Urteil vom Sozialgericht Speyer (7. Kammer) - S 7 RI 432/04


Tenor

1. Die Klage wird abgewiesen.

2. Außergerichtliche Kosten sind nicht zu erstatten.

Tatbestand

1

Die Beteiligten streiten über die Gewährung von Altersrente unter Zugrundelegung von im Ghetto Wilna, Litauen, zurückgelegten fiktiven Beitragszeiten.

2

Die am ....1924 in Wilna (Vilnius), Litauen, geborene Klägerin war als Jüdin Verfolgte des nationalsozialistischen Regimes. Sie war ab dem 4.8.1941 im Ghetto Wilna wohnhaft. Ab September 1943 wurde sie in die "Konzentrations-" bzw. "Arbeitslager" Kaiserwald bei Riga, Stutthof bei Danzig und Buchenwald deportiert. Anfang Mai 1945 wurde sie von der russischen Armee befreit. Sie gelangte schließlich mit französischen Kriegsgefangenen nach Frankreich, wo sie bis heute lebt.

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Im unter dem Aktenzeichen 16060123 G 552 beim Regierungspräsidium Düsseldorf geführten Entschädigungsverfahren der B erklärte die Klägerin im Rahmen einer eidesstattlichen Versicherung vom 23.6.1956, sie sei im Ghetto Wilna "unter deutscher Bewachung täglich in Kolonnen außerhalb des Ghettos geführt worden, wo wir zum Wäsche waschen, Holz sägen und anderen schweren, physischen Arbeiten herangezogen wurden."

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Am 2.6.2003 beantragte die Klägerin bei der Beklagten Altersrente wegen der Beschäftigung in einem Ghetto. Im am 6.12.2003 ausgefüllten Formular der Beklagten gab sie an, sie habe als Entlohnung für ihre Arbeit im Ghetto Nahrung erhalten. Eine Menge gab sie nicht an.

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Mit Bescheid vom 11.2.2004 lehnte die Beklagte den Rentenantrag der Klägerin nach Auswertung der Entschädigungsakte ab. Zur Begründung führte sie an, es sei weder glaubhaft gemacht, dass die Klägerin ihre Arbeit im Ghetto freiwillig aufgenommen habe, noch, dass sie dafür ein Entgelt enthalten habe. Insbesondere sei es im Hinblick auf ihre früheren Aussagen im Entschädigungsverfahren widersprüchlich, wenn sie nun behaupte, sie habe aus freiem Willensentschluss gearbeitet.

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Hiergegen legte die Klägerin am 17.2.2004 Widerspruch ein, der mit Widerspruchsbescheid vom 26.4.2004 aus den Gründen des Ausgangsbescheids zurückgewiesen wurde.

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Dagegen hat die Klägerin am 28.5.2004 Klage vor dem Sozialgericht Speyer erhoben.

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Die Klägerin behauptet, sie habe im Ghetto Wilna sozialversicherungspflichtig im Bekleidungsamt gearbeitet. Sie habe keine Zwangsarbeiten im Rechtssinne leisten müssen. Im Entschädigungsverfahren habe sie diesen Begriff lediglich untechnisch verwendet, weil sie die Arbeit aufgrund der Umstände und der Härte als „Zwangsarbeit“ empfunden habe. Die Arbeit im Bekleidungsamt habe sie aber aufgrund eigener Bemühungen aufgenommen und sei mit mehreren Mahlzeiten täglich und zusätzlichen Lebensmitteln, die über den täglichen Ernährungsbedarf hinausgingen, entlohnt worden. Manchmal habe sie auch Kleidung erhalten.

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Die Klägerin beantragt schriftlich und sinngemäß,

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den Bescheid der Beklagten vom 11.2.2004 in der Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 26.4.2004 aufzuheben und die Beklagte zu verurteilen, an sie Altersrente nach Maßgabe der gesetzlichen Bestimmungen zu zahlen.

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Die Beklagte beantragt,

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die Klage abzuweisen.

