der Landeshauptstadt Hannover gemeldet.

14

Am 26. Oktober 2013 erfolgte Anzeige gegen den Kläger zu 2 wegen gemeinschaftlichen Ladendiebstahls in Hannover.

15

Am 18. Dezember 2013 wurde der Kläger zu 2 von der Staatsanwaltschaft Hannover wegen des Wohnungseinbruchs am 4. Dezember 2012 und am 3. August 2013 angeklagt. Wegen des Wohnungseinbruchs am 3. August 2013 wurde er zu einem Jahr Haftstrafe auf Bewährung verurteilt.

16

Der Kläger zu 2 wurde weiterhin am 13. Januar 2014 wegen des Ladendiebstahls am 26. Oktober 2013 angeklagt. Hier wurde er zu 30 Tagessätzen Geldstrafe verurteilt.

17

Am 21. Januar 2014 zog der Kläger zu 2 aus der Unterkunft mit dem Ziel Rumänien aus und am 21. Februar 2014 wieder ein.

18

Laut Ausländerakte stand der Kläger zu 2 im Verdacht am 10. März 2014 Warenkreditbetrug und am 11. März 2014 einen weiteren Warenkreditbetrug begangen zu haben.

19

Am 28. Mai 2014 wurde die Klägerin zu 3 in Hannover geboren.

20

Die Klägerin zu 1 ist zu einer Geldstrafe verurteilt wegen Leistungserschleichung („Schwarzfahren“) am 21. November 2014, am 3. Dezember 2014 und am 8. Mai 2015.

21

Der Kläger zu 2 verbüßte vom 27. Februar 2015 bis Ende Juni 2015 eine Haftstrafe in Spanien.

22

Am 29. Juni 2015 teilte die Ausländerbehörde der Landeshauptstadt Hannover dem Sozialgericht Hannover mit, es seien keine Anhaltspunkte erkennbar, dass die Kläger über ein Freizügigkeitsrecht und damit über ein Aufenthaltsrecht in der Bundesrepublik verfügten.

23

Laut Rentenauskunft der DRV Bund vom 4. März 2019 hat der Kläger zu 2 vom 10. Juli bis 14. August 2015 abhängig gearbeitet; er verdiente insgesamt 817 Euro.

24

Die Klägerin zu 3 besuchte im Familienzentrum im Wiesengrunde (Hannover) vom 1. August 2015 bis in den März 2019 (Abmeldung: 31. März 2019) die Krippe und den Kindergarten.

25

Der Kläger zu 5 besuchte im Familienzentrum im Wiesengrunde (Hannover) vom 1. August 2015 bis 31. März 2019 den Kindergarten und den Hort.

26

Die Klägerin zu 6 besuchte im Familienzentrum im Wiesengrunde (Hannover) vom 1. August 2015 bis 31. März 2019 den Kindergarten und den Hort.

27

Laut Rentenauskunft der DRV Bund vom 4. März 2019 hat der Kläger zu 2 vom 1. Oktober bis 31. Dezember 2015 gearbeitet; er verdiente insgesamt 1.350 Euro.

28

Die Klägerin zu 1 ist zu einer Geldstrafe verurteilt wegen eines Diebstahls am 17. Dezember 2015.

29

Laut Rentenauskunft der DRV Bund vom 4. März 2019 hat der Kläger zu 2 vom 1. Januar bis 30. April 2016 abhängig gearbeitet; er verdiente insgesamt 1.800 Euro.

30

Die Klägerin zu 1 ist zu einer Geldstrafe verurteilt wegen eines Ladendiebstahls am 6. Februar 2016.

31

Die Klägerin zu 1 ist zu einer Geldstrafe verurteilt wegen eines Ladendiebstahls am 25. Juni 2016.

32

Die Klägerin zu 4 besuchte im Familienzentrum im Wiesengrunde (Hannover) vom 1. August 2016 bis 31. März 2019 den Kindergarten und den Hort. Die Klägerin zu 4 besuchte seit 2015 die Grundschule Tegelweg (Hannover) und im ersten Halbjahr 2018/2019 bis zum 6. März 2019 die Klasse 3d der Grundschule Tegelweg (Hannover).

33

Laut Rentenauskunft der DRV Bund vom 4. März 2019 hat der Kläger zu 2 abhängig vom 1. Januar 2017 bis 31. März 2017 gearbeitet; er verdiente geringfügig insgesamt 1.350 Euro,

34

Die Klägerin zu 8 wurde am 26. Oktober 2017 in Hannover geboren.

35

Laut Rentenauskunft der DRV Bund vom 4. März 2019 hat der Kläger zu 2 weiterhin abhängig wie folgt gearbeitet:

36

- vom 4. bis 29. Dezember 2017 verdiente er 494 Euro.

37

- vom 2. Juli bis 7. August 2018 verdiente er 475 Euro.

38

Er hat somit seit Juli 2015 bis August 2018 12 Monate Beitragszeiten erworben:

39

Die Polizei ermittelt gegen den Kläger zu 2 wegen Führen eines PKWs ohne Pflichtversicherung am 20. Juli 2018.

40

Die Polizei ermittelt gegen den Kläger zu 2 wegen gefährlicher Körperverletzung. am 16. August 2018.

41

Der Kläger zu 7 wurde am 18. Januar 2019 in Hannover geboren.

42

Zum 1. Februar 2019 mietete die Schwester der Klägerin zu 1 für die Kläger ein 160 qm großes Haus in Bad Kreuznach mit einer Monatsmiete von 1.550 Euro (1.200 Euro Nettokaltmiete, 100 Euro Nebenkosten, 250 Euro Heizgas) an.

