Urteil vom Sozialgericht Trier (4. Kammer) - S 4 AS 150/14

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Tenor

1. Die Klage wird abgewiesen.

2. Außergerichtliche Kosten haben die Beteiligten einander nicht zu erstatten.

3. Die Berufung wird zugelassen.

Tatbestand

1

Der Kläger begehrt die Aufhebung eines Minderungsbescheides.

2

Der Kläger, er ist am …1989 geboren, beantragte am 1.8.2013 die Weitergewährung der Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts nach dem SGB II für sich, seinen Bruder R. W. (geboren am … 1990) und den Vater B. M. (geboren am … 1956). Die tatsächlichen Kosten der Unterkunft, die von den Dreien bewohnt wird, betragen 352,50 Euro.

3

Der Kläger übt gemeinsam mit seinem Bruder R. W. seit Mai 2010 eine selbständige Tätigkeit aus. Die Brüder haben zu diesem Zweck Geschäftsräume in K. in der …. -straße … angemietet. Gegenstand des Unternehmens ist der Handel mit Trödel und Antiquitäten auf Flohmärkten, das Aufbereiten von Möbeln und das Etikettieren von Weinflaschen. Der Kläger stand in dem gesamten Zeitraum im Leistungsbezug nach dem SGB II.

4

In den Zeiträumen vom 1.5.2010 bis 28.2.2014 stellt sich der Gewinn der Brüder monatlich wie folgt dar:

5

Zeitraum

Einnahmen

Ausgaben

Gewinn

1.5.2010-31.8.2010

153,38

28,20 

125,18

1.9.2010-28.2.2011

342,25

165,66

176,59

1.3.2011-31.8.2011

563,37

158,94

404,43

1.9.2011-29.2.2012

350,08

160,10

189,89

1.3.2012-31.8.2012

504,29

232,48

271,81

1.9.2012-28.2.2013

426,69

382,02

98,67 

1.3.2012-31.8.2013

600,00

192,04

407,96

1.9.2013-28.2.2014

653,94

429,65

224,29

6

Zur Bewertung der Ertragssituation führte der Beklagte im Jahr 2013 eine Analyse im Rahmen des Projekts „VISA-Maßnahmen für Personen in prekären Beschäftigungsverhältnissen“ durch. Diese ergab, dass zur Bedarfsdeckung ein Mindestumsatz von 1.349,25 Euro erzielt werden müsse. Der Hauptumsatz erfolge auf Flohmärkten am Wochenende und im e-bay-Handel.

7

Der Beklagte führte mit den Klägern bereits in der Vergangenheit bis zum 26.9.2012 mehrere Gespräche zur Tragfähigkeit des Unternehmens. Er wies hierbei und in den ergangenen Bescheiden, u. a. dem Widerspruchsbescheid vom 15.5.2013, darauf hin, dass eine Tätigkeit die keine Perspektive zur Überwindung der Hilfsbedürftigkeit erkennen lasse, nicht dauerhaft schützenswert sei. In dem Zeitraum von der Unternehmensgründung bis zum 28.2.2013 wurden von dem Beklagten Aktivierungsmaßnahen am allgemeinen Arbeitsmarkt mit Rücksicht auf die Unternehmensgründung nicht ergriffen. Der Kläger kündigte mehrfach an, das Unternehmen werde sich alsbald selbst tragen.

8

Durch den Bewilligungsbescheid vom 11.2.2014 bewilligte der Beklagte dem Kläger Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts in Höhe von 353,00 Euro und Bedarfe für Unterkunft und Heizung in Höhe von 117,50 Euro (1/3 von 352,50 Euro). Der Bewilligungsbescheid betraf den Zeitraum vom 1.3.2014 bis zum 31.8.2014. Die Entscheidung erfolgte vorläufig, weil der Vater des Klägers und Herr R. M. Einkommen in wechselnder Höhe erzielten.