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Die Beklagte meint, weder die freiwillige Aufnahme der Tätigkeit noch ihre Entgeltlichkeit sei glaubhaft gemacht. Im Übrigen bezieht sie sich auf die Gründe der ergangenen Bescheide.

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Das Gericht hat die Entschädigungsakten der Bezirksregierung Düsseldorf, Aktenzeichen 3 M 319 B sowie der Jewish Claims Conference (JCC) beigezogen.

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Wegen der weiteren Einzelheiten wird Bezug genommen auf die Gerichtsakte und die Verwaltungsakte der Beklagten, die Gegenstand der mündlichen Verhandlung waren.

Entscheidungsgründe

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Die zulässige Klage ist nicht begründet.

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Die streitgegenständlichen Bescheide sind nicht zu beanstanden. Die Klägerin hat keinen Anspruch gegen die Beklagte auf Zahlung von Regelaltersrente gem. § 35 Sozialgesetzbuch Sechstes Buch (SGB VI).

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Gem. § 35 SGB VI hat Anspruch auf Altersrente, wer das 65. Lebensjahr vollendet hat und die allgemeine Wartezeit erfüllt hat. Die allgemeine Wartezeit beträgt gem. § 50 SGB VI fünf Jahre. Auf die Wartezeit werden gem. § 50 Abs. 1 SGB VI Kalendermonate mit Beitragszeiten und gem. § 51 Abs. 4 SGB VI Kalendermonate mit Ersatzzeiten angerechnet. Ersatzzeiten ohne Beitragszeiten genügen allerdings nicht; § 250 Abs. 1 Nr. 4 SGB VI setzt voraus, dass der Verfolgte bereits als „Versicherter“ gilt (vgl. statt vieler SG Hamburg Urteil vom 9.9.2005 – Aktenzeichen S 26 RJ 1253/03). Beitragszeiten sind auch Zeiten, für die nach den Reichsversicherungsgesetzen Pflichtbeiträge oder freiwillige Beiträge geleistet worden sind, § 247 Abs. 3 SGB VI, oder für die Pflichtbeiträge nach besonderen Vorschriften als gezahlt gelten, § 55 Abs. 1 Satz 2 SGB VI.

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Besondere Vorschrift im Sinne von § 55 Abs. 1 Satz 2 SGB VI ist § 12 des Gesetzes zur Regelung der Wiedergutmachung nationalsozialistischen Unrechts in der Sozialversicherung (WGSVG) bzw. § 15 Abs. 1, Abs. 3 Fremdrentengesetz (FRG). Gem. § 15 Abs. 1 Satz 1 FRG stehen Beitragszeiten, die bei einem nichtdeutschen Träger der gesetzlichen Rentenversicherung zurückgelegt sind, den nach Bundesrecht zurückgelegten Beitragszeiten gleich. Dies gilt gem. § 15 Abs. 3 Satz 1 FRG auch für Zeiten, die bei ihrer Zurücklegung nach dem zu dieser Zeit geltenden Recht als Beitragszeiten im Sinne des Absatzes 1 anrechnungsfähig waren und für die an einen Träger eines Systems der sozialen Sicherheit Beiträge nicht entrichtet worden sind (BSG Urteil vom 7.10.2004 – Aktenzeichen B 13 RJ 59/03 R). Gem. § 12 WGSVG gelten als Pflichtbeitragszeiten auch Zeiten, in denen ein Verfolgter eine rentenversicherungspflichtige Beschäftigung oder Tätigkeit ausgeübt hat, für die aus Verfolgungsgründen Beiträge nicht gezahlt worden sind.