43

Die Klägerin zu 1 beantragte in Begleitung ihrer Schwester am 27. Februar 2019 für die Familie beim Beklagten Grundsicherung.

44

Die Kläger zu 4, 5 und 6 wechselten in die Grundschule Hofgartenstraße (Bad Kreuznach).

45

Am 8. März 2019 sprachen die Klägerin zu 1 und ihre Schwester beim Beklagten vor und teilten mit, man könne sich nicht mehr an den letzten Arbeitgeber des Klägers zu 2 erinnern.

46

Der Beklagte lehnte den Antrag mit Bescheid vom 8. März 2019 ab.

47

Am 14. März 2019 erhob die Klägerin zu 1 Widerspruch gegen den Bescheid. Die Klägerin zu 1 reichte am gleichen Tag ein Arbeitszeugnis der Beschäftigung des Klägers zu 2 bei der Firma S. Personalmanagement GmbH vom 2. Juli bis 7. August 2018 ein. Demnach wurden dem Kläger zu 2 für den Monat Juli 2018 277,98 Euro ausgezahlt und im Monat August 2018 nach Abzug von Kosten der Arbeitskleidung 25,71 Euro einbehalten. Die Kündigung erfolgte fristlos. Rückfrage des Beklagten bei der Firma S. ergab, dass der Kläger nicht mehr zur Arbeit erschienen war und angab, er wolle nach Rumänien verreisen.

48

Mit Widerspruchsbescheid vom 25. März 2019 wies der Beklagte den Widerspruch als unbegründet zurück. Die Kläger seien von Leistungen der Grundsicherung ausgeschlossen.

49

Die Klägerin zu 1 bezieht Kindergeld und Elterngeld. Vom 28. März 2019 bis 30. Juni 2019 war die Klägerin im Umfang von 7,5 Stunden pro Woche bei der Firma N. B. GmbH beschäftigt. Laut Verdienstabrechnungen erhielt die Klägerin zu 1 für April 357,03 EUR, für Mai 325,09 EUR und für Juni 278,52 EUR Gehalt. Dieses floss ihr am 15. des Folgemonats zu.

50

Gegen den Widerspruchbescheid richteten die Kläger ihre Klage vom 25. April 2019. Sie tragen vor, es liege ein unbefristeter Daueraufenthaltstitel vor. Die Familie sei am 18. Februar 2018 mit dem Auto von Hannover nach Bad Kreuznach umgezogen. Der Kläger zu 2 halte sich gerechnet ab dem Termin der mündlichen Verhandlung am 30. Juli 2019 seit eineinhalb Monaten im Großraum Hannover auf.

51

Die Kläger beantragen,

52

den Bescheid vom 8. März 2019 in Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 25. März 2019 aufzuheben und den Klägern ab dem 18. Februar 2019 Arbeitslosengeld II zu gewähren.

53

Der Beklagte beantragt,

54

die Klage abzuweisen.

55

Er bezieht sich auf den Inhalt der Verwaltungsakte und ihres Widerspruchsbescheids.

56

Wegen der übrigen Einzelheiten des Sachverhalts und des Vorbringens der Beteiligten wird Bezug genommen auf die Gerichtsakten und die Verwaltungsakten der Beklagten, die bei der Entscheidung vorgelegen haben.

Entscheidungsgründe

57

Die Klage hatte im Umfang des Tenors Erfolg. Die Klage ist als einer Anfechtungs- und Leistungsklage (§ 54 Abs. 1 Satz 1 und Abs. 4 SGG) zulässig, wobei die Kläger keinen bezifferten Antrag gestellt, sondern eine Verurteilung dem Grunde nach beantragt haben.

58

Die Klage ist begründet. Der streitgegenständliche Bescheid der Beklagten ist rechtswidrig und beschwert die Kläger. Diese haben dem Grunde nach Anspruch auf Grundsicherungsleistungen.

59

Die Klägerin zu 1 hat dem Grunde nach Anspruch auf Grundsicherungsleistungen seit dem 18. Februar 2019.

60

Nach § 7 Abs. 1 SGB II erhalten Leistungen nach diesem Buch Personen, die 1. das 15. Lebensjahr vollendet und die Altersgrenze nach § 7a noch nicht erreicht haben, 2. erwerbsfähig sind, 3. hilfebedürftig sind und 4. ihren gewöhnlichen Aufenthalt in der Bundesrepublik Deutschland haben (erwerbsfähige Leistungsberechtigte). Ausgenommen sind u.a. (2.) Ausländerinnen und Ausländer, a) die kein Aufenthaltsrecht haben, b) deren Aufenthaltsrecht sich allein aus dem Zweck der Arbeitsuche ergibt oder c) die ihr Aufenthaltsrecht allein oder neben einem Aufenthaltsrecht nach Buchstabe b aus Artikel 10 der Verordnung (EU) Nr. 492/2011 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 5. April 2011 über die Freizügigkeit der Arbeitnehmer innerhalb der Union (ABl. L 141 vom 27.5.2011, S. 1), die durch die Verordnung (EU) 2016/589 (ABl. L 107 vom 22.4.2016, S. 1) geändert worden ist, ableiten, und ihre Familienangehörigen, 3. Leistungsberechtigte nach § 1 des Asylbewerberleistungsgesetzes (Satz 2). Abweichend von Satz 2 Nummer 2 erhalten Ausländerinnen und Ausländer und ihre Familienangehörigen Leistungen nach diesem Buch, wenn sie seit mindestens fünf Jahren ihren gewöhnlichen Aufenthalt im Bundesgebiet haben; dies gilt nicht, wenn der Verlust des Rechts nach § 2 Absatz 1 des Freizügigkeitsgesetzes/EU festgestellt wurde. Die Frist nach Satz 4 beginnt mit der Anmeldung bei der zuständigen Meldebehörde. Zeiten des nicht rechtmäßigen Aufenthalts, in denen eine Ausreisepflicht besteht, werden auf Zeiten des gewöhnlichen Aufenthalts nicht angerechnet. Aufenthaltsrechtliche Bestimmungen bleiben unberührt.