9

Durch Eingliederungsverwaltungsakt vom 3.12.2013 wurde unter Berufung auf § 15 Absatz 1 Satz 6 SGB II gegenüber dem Kläger für den Zeitraum vom 3.12.2013 bis 2.6.2014 die Teilnahme an der Maßnahme „L. I. F. E“ (lernen, informieren, fördern, erleben) bei dem ÜAZ W. verfügt. Die Maßnahme diene der Heranführung an den Arbeitsmarkt. Sie umfasse zu gleichen Teilen die Mitarbeit in den Bereichen Holz, Farbe, Metall und Kunststoff. Die Ausübung erfolge wöchentlich im Umfang von 30 Stunden. In Absprache mit dem Träger könne diese Zeit innerhalb des Zeitraums von 7.45 Uhr bis 16.45 Uhr (montags bis donnerstags) und von 7.45 Uhr bis 13.20 Uhr (freitags) verteilt werden. Daneben wurde verfügt, der Kläger müsse ab dem 2.1.2014 wenigstens sechs Bewerbungsbemühungen um sozialversicherungspflichtige Beschäftigungen und geringfügige Beschäftigungsverhältnisse nachweisen. Der Kläger wurde darauf hingewiesen, bei einem Verstoß werde in seinem Fall das ihm zustehende Arbeitslosengeld II auf die Leistungen für Unterkunft und Heizung beschränkt. Bei weiteren Verstößen werde der Anspruch vollständig entfallen. Die Minderung dauere drei Monate und beginne mit dem Monat nach Zugang des Minderungsbescheides. Der Kläger wurde darauf hingewiesen, dass bei Minderung des Arbeitslosengeldes II um mehr als 30 Prozent des Regelbedarfs die Möglichkeit besteht, ergänzende Sachleistungen zu erbringen und, dass ihm insoweit ein Antragsrecht zustehe.

10

Der Kläger weigerte sich nachfolgend, die Maßnahme „L. I. F. E“ anzutreten. Er erschien zu der Maßnahme nicht.

11

Mit Schreiben vom 27.1.2014 hörte der Beklagte den Kläger zum möglichen Eintritt einer Sanktion an.

12

Durch den Bescheid vom 31.3.2014 verfügte der Beklagte die Minderung des Arbeitslosengeldes II des Klägers in dem Zeitraum vom 1.5.2014 bis 31.7.2014.

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Gemäß § 31 Absatz 1 Nr. 3 SGB II (Sozialgesetzbuch - Zweites Buch) in Verbindung mit § 31a Absatz 2 und § 31b SGB II werde das Arbeitslosengeld auf die Leistungen für Unterkunft und Heizung beschränkt. Der Kläger habe die Maßnahme beim ÜAZ nicht angetreten. Sie sei ihm zumutbar gewesen. Gründe, aufgrund derer der Antritt nicht zumutbar gewesen sei, trage der Kläger nicht vor. Eine Verkürzung des Minderungszeitraums sei nicht geboten, da der Kläger sich bislang nicht bereit erklärt habe, seinen Verpflichtungen aus dem Eingliederungsverwaltungsakt künftig nachzukommen. Eine gesonderte, teilweise Aufhebung des Bewilligungsbescheides vom 11.2.2014 erfolgte nicht.

14

Der Kläger erhob durch seine Bevollmächtigte Widerspruch. Die Rechtsfolgenbelehrung zähle nur allgemein die Möglichkeiten einer Sanktion bei Pflichtenverstoß auf. Es sei keine einzelfallbezogene Belehrung erfolgt. Dem Kläger sei die Maßnahme, die in der Eingliederungsvereinbarung verfügt worden sei, auch nicht zumutbar. Er übe mit dem Bruder eine selbständige Tätigkeit aus. Müsse er für sechs Monate an einer Maßnahme des ÜAZ teilnehmen, könne er kein Einkommen mehr erzielen und sei gezwungen, die Tätigkeit aufgeben.