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Rentenversicherungspflichtige Beschäftigungen sind solche, die aufgrund einer Vereinbarung zwischen den Beteiligten zustande kommen (Freiwilligkeit) und den Austausch von nichtselbständiger Arbeit gegen Lohn (Entgeltlichkeit) zum Gegenstand haben (so auch BSG, Urteil vom 14.7.1999 – Aktenzeichen B 13 RJ 61/98 R – zitiert nach Juris Rn. 34 f.; LSG Nordrhein-Westfalen, Urteil vom 29.6.2005 – Aktenzeichen L 8 RJ 97/02). Als weitere Abgrenzungsmerkmale gegenüber anderen Formen der Verrichtung von Arbeit dienen u.a. die persönliche Abhängigkeit des Arbeiters, das Weisungs- bzw. Direktionsrecht des Arbeitgebers und das Eingebundensein des Arbeitnehmers in den organisatorischen Ablauf eines Betriebes (Eingliederung). Entscheidend ist dabei die Zuordnung der Tätigkeit zum Typus der Zwangsarbeit einerseits oder zum Typus der Beschäftigung in sozialrechtlichen Sinne andererseits unter Beachtung der oben genannten Kriterien unter Berücksichtigung der Besonderheiten der zur Beschäftigungszeit herrschenden Umstände und Lebensbedingungen (vgl. BSG Urteil vom 21.4.1999 – Aktenzeichen B 5 RJ 46/98 R; Gagel NZS 2000, 231, 233). Maßgeblich ist dabei das Gesamtbild der ausgeübten Tätigkeit (BSG Urteil vom 14.7.1999 – B 13 RJ 71/98 – NZS 2000, 249, 252).

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Für die Freiwilligkeit haben die Beweggründe, die jemanden zur Aufnahme einer Beschäftigung veranlassen, sowie allgemeine Lebensumstände, die nicht die Arbeit oder das Arbeitsentgelt selbst, sondern das häusliche, familiäre, wohnungs- und aufenthaltsmäßige Umfeld betreffen, bei der Prüfung, ob ein versicherungspflichtiges Beschäftigungsverhältnis vorliegt, außer Betracht zu bleiben. Demgemäß ist für die Versicherungspflicht nicht entscheidend, ob Personen zwangsweise ortsgebunden sind oder sich in einem Lager aufhalten müssen (vgl. BSG Urteil vom 6.4.1960 – Aktenzeichen 2 RU 40/58 - BSGE 12, 71). Zwangsarbeit ist die Verrichtung von Arbeit unter obrigkeitlichem (hoheitlichem) bzw. gesetzlichen Zwang, wie z. B. bei Strafgefangenen und Kriegsgefangenen. Typisch ist dabei z. B. die obrigkeitliche Zuweisung von Arbeitern an bestimmte Unternehmen, ohne dass die Arbeiter selbst hierauf Einfluss haben. Entsprechendes gilt für die Bewachung der Arbeiter während der Arbeit, um zu verhindern, dass diese sich aus dem obrigkeitlichen Gewahrsam entfernen können (BSG Urteil vom 14.7.1999 – B 13 RJ 71/98 – NZS 2000, 249, 252). Eine verrichtete Arbeit entfernt sich um so mehr von einem Arbeits-/ Beschäftigungsverhältnis, als sie durch hoheitliche Eingriffe überlagert wird, denen sich der Betroffene nicht entziehen kann. Dabei ist zu berücksichtigen, dass auch unter den Umständen der nationalsozialistischen Gewaltherrschaft, der damaligen Regulierung des Arbeitsmarktes und dem Bestehen allgemeiner Arbeitspflichten die Gesamtheit aller Arbeitsverhältnisse nicht derart obrigkeitlich/hoheitlich überlagert war, dass sie den Charakter von Zwangsarbeit angenommen hätte (vgl. BSG 18.6.1997 – Aktenzeichen 5 RJ 66/95 - BSGE 80, 250). Dem damaligen differenzierten Regelungssystem, das für die betroffenen Personen in unterschiedlichem Maße Einschränkungen ihrer Arbeitsfreiheit - bis hin zum „Konzentrationslager“ - mit sich brachte, kann bei der Abgrenzung des versicherungspflichtigen Beschäftigungsverhältnisses zur unversicherten Zwangsarbeit angemessen Rechnung getragen werden (vgl. auch Gagel NZS 2000, 231, 233; Langguth DStR 2000, 603, 604).