61

Die Klägerin zu 1 erfüllt die Voraussetzungen des § 7 Abs. 1 S. 1 SGB II. Sie ist aber nach § 7 Abs. SGB II von Leistungen ausgeschlossen. Sie verfügt insbesondere aktuell unionsrechtlich über kein eigenes oder abgeleitetes Aufenthaltsrecht.

62

Es besteht kein Aufenthaltsrecht aus § 2 Abs. 1 Nr. 1 FreizügG/EU als Arbeitnehmerin oder Selbständige. Die Klägerin zu 1 war seit Einreise bis zum 27. März 2019 nicht erwerbstätig oder selbständig. Die Aushilfsbeschäftigung bei der Firma N. B. GmbH löst keinen Arbeitnehmerstatus im Sinne des Freizügigkeitsrechts aus. Nach ständiger Rechtsprechung des EuGH ist der Begriff des Arbeitnehmers nach Unionsrecht zu bestimmen und nicht eng auszulegen. Arbeitnehmer ist nur, wer eine tatsächliche und echte Tätigkeit ausübt, wobei Tätigkeiten außer Betracht bleiben, die einen so geringen Umfang haben, dass sie sich als völlig untergeordnet und unwesentlich darstellen.

63

Das wesentliche Merkmal des Arbeitsverhältnisses besteht darin, dass jemand während einer bestimmten Zeit für einen Anderen nach dessen Weisung Leistungen erbringt, für die er als Gegenleistung eine Vergütung erhält. Dabei ist nur auf objektive Kriterien abzustellen. Die rechtliche Einordnung des Verhältnisses zwischen Empfänger und Erbringer der Arbeitsleistung nach nationalem Recht ist unerheblich. Unerheblich ist ferner, woher die Mittel für die Vergütung des Arbeitnehmers stammen, ob das Rechtsverhältnis nach nationalem Recht ein Rechtsverhältnis eigener Rechtsform ist oder wie hoch die Produktivität des Betroffenen ist (vgl. nur EuGH, Urteil vom 7. September 2004, Rs. C-456/02 – Trojani; EuGH, Urteil vom 6. November 2003, Rs. C-413/01 – Ninni-Orasche; EuGH, Urteil vom 4. Juni 2009, verb. Rs. C-22/08 und C-23/08 – Vatsouras und Koupatantze). Das Vorliegen der Arbeitnehmereigenschaft ist im Rahmen einer Gesamtschau aller Umstände der fraglichen Tätigkeiten als auch des fraglichen Vertragsverhältnisses zu entscheiden. Der EuGH hat bereits Tätigkeiten mit einer Wochenarbeitszeit von 10 bis 12 sowie von 5,5 Wochenstunden für die Begründung des Arbeitnehmerstatus ausreichen lassen (EuGH, Urteil vom 3. Juni 1986, Rs. 139/85 – Kempf; EuGH, Urteil vom 4. Februar 2010, Rs. C–14/09 – Genc). Der EuGH hat auch keinen Mindestbetrag für eine Vergütung festgelegt, unterhalb derer ein Unionsbürger nicht oder nicht mehr als Arbeitnehmer anzusehen ist. Er hat bereits ein Monatseinkommen von 175 Euro ausreichen lassen. Der Gerichtshof hat allerdings weitere Kriterien benannt, die zur Klärung herangezogen werden können, ob es sich um eine tatsächliche und echte Tätigkeit handelt, darunter ein Anspruch auf bezahlten Urlaub und Lohnfortzahlung im Krankheitsfall, die Anwendung eines gültigen Tarifvertrags der Branche auf dieses Beschäftigungsverhältnis oder die bereits bestehende Dauer des Arbeitsverhältnisses (EuGH, Urteil vom 4. Februar 2010, Rs. C-14/09 – Genc). Eine nach nationalem Recht geringfügige Beschäftigung kann eine Arbeitnehmereigenschaft begründen. Gegen eine Arbeitnehmereigenschaft spricht aber, wenn unter Würdigung der angeführten Umstände in unangemessener Weise öffentliche Leistungen in Anspruch genommen werden (vgl. EuGH, Urteil vom 20. September 2001 - C-184/99 -, juris; Hessischer Verwaltungsgerichtshof, Beschluss vom 05. März 2019 – 9 B 56/19 –, juris Rn. 8).

64

Vorliegend spricht für die Arbeitnehmereigenschaft, dass die Klägerin zumindest für drei Monate eine Beschäftigung mit einem Monatseinkommen von 357,03 EUR (April 2019), 325,09 EUR (Mai 2019) und 278,52 EUR (Juni 2019) Gehalt aufgenommen hat.

65

Dagegen spricht jedoch, dass die Umstände der Einreise, die fehlenden Qualifizierungsbemühungen zum Erlernen der deutschen Sprache, die nur kurze Dauer und der geringe Umfang der gehabten Beschäftigung der Klägerin zu 1 und die musterhafte Aufnahme von Beschäftigungen dieser Art ohne Nachhaltigkeit, die begangenen Straftaten, Grund zur Annahme geben, dass die Kläger unter dem Deckmantel des vermeintlichen Arbeitnehmerstatus in unangemessener Weise Sozialleistungen in Anspruch nehmen wollen.