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Entgeltlichkeit bedeutet das Vorliegen eines wirtschaftlichen Austauschverhältnisses zwischen geleisteter Arbeit und gezahltem Lohn. Zwar ist die Höhe des Entgelts grundsätzlich kein wesentliches Merkmal für das Vorliegen oder Nichtvorliegen eines Beschäftigungsverhältnisses. Art und Umfang der gewährten Leistungen können aber Anhaltspunkte geben, ob das Entgelt als Bezahlung im Sinne einer Entlohnung der geleisteten Arbeit oder zu anderen Zwecken, wie z. B. nur als „Mittel zur Erhaltung der Arbeitskraft“ der zur Arbeit gezwungenen Beschäftigten gedacht ist. Allzu geringfügige Leistungen außerhalb eines jeden Verhältnisses zur erbrachten Leistung haben keinen Entgeltcharakter mehr. (BSG, Urteil vom 19.04.1990, - Aktenzeichen 1 RA 91/88; BSG Urteil vom 22.09.1988, - Aktenzeichen 7 RAr 13/87; BSG Urteil vom 07.10.2004 – Aktenzeichen B 13 RJ 59/03 R).

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Das WGSVG ist gem. § 1 Abs. 1 WGSVG anwendbar für Versicherte, die Verfolgte im Sinne des Bundesentschädigungsgesetzes (BEG) sind und für deren Hinterbliebenen. Verfolgter ist gem. § 1 Abs. 1 BEG, wer aus Gründen politischer Gegnerschaft gegen den Nationalsozialismus oder aus Gründen der Rasse, des Glaubens oder der Weltanschauung durch nationalsozialistische Gewaltmaßnahmen verfolgt worden ist und hierdurch Schaden an Leben, Körper, Gesundheit, Freiheit, Eigentum, Vermögen, in seinem beruflichen oder in seinem wirtschaftlichen Fortkommen erlitten hat.

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Gem. § 15 Abs. 1 Satz 1 Fremdrentengesetz (FRG) stehen Beitragszeiten, die bei einem nichtdeutschen Träger der gesetzlichen Rentenversicherung zurückgelegt sind, den nach Bundesrecht zurückgelegten Beitragszeiten gleich. Dies gilt gem. § 15 Abs. 3 Satz 1 FRG auch für Zeiten, die bei ihrer Zurücklegung nach dem zu dieser Zeit geltenden Recht als Beitragszeiten im Sinne des Absatzes 1 anrechnungsfähig waren und für die an einen Träger eines Systems der sozialen Sicherheit Beiträge nicht entrichtet worden sind (BSG Urteil vom 7.10.2004 – Aktenzeichen B 13 RJ 59/03 R).

25

Gem. § 1 FRG in Verbindung mit § 20 Abs. 1 Satz 1, § 19 Abs. 2 lit. a WGSVG bzw. § 17a FRG ist das FRG auch auf Verfolgte anwendbar, die sich zwar nicht zum deutschen Volkstum bekannt haben, aber zum Zeitpunkt des Verlassens des Vertreibungsgebiets dem deutschen Sprach- und Kulturkreis angehörten.

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Ausreichend ist gem. § 4 FRG und § 3 WGSVG die Glaubhaftmachung der erheblichen Tatsachen. Glaubhaftmachung ist die überwiegende Wahrscheinlichkeit des Vorliegens der Tatsache (§ 3 Abs. 1 Satz 2 WGSVG; so auch Bundesgerichtshof - BGH , Beschluss vom 9. 2. 1998 – Aktenzeichen II ZB 15-97 – NJW 1998, 1870). Die überwiegende Wahrscheinlichkeit ist im Sinne einer guten Möglichkeit, dass ein bestimmter Sachverhalt so liegt, wie behauptet (vgl. BSG Urteil vom 10.08.1989 - Aktenzeichen 4 RA 94/89) bzw. dass der Vorgang sich so zugetragen hat, wobei durchaus gewisse Zweifel bestehen bleiben können, zu verstehen (BSG Urteil vom 22.9.1977 – Aktenzeichen 10 RV 15/77 - BSGE 45, 9 ff.). Dieser Beweismaßstab ist durch seine Relativität gekennzeichnet. Es muss nicht, wie bei der Wahrscheinlichkeit des ursächlichen Zusammenhangs, absolut mehr für als gegen die glaubhaft zu machende Tatsache sprechen (LSG Nordrhein-Westfalen Urteil vom 27.02.2004 – Aktenzeichen L 13 RJ 61/01). Es reicht die gute Möglichkeit aus, d.h. es genügt, wenn bei mehreren ernstlich in Betracht zu ziehenden Möglichkeiten das Vorliegen einer davon relativ am wahrscheinlichsten ist, weil nach Gesamtwürdigung aller Umstände besonders viel für diese Tatsache spricht; von mehreren ernstlich in Betracht zu ziehenden Sachverhaltsvarianten muss den übrigen gegenüber einer das Übergewicht zukommen (BSG Beschluss vom 8.8.2001 – Aktenzeichen B 9 V 23/01 B - BSG SozR 3-3900 § 15 Nr. 4). Zu den Mitteln der Glaubhaftmachung zählen gem. § 294 Zivilprozessordnung (ZPO) und § 3 Abs. 2 Satz 1 WGSVG alle Beweismittel, auch die Versicherung an Eides statt. Dies gilt wegen des eingeschränkten Beweismaßstabs der Glaubhaftmachung auch für die eidesstattliche Versicherung des Klägers selbst (offen gelassen LSG Berlin Urteil vom 26.3.2003 - Aktenzeichen L 6 RA 44/02; a.A. mit Hinweis darauf, dass § 118 Abs. 1 Satz 1 Sozialgerichtsgesetz - SGG - nicht auf die Vorschriften der ZPO über die Parteivernehmung verweist LSG Berlin Urteil vom 26.7.2004 - Aktenzeichen L 16 RA 65/03, wobei aber nicht überzeugend der Unterschied zwischen Vollbeweis und Glaubhaftmachung herausgearbeitet wird).

27

Zur rentenrechtlichen Beurteilung der streitgegenständlichen Beitragszeiten sind die Regelungen des FRG heranzuziehen. Das Ghetto Wilna war im heutigen Litauen und damit im sog. Reichskommissariat Ostland belegen. Es handelte sich mithin trotz der vielfältigen Abhängigkeiten dem Deutschen Reich gegenüber um Ausland (vgl. BSG Urteil vom 23.8.2001 - Aktenzeichen B 13 RJ 59/00 R).

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Die Klägerin ist Verfolgte im Sinne des § 1 Abs. 1 BEG. Als Jüdin wurde sie aufgrund ihres Glaubens durch nationalsozialistische Gewaltmaßnahmen verfolgt.

29

Die Klägerin konnte aber nicht glaubhaft machen, dass sie eine Tätigkeit im Bekleidungsamt freiwillig aufgenommen hat.

30

Zwar gibt die Klägerin in der Klageschrift an, die Tätigkeit im Bekleidungsamt sei ihr vom Arbeitsamt des Ghettos vermittelt worden. Eine Vermittlung aufgrund eines freien Willensentschlusses der Klägerin ist aber im Hinblick auf die historisch belegten Gegebenheiten im Ghetto Wilna nicht glaubhaft. Die Kammer verkennt dabei nicht, dass in den nationalsozialistischen Ghettos menschenverachtende und unwürdige Bedingungen herrschten, die mit einem heutigen freien Arbeitsmarkt nicht vergleichbar waren.