66

Die Klägerin zu 1 und 2 haben angegeben, von ihrer Arbeit in Rumänien nicht haben leben zu können und daher ausgewandert zu sein.

67

Die Klägerin zu 1 und der Kläger zu 2 sind Ende 2013 aus Spanien ins Bundesgebiet ungelernt eingereist, ohne sich eine berufliche Perspektive aufzubauen und ohne die deutsche Sprache ausreichend zu lernen. Die Klägerin zu 1 spricht kaum Deutsch. Sie hat bis 2019 keine Erwerbstätigkeit aufgenommen. Nach Angabe der Schwester der Klägerin zu 1 in der mündlichen Verhandlung spricht der Kläger zu 2 kein Deutsch und ist mangels Gesprächspartner in Bad Kreuznach zu seinen rumänischen Freunden nach Hannover gezogen. Dies und seine nur selektiven, kurzen, geringfügigen und zuletzt abrupt selbst beendeten Erwerbstätigkeit deuten nicht darauf hin, dass er im zum eigenen Unterhalt oder zu dem seiner Familie erwerbstätig sein möchte.

68

Die Klägerin zu 1 folgt in ihrer Erwerbstätigkeit dem Verhalten des Klägers zu 2. Der Kläger zu 2 hat immer wieder kurze Beschäftigungen aufgenommen und dadurch ergänzend Sozialleistungen erhalten. Dieses Muster setzt sich nach der Ablehnung der Sozialleistungen durch den Beklagten nunmehr in der bereits wieder beendeten Beschäftigung der Klägerin zu 1 fort. Eine erwerbsarbeitsbasierte Perspektive für sich und ihre Familie bauen die Klägerin zu 1 und der Kläger zu 2 damit nicht auf. Es drängt sich auch nicht der Eindruck auf, dass dies gewollt wäre.

69

Der Umfang der Beschäftigung der Klägerin zu 1 ist noch nicht einmal geeignet, dass die Klägerin zu 1 ihren eigenen Lebensunterhalt in Form des Regelbedarfs und der (kopfteiligen) enormen Belastungen aus der Wohnungsmiete decken kann. Hinzu kommt die nur kurze Beschäftigungsdauer, ohne dass eine Anschlussbeschäftigung erreicht und in der mündlichen Verhandlung nachgewiesen werden konnte. Dies ist angesichts einer Arbeitsmarktlage, in der im Reinigungsgewerbe händeringend Mitarbeiter gesucht werden, nicht nachvollziehbar.

70

Die Klägerin zu 1 und der Kläger zu 2 haben während der Dauer ihres Aufenthalts eine Vielzahl von Straftaten begangen.

71

In der Würdigung der Gesamtumstände geht die erkennende Kammer nicht von einer Arbeitnehmereigenschaft im Sinne des Unionsrechts aus. Sie geht vielmehr davon aus, dass die Klägerin zu 1 (und auch der Kläger zu 2) bewusst darauf setzen, für sich und die weiteren Kläger in unangemessener Weise staatliche Leistungen in Anspruch zu nehmen.

72

Es besteht für die Klägerin zu 1 seit 18. Februar 2019 auch kein abgeleitetes Aufenthaltsrecht als Familienangehörige aufgrund einer Erwerbstätigkeit des Klägers zu 2. Die Kammer muss nicht entscheiden, ob hier während der gesamten Aufenthaltsdauer kein Arbeitnehmerstatus bestand. Ein in den streitgegenständlichen Zeitraum hineinwirkendes, nachwirkendes Aufenthaltsrecht aufgrund des vom 2. Juli bis 7. August 2018 bestehenden Arbeitsverhältnisses des Klägers zu 2 mit der Firma Schaffrin kann aus rechtlichen Gründen nicht bestehen. Nach § 2 Abs. 2 S. 2 FreizügG/EU bleibt bei unfreiwilliger durch die zuständige Agentur für Arbeit bestätigte Arbeitslosigkeit nach weniger als einem Jahr Beschäftigung das Freizügigkeitsrecht als Arbeitnehmer während der Dauer von sechs Monaten unberührt. Die sechs Monate wären am 6. Februar 2019 abgelaufen gewesen.. Eine Unfreiwilligkeit dürfte aber ohnehin nicht vorliegen, da der Kläger zu 2 außerordentlich gekündigt wurde, da er nicht mehr zur Arbeit erschien.

73

Ein Daueraufenthaltsrecht nach § 4a FreizügG/EU ist bei der Klägerin zu 1 nicht entstanden. Nach § 4a Abs. 1 S.1 FreizügG/EU haben Unionsbürger, die sich seit fünf Jahren ständig rechtmäßig im Bundesgebiet aufgehalten haben, unabhängig vom weiteren Vorliegen der Voraussetzungen des § 2 Abs. 2 FreizügG/EU das Recht auf Einreise und Aufenthalt (Daueraufenthaltsrecht). Es fehlt hier an der Rechtmäßigkeit des Aufenthalts. Die Klägerin zu 1 kann sich – sofern überhaupt davon ausgegangen werden kann, dass sie in der Bundesrepublik Deutschland ernsthafte Anstrengungen zur Aufnahme einer Erwerbstätigkeit entfaltet hat oder entfalten wird – allein auf ein Freizügigkeitsrecht zur Arbeitsuche berufen. Dieses bestand nach § 2 Abs. 2 Nr. 1 a) FreizügG/EU nur für bis zu sechs Monate nach Einreise ins Bundesgebiet und darüber hinaus nur, solange sie nachweisen kann, dass sie weiterhin Arbeit sucht und begründete Aussicht hat, eingestellt zu werden. Einen solchen Nachweis hat die Klägerin zu 1 nicht erbracht.