31

Gestützt auf die von der Beklagten vorgelegten Unterlagen, insbesondere die "Verordnung über die Einführung des Arbeitszwanges für die jüdische Bevölkerung" vom 16.8.1941 des Reichsministers für die besetzten Ostgebiete Rosenberg, ist die Kammer der Ansicht, dass im Ghetto Wilna kein freier Arbeitsmarkt mehr bestand, der das Eingehen von Beschäftigungsverhältnissen aufgrund eines freien Willensentschlusses zuließ. Der Arbeitsmarkt war vielmehr geprägt von Arbeitszwang und obrigkeitlicher Zuweisung von Arbeitsstellen. So heißt es darin u.a. wie folgt:

32

"§ 1
Die in den neu besetzten Ostgebieten ansässigen Juden männlichen und weiblichen Geschlechts im Alter vom vollendeten 14. bis zum vollendeten 60. Lebensjahr unterliegen dem Arbeitszwang. Die Juden werden zu diesem Zweck in Zwangsarbeitsabteilungen zusammengefaßt.

33

§ 2
(1) Wer sich dem Arbeitszwang entzieht, wird mit Zuchthaus bestraft.

34

[…]"
Im "Rundschreiben Nr. 1" des Gebietskommissars der Stadt Wilna an alle Betriebe und Ämter des Gebietes Wilna Stadt vom 15.10.1941 heißt es unter anderem:

35

"[…] 3. Jüdische Arbeitskräfte können nur vom Arbeitsamt Wilna angefordert werden. […]"
Weiter heißt es in den vorläufigen Richtlinien des Reichskommissariats Ostland unter anderem:

36

"[…] 5. […] e) Die arbeitsfähigen Juden sind nach Maßgabe des Arbeitsbedarfs zu Zwangsarbeit heranzuziehen. Die wirtschaftlichen Interessen förderungswerter Landeseinwohner dürfen durch die jüdische Zwangsarbeit nicht geschädigt werden. Die Zwangsarbeit kann in Arbeitskommandos außerhalb der Ghettos, im Ghetto oder, wo Ghettos (z.B. in Werkstatt der Juden) geleistet werden. Die Vergütung hat nicht der Arbeitsleistung zu entsprechen, sondern nur der Bestreitung des notdürftigen Lebensunterhalts für die Zwangsarbeiter und sein nicht arbeitsfähigen Familienmitglieder unter Berücksichtigung seiner anderen Barmittel zu dienen. […]"

37

Aufgrund der sich unter anderem aus diesen Vorschriften ergebenen Organisation und der Durchführung des Arbeitseinsatzes von jüdischen Arbeitskräften in Wilna war damit das Verhältnis zwischen der Klägerin und ihrem "Arbeitgeber" fremdbestimmt und folglich nicht mehr freiwillig, da die deutschen Besatzungsbehörden, insbesondere der Gebietskommissar für die Stadt Wilna, überragenden Einfluss auf die Gestaltung dieses Verhältnisses hatten. Seit Mitte August 1941 ist der Einsatz von jüdischen Arbeitskräften im Reichskommissariat Ostland deshalb generell als nichtversicherte Zwangsarbeit zu charakterisieren. Denn die jüdischen Arbeitskräfte wurden zum Zwecke der Arbeitsaufnahme nicht aus dem öffentlich-rechtlichen Gewaltverhältnis entlassen, sondern die Organisation und die Ausgestaltung der Arbeit war von hoheitlichen Eingriffen überlagert, denen sich weder die jüdischen Arbeitskräfte noch ihre "Arbeitgeber" entziehen konnten (so auch LSG NRW Urteil vom 13.1.2006 - Az. L 4 RJ 113/04 - zitiert nach Juris Rn. 28 ff. m. umfangreichen w.N. insbesondere aus der historischen Primär- und Sekundärliteratur).

38

Mangels Freiwilligkeit der Tätigkeit, kommt es daher für die Entscheidung der Kammer nicht mehr auf deren Entgeltlichkeit an. Damit kann die Kammer auch dahinstehen lassen, ob die von der Klägerin vorgetragenen Mengen an erhaltenen Sachbezügen ausreichend für die Annahme der Entgeltlichkeit waren.

39

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 Sozialgerichtsgesetz (SGG) und entspricht dem Ausgang des Rechtsstreits.

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