74

Ein Daueraufenthalt lässt sich auch nicht abgeleitet vom Kläger zu 2 als Familienangehörige begründen. Die episodenhaften und sehr kurzen Beschäftigungsverhältnisse des Klägers zu 2 lassen nicht darauf schließen, dass dieser nach den ersten sechs Monaten des Aufenthalts dauerhaft Arbeit suchte und begründete Aussicht hatte, eingestellt zu werden. Nachweise solcher Bemühungen lagen im Klageverfahren jedenfalls nicht vor.

75

Nichts anderes ergibt sich aus der Erwerbstätigkeit des Klägers zu 2. Der Kläger hatte allenfalls sehr punktuell gearbeitet. Selbst wenn man die Arbeitnehmereigenschaft und die Nachwirkung unterstellen wollte, deckte diese keinen Fünfjahreszeitraum ab.

76

Vorliegend greift jedoch für die Klägerin zu 1 die Rückausnahme (5-Jahres-Regel) des § 7 Abs. 1 S. 4 SGB II. Nach § 7 Abs. 1 Satz 4 SGB II erhalten Ausländerinnen und Ausländer und ihre Familienangehörigen Leistungen nach dem SGB II, wenn sie seit mindestens fünf Jahren ihren gewöhnlichen Aufenthalt im Bundesgebiet haben, solange nicht der Verlust des Freizügigkeitsrecht festgestellt wurde. Die Frist beginnt dabei mit der Anmeldung bei der zuständigen Meldebehörde (§ 7 Abs. 1 Satz 5 SGB II).

77

Nach § 30 Abs. 3 S. 2 SGB I hat jemand den gewöhnlichen Aufenthalt dort, wo er sich unter Umständen aufhält, die erkennen lassen, dass er sich an diesem Ort aufhält oder in diesem Gebiet nicht nur vorübergehend verweilt. Diese Definition gilt für alle Sozialleistungsbereiche des Sozialgesetzbuchs, soweit sich nicht aus seinen besonderen Teilen etwas anderes ergibt (§ 37 SGB I). Der Begriff des gewöhnlichen Aufenthalts ist in erster Linie nach den objektiv gegebenen tatsächlichen Verhältnissen im streitigen Zeitraum zu beurteilen (BSG, Urteil vom 29.05.1991 - 4 RA 38/90). Entscheidend ist, ob der örtliche Schwerpunkt der Lebensverhältnisse faktisch dauerhaft im Inland ist. Dauerhaft ist ein solcher Aufenthalt, wenn und solange er nicht auf Beendigung angelegt, also zukunftsoffen ist. Mit einem Abstellen auf den Schwerpunkt der Lebensverhältnisse im Gebiet der Bundesrepublik soll - auch im Sinne einer Missbrauchsabwehr - ausgeschlossen werden, dass ein Wohnsitz im Wesentlichen nur formal zur Erlangung von Sozialleistungen begründet, dieser jedoch tatsächlich weder genutzt noch beibehalten werden soll (BSG, Urteil vom 30.01.2013 - B 4 AS 54/12 R, Rn. 18 m.w.N.).

78

Die Klägerin zu 1 war seit 21. Oktober 2013 melderechtlich durchgängig in Deutschland registriert. Die Geburt der Klägerin zu 3 im November 2014 in Hannover, die Straftaten in 2015 und 2016, der Besuch der Kinder in der Krippe, der Kita und der Grundschule sowie die Geburt der Kläger zu 6 und zu 7 in Hannover dokumentieren den durchgängigen und nicht auf Beendigung angelegten Aufenthalt.

79

Dieser Aufenthalt ist auch nicht ausreisepflichtig beendet. Zwar besteht der grundsicherungsrechtliche Anspruch aus § 7 Abs. 1 S. 4 SGB II unabhängig von dem durchgehenden Vorliegen einer materiellen Freizügigkeitsberechtigung nach dem FreizügG/EU. Dies gilt aber nur, solange keine Verlustfeststellung durch die Ausländerbehörde vorliegt. Dies ergibt sich aus der Gesetzessystematik mit dem Verweis auf die Verlustfeststellung und wird in den Materialien zur Gesetzesbegründung ebenfalls hervorgehoben (vgl. BT-Drs. 18/10211 S. 14; Landessozialgericht Sachsen-Anhalt, Beschluss vom 07. Februar 2019 – L 2 AS 860/18 B ER – juris Rn. 48). Eine solche Verlustfeststellung nach § 5 Abs. 4 FreizügG/EU unter Berücksichtigung von 5.4.1.4 AVV zum FreizügG/EU hat die zuständige Ausländerbehörde Bad Kreuznach nicht getroffen.

80

Die erkennende Kammer geht unter Berücksichtigung der Antragstellung beim Beklagten durch die Klägerin zu 1 persönlich davon aus, dass die Klägerin zu 1 bereits im Februar 2019 ihren ständigen Aufenthalt in Bad Kreuznach hatte.

81

Für die Dauer des Bewilligungszeitraum gilt § 41 Abs. 3 S. 2 Nr. 2 SGB II. Der Bewilligungszeitraum soll nach dieser Norm insbesondere in den Fällen regelmäßig auf sechs Monate verkürzt werden, in denen (2.) die Aufwendungen für die Unterkunft und Heizung unangemessen sind. Unabhängig von einem wirksamen schlüssigen Konzept stellt der Wert aus § 12 Abs. 1 Wohngeldgesetz plus 10 Prozent die Grenze angemessener Bruttokaltmieten dar. Die Stadt Bad Kreuznach ist nach der Anlage zur Wohngeldverordnung der Mietenstufe III zuzuordnen. Nach § 12 Abs. 1 Abs. 1 Wohngeldgesetz liegt der Wert für einen Fünfpersonenhaushalt bei 750 Euro. Für jedes weitere Haushaltsmitglied kommen 91 Euro dazu. Dies sind 1.023 Euro. Die Angemessenheitsgrenze liegt 10 Prozent höher bei 1.125,30 Euro. Auch wenn dieser Betrag erst nach einer Kostensenkungsaufforderung für die Kläger Auswirkungen auf die Leistungen haben wird, gilt er bereits ab Leistungsantrag als angemessen. Die Kläger wohnen in einer Wohnung mit einer Bruttokaltmiete von 1.300 Euro. Dies liegt über der Angemessenheitsgrenze. Der Bewilligungszeitraum beginnt am 1. Februar 2019, die Leistung wird anteilig erbracht (§ 40 Abs. 1 S. 3 SGB II).

82

Die Klage der Klägerin zu 1 war daher vollumfänglich erfolgreich.

83

Der Kläger zu 2 hat dem Grunde nach Anspruch auf Grundsicherungsleistungen seit dem 7. März 2019.

84

Auch dieser Anspruch ergibt sich aus der Rückausnahme des § 7 Abs. 1 S. 4 SGB II. Die Unterbrechung aufgrund der Reise nach Rumänien und des Gefängnisaufenthalts in Spanien sieht die erkennende Kammer unter Berücksichtigung des Rechtsgedankens aus § 4a Abs. 6 FreizügG/EU als unbeachtlich an. Ob die Zeit der Haft (etwas mehr als 4 Monate 6 Tage) anzurechnen ist, kann dahinstehen, da die fünf Jahre in diesem Fall am 24. Februar 2019 abgelaufen wären. Das Gericht geht aber von einer Leistungsberechtigung in Bad Kreuznach frühestens ab dem 7. März 2019 aus. Dies stützt das Gericht auf die Angabe der Schule der Klägerin zu 4 in Hannover. Diese habe die Schule bis zum 6. März 2019 besucht. Es erscheint dem Gericht daher fernliegend, dass sich beide Elternteile zwischen dem 18. Februar und 6. März 2019 in Bad Kreuznach aufgehalten haben sollen, zumal allein die Klägerin zu 1 das Verfahren bei dem Beklagten betrieben hat. Einen Nachweis für einen früheren Umzug hat der Kläger zu 2 nicht vorgelegt.

85

Inwieweit der Kläger zu 2 einen Leistungsanspruch für den Zeitraum seiner Ortsabwesenheit hat, wird der Beklagte in seinem Bescheid zu beurteilen haben.

86

Der Bewilligungszeitraum beginnt am 1. Februar 2019 (§ 40 Abs. 3 S. 3 SGB II); die Leistung wird im Monat Februar 2019 nicht und im März 2019 anteilig erbracht (§ 40 Abs. 1 S. 3 SGB II).

87

Die Klage des Klägers zu 2 war daher teilweise erfolgreich und im Übrigen abzuweisen.

88

Die Kläger zu 4, 5 und 6 haben dem Grunde nach Anspruch auf Grundsicherungsleistungen seit dem 7. März 2019.

89

Auch dieser Anspruch ergibt sich aus der Rückausnahme des § 7 Abs. 1 S. 4 SGB II, die auch für Familienangehörige gilt. Die Kläger zu 4 bis 6 sind nicht als Ausländer im Sinne des § 7 Abs. 1 S. 4 SGB II leistungsberechtigt, da sie das 15. Lebensjahr noch nicht vollendet haben, was nach § § 7 Abs. 1 S. 1 Nr. 1 SGB II Bezugsvoraussetzung ist. Sie erhalten aber in Zusammenschau mit § 7 Abs. 2 SGB II als Familienangehörige Leistungen. Die Kammer geht bei ihnen auch von einem gewöhnlichen Aufenthalt von mehr als fünf Jahren im Bundesgebiet aus. Dies ergibt sich aus dem Kita- bzw. Schulbesuch.

90

Auch hier geht die Kammer aufgrund der Angabe zum Schulbesuch bei der Klägerin zu 4 davon aus, dass die Kläger zu 4 bis 6 erst am 7. März 2019 ihren gewöhnlichen Aufenthalt in Bad Kreuznach hatten.

91

Der Bewilligungszeitraum beginnt am 1. Februar 2019 (§ 40 Abs. 3 S. 3 SGB II); die Leistung wird im Monat Februar 2019 nicht und im März 2019 anteilig erbracht (§ 40 Abs. 1 S. 3 SGB II).

92

Die Klage der Kläger zu 4 bis 6 war daher teilweise erfolgreich und im Übrigen abzuweisen.

93

Die Kläger zu 3, 7 und 8 haben dem Grunde nach Anspruch auf Grundsicherungsleistungen seit dem 7. März 2019.

94

Auch dieser Anspruch ergibt sich aus der Rückausnahme des § 7 Abs. 1 S. 4 SGB II, die auch für Familienangehörige gilt. Die Regelungen war teleologisch zu reduzieren.

95

Nach dem klaren Wortlaut gilt diese Regelung zwar nur für Familienangehörige, die seit mindestens fünf Jahren ihren gewöhnlichen Aufenthalt im Bundesgebiet haben. Anders kann diese Norm nicht gelesen und ausgelegt werden. Dies war auch grundsätzlich von den Verfassern des Gesetzentwurfs so gewollt. In der Gesetzentwurfsbegründung heißt es:

96

Abweichend hiervon kommen für die von den Leistungsausschüssen nach § 7 Absatz 1 Satz 2 Nummer 2 (neu) erfassten Personen und ihre Familienangehörigen nun erstmals unter bestimmten Voraussetzungen auch Leistungen nach dem SGB II in Betracht (vergleiche § 7 Absatz 1 Satz 4 und 5 – neu –). Dies ist allerdings erst nach fünf Jahren der Fall, erst ab diesem Zeitpunkt ist von einer Verfestigung des Aufenthaltes auszugehen. Die Verfestigung tritt nicht ein oder entfällt, wenn Unionsbürgerinnen und Unionsbürger nach § 7 Absatz 1 Satz 1 des Freizügigkeitsgesetzes/EU zur Ausreise verpflichtet sind, weil die Ausländerbehörde den Verlust des Freizügigkeitsrechts nach § 2 Absatz 7, § 5 Absatz 4 oder § 6 Absatz 1 FreizügG/EU festgestellt hat. Bis zum Ablauf von fünf Jahren oder – wenn der Verlust des Freizügigkeitsrechts festgestellt wurde – auch nach Ablauf von fünf Jahren, sind auch die in § 7 Absatz 1 Satz 2 Nummer 2 genannten erwerbsfähigen Ausländerinnen und Ausländer und ihre Familienangehörigen dem Leistungssystem des SGB XII zugewiesen, in dem ihnen aber nur ein Anspruch auf eine zeitlich beschränkte Überbrückungsleistung zusteht. Diese zielt in erster Linie darauf ab, den Lebensunterhalt bis zur Ausreise zu sichern und gegebenenfalls auf Antrag die Ausreise – durch die darlehensweise Gewährung der Reisekosten – zu ermöglichen. Den betroffenen Personen ist die Rückreise in das jeweilige Heimatland gefahrlos möglich und zumutbar. Die Leistungsausschlüsse erfassen auch Drittstaatsangehörige.

97

(Deutscher Bundestag, Drs. 18/10211, S. 14)

98

Die Verfasser des Gesetzentwurfs haben ein Regelungskonzept etabliert, bei dem die es auf die Verfestigung des Aufenthalts durch einen fünfjährigen Aufenthalt ankommt.

99

Auch systematisch findet sich kein anderes Auslegungsergebnis. In § 7 Abs. 1 S. 2 SGB II wird den Familienangehörigen ein zum „Ausländer“ akzessorisches, bedingungsloses Recht gewährt. Die dort definierten Bedingungen müssen vom Ausländer erfüllt werden. In § 7 Abs. 1 S. 4 SGB II wird aber die Bedingung des mindestens fünfjährigen Aufenthaltsrechts sowohl an den Ausländer als auch an Familienangehörige geknüpft.

100

Auch nach Sinn und Zweck ist diese Auslegung nachvollziehbar, da nicht gewünscht ist, dass Familienangehörige aus dem Ausland ins Bundesgebiet nachkommen und Leistungsansprüche geltend machen.

101

Diese Rechtsauslegung steht jedoch bei leiblichen, in Deutschland geborenen und aufwachsenden Kindern eines Ausländers, die noch nicht fünf Jahre alt sind, in einem Konflikt mit Art. 6 Abs. 1 des Grundgesetzes (GG). Art. 6 Abs. 1 GG schützt die Familie zunächst als tatsächliche Lebens- und Erziehungsgemeinschaft der Kinder und ihrer Eltern. Dieser beschriebenen verfassungsrechtlichen Pflicht des Staates zum Schutz der Familie entspricht ein Anspruch des Trägers des Grundrechts aus Art. 6 GG darauf, dass die zuständigen Behörden und Gerichte bei der Entscheidung über das Aufenthaltsbegehren seine familiären Bindungen an im Bundesgebiet lebende Personen angemessen berücksichtigen. Dabei ist grundsätzlich eine Betrachtung des Einzelfalles geboten, bei der auf der einen Seite die familiären Bindungen zu berücksichtigen sind, auf der anderen Seite aber auch die sonstigen Umstände des Einzelfalles (vgl. BVerfG, Beschluss der 1. Kammer des Zweiten Senats vom 31. August 1999 – 2 BvR 1523/99). § 6 Abs. 1 S. 4 SGB II führte bei unter fünfjährigen leiblichen Kindern, die in Deutschland geboren sind und aufwachsen – wie die Kläger zu 3, 7 und 8 – dass nur der Lebensunterhalt eines Teils der Familie gedeckt wird und die Kopfanteile an den Unterkunftskosten ungedeckt bleiben. Faktisch könnte eine solche Familie aufgrund der jungen Kinder den gesetzlichen Anspruch aus § 7 Abs. 1 S. 4 SGB II nicht in Anspruch nehmen und müsste sich auftrennen. Dies stünde im Wertungswiderspruch zu Art. 6 Abs. 1 GG. Die Unterdeckung des Existenzminimums stünde überdies im Konflikt mit dem Grundrecht auf ein menschenwürdiges Existenzminimums aus Art. 1 Abs. 1 GG in Verbindung mit dem Sozialstaatsprinzip des Art. 20 Abs. 1 GG. Dieses sichert jedem Hilfebedürftigen diejenigen materiellen Voraussetzungen zu, die für seine physische Existenz und für ein Mindestmaß an Teilhabe am gesellschaftlichen, kulturellen und politischen Leben unerlässlich sind.

102

Es war eine teleologische Reduktion dahingehend vorzunehmen, dass die Fünfjahresfrist in § 7 Abs. 1 S. 4 SGB II nicht auf Familienangehörige zu beziehen ist, die als leibliche Kinder in Deutschland geboren wurden und hier aufwachsen.

103

Das Gericht war hier zu einer teleologischen Reduktion befugt, da hier ein Wertungswiderspruch aufzulösen war.

104

Nach Art. 20 Abs. 3 GG ist die Rechtsprechung an Gesetz und Recht gebunden. Die Gerichte sind kraft der Bindungswirkung einschlägig gültiger Normen zu deren Anwendung verpflichtet und dürfen sich über diese Gesetzesbindung nicht hinwegsetzen. Der Grundsatz der Gewaltenteilung (Art. 20 Abs. 2 GG) schließt es aus, dass die Gerichte Befugnisse beanspruchen, die die Verfassung dem Gesetzgeber übertragen hat, indem sie sich aus der Rolle des Normanwenders in die einer normsetzenden Instanz begeben und damit der Bindung an Recht und Gesetz entziehen (BVerfG, Kammerbeschlüsse vom 26. September 2011 - 2 BvR 2216/06, 2 BvR 469/07 - und vom 23. Mai 2016 - 1 BvR 2230/15, 1 BvR 2231/15). Diese Verfassungsgrundsätze verbieten es dem Richter nicht, das Recht fortzuentwickeln. Anlass zu richterlicher Rechtsfortbildung besteht insbesondere dort, wo Programme ausgefüllt, Lücken geschlossen, Wertungswidersprüche aufgelöst werden oder besonderen Umständen des Einzelfalls Rechnung getragen wird (BVerfGE 126, 286, 306.) Der Befugnis zur "schöpferischen Rechtsfindung und Rechtsfortbildung" sind allerdings mit Rücksicht auf den aus Gründen der Rechtsstaatlichkeit unverzichtbaren Grundsatz der Gesetzesbindung der Rechtsprechung Grenzen gesetzt (BVerfG, Kammerbeschluss vom 23. Mai 2016 - 1 BvR 2230/15, 1 BvR 2231/15 - NJW-RR 2016, 1366 Rn. 37 m.w.N.). Der Richter darf sich nicht dem vom Gesetzgeber festgelegten Sinn und Zweck des Gesetzes entziehen. Eine der ausnahmsweise zulässigen Methoden ist die teleologische Reduktion. Die Eigenart der teleologischen Reduktion besteht - als Gegenstück zur Analogie - darin, dass sie die auszulegende Vorschrift entgegen ihrem Wortlaut hinsichtlich eines Teils der von ihr erfassten Fälle für unanwendbar hält, weil Sinn und Zweck, Entstehungsgeschichte und der Gesamtzusammenhang der einschlägigen Regelungen gegen eine uneingeschränkte Anwendung sprechen (BVerfG, Kammerbeschluss vom 7. April 1997 - 1 BvL 11/96 - NJW 1997, 2230 <2231>). Bei einer derart planwidrigen Gesetzeslücke ist eine zu weit gefasste Regelung im Wege teleologischer Reduktion auf den ihr nach Sinn und Zweck zugedachten Anwendungsbereich zurückzuführen (BVerwG, Urteil vom 9. Februar 2012 - 5 C 10.11 - BVerwGE 142, 10 Rn. 15; ).BVerwG, Urteil vom 15. Januar 2019 – 1 C 15/18 – juris Rn. 18).

105

Vorliegend hat der Gesetzgeber erkennbar keine spezifische Regelung die Gruppe der in Deutschland geborenen und aufwachsenden Kinder eines Ausländers, die das fünfte Lebensjahr noch nicht vollendet haben, getroffen. Er hat vielmehr ein Regelungskonzept verfolgt, nachdem Familienangehörige ebenfalls fünf Jahre ihren gewöhnlichen Aufenthalt in Deutschland haben müssen, bevor ihr Aufenthalt als verfestigt gelten kann und sie bis zur aufenthaltsrechtlichen Beendigung ihres Aufenthalts leistungsberechtigt sind. Andernfalls sei ihnen die Ausreise in ihr Herkunftsland zumutbar.

106

Im Umgang mit Kleinkindern ist die Verfolgung des Regelungskonzepts ohne Eltern nicht möglich. Ihr Verhältnis zu den Eltern ist vielmehr durch Art. 6 Abs. 1 des Grundgesetzes verfassungsmäßig geschützt. Das Gesetz differenziert dies ungewollt nicht. Es gibt keinen Anhalt dafür, dass der Gesetzgeber bewusst gegen Art. 6 Abs. 1 GG verstoßen wollte.

107

Der Gesetzeswortlaut des § 7 Abs. 1 S. 4 SGB II ist dahingehend zu reduzieren, dass leibliche Kinder eines Ausländers, der diese Norm erfüllt, die in Deutschland geboren sind und aufwachsen und das fünfte Lebensjahr noch nicht vollendet haben, nur für ihre Lebensdauer ihren gewöhnlichen Aufenthalt in Deutschland haben müssen.

108

Nach teleologischer Reduktion haben die Kläger die Voraussetzungen der Rückausnahme erfüllt.

109

Auch hier geht die Kammer davon aus, dass die Kläger zu 3, 7 und 8 erst am 7. März 2019 in Bad Kreuznach waren. Der Bewilligungszeitraum beginnt am 1. Februar 2019 (§ 40 Abs. 3 S. 3 SGB II); die Leistung wird im Monat Februar 2019 nicht und im März 2019 anteilig erbracht (§ 40 Abs. 1 S. 3 SGB II).

110

Die Klage der Kläger zu 3, 7 und 8 war teilweise erfolgreich und im Übrigen abzuweisen.

111

Das Gericht hatte die Leistungsberechtigung der zuständigen Ausländerbehörde nach § 87 Absatz 2 Satz 1 Nummer 2a AufenthG mitzuteilen.

112

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.

113

Die Berufung ist für den Beklagten zugelassen (§ 144 Abs. 1 SGG) und war für die Kläger aufgrund der grundsätzlichen Bedeutung zuzulassen.

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