15

Durch den Widerspruchsbescheid vom 1.7.2014 wies der Beklagte den Widerspruch zurück. Da der Kläger das 25. Lebensjahr noch nicht vollendet habe, lägen die Voraussetzungen für die Beschränkung des Arbeitslosengeldes auf die Bedarfe für Unterkunft und Heizung vor. Dies folge aus § 31 SGB II. Danach sei bei erwerbsfähigen Leistungsberechtigten, die das 25. Lebensjahr noch nicht vollendet hätten, das Arbeitslosengeld II bei einer Pflichtverletzung nach § 31 SGB II auf die Bedarfe für Unterkunft und Heizung zu beschränken. Eine Pflichtverletzung liege vor, wenn der unter 25-jährige erwerbsfähige Leistungsberechtigte sich trotz der schriftlichen Belehrung über die Rechtsfolgen weigere, eine Maßnahme zur Eingliederung in Arbeit anzutreten (§ 31 Absatz 1 Satz 1 Nr. 3 SGB II). Dies gelte nur dann nicht, wenn ein wichtiger Grund für das Verhalten vorliege und nachgewiesen werde (§ 31 Absatz 1 Satz 2 SGB II). Ein wichtiger Grund sei nicht erkennbar. Der Einwand, der Kläger könne seiner selbständigen Tätigkeit nicht mehr nachgehen, sei unbeachtlich und unzutreffend. Die Maßnahme umfasse nur 30 Wochenstunden, in der übrigen Zeit könne eine selbständige Tätigkeit weiterhin ausgeübt werden. Im Übrigen sei die ausgeübte Tätigkeit nicht auskömmlich. Das Gewerbe werde seit 2010 nicht so ausgeübt, dass hierdurch die Hilfebedürftigkeit überwunden werde. Es sei daher geboten, die Integration in den Arbeitsmarkt durch andere, geeignete Maßnahmen, zu unterstützen. Ein Antrag auf Gewährung von Sachleistungen sei nicht gestellt. Die Minderung trete mit dem Beginn des Kalendermonats ein, der auf das Wirksamwerden des Verwaltungsaktes folge, der die Pflichtverletzung feststelle. Dies sei hier der Mai 2014. Der Minderungszeitraum betrage drei Monate (§ 31b Absatz 1 Satz 1-3 SGB II). Eine Verkürzung des Zeitraumes auf sechs Wochen sei nicht geboten.

16

Am 4.7.2014 hat der Kläger durch seine Bevollmächtigte Klage erhoben. Diese führt aus, der Sanktionsbescheid sei bereits unwirksam und laufe ins Leere, weil er keine Aufhebungsentscheidung nach § 48 SGB X enthalte. Nach der sozialgerichtlichen Rechtsprechung sei eine solche Entscheidung weiterhin erforderlich. Die Verfügung zur Teilnahme an der Maßnahme „L. I. F. E“ sei nicht wirksam, da der Kläger sonst die selbständige Tätigkeit nicht ausüben könne. Das Einkommen von gegenwärtig 246,37 Euro im Monat werde in Wegfall geraten.

17

Der Kläger beantragt durch seine Bevollmächtigte,

18

den Bescheid des Beklagten vom 31.3.2014 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 1.7.2014 aufzuheben.

19

Der Beklagte beantragt,

20

die Klage abzuweisen.

21

Es entspreche der Rechtauffassung des Sozialgerichts Trier (Beschluss vom 14.12.2011, S 4 AS 449/11 ER) und der Rechtsauffassung der Landessozialgerichte (LSG Bayern, Urteil vom 30.1.2014, L 7 AS 84/13), dass die Aufhebung des ursprünglichen Bewilligungsbescheides bei Erlass einer Sanktionsentscheidung nicht erforderlich sei. Der Eingliederungsverwaltungsakt sei auch wirksam und bindend. Die Einwände hiergegen seien im Verfahren betreffend die Sanktion nicht zu berücksichtigen.

Entscheidungsgründe

22

Die Klage ist zulässig aber unbegründet. Der Minderungsbescheid vom 31.3.2014 und der Widerspruchsbescheid vom 1.7.2014 sind rechtmäßig.

23

Der Beklagte hat zutreffend den Auszahlungsanspruch des Klägers in dem Zeitraum vom 1.5.2014 bis 31.7.2014 gemindert und auf die Bedarfe für Unterkunft und Heizung beschränkt.

24

Gemäß § 31 Absatz 1 Satz 1 Nr. 3 SGB II verletzen erwerbsfähige Leistungsberechtigte ihre Pflichten, wenn sie trotz schriftlicher Belehrung über die Rechtsfolgen oder deren Kenntnis eine zumutbare Maßnahme zur Eingliederung in Arbeit nicht antreten. Eine Pflichtverletzung liegt zudem vor, wenn der erwerbsfähige Leistungsberechtigte sich weigert, in der Eingliederungsvereinbarung oder in dem die Eingliederungsvereinbarung ersetzenden Verwaltungsakt festgelegte Pflichten zu erfüllen (Nr. 1). Dies gilt nicht, wenn erwerbsfähige Leistungsberechtigte einen wichtigen Grund für ihr Verhalten darlegen und nachweisen (§ 31 Absatz 1 Satz 2 SGB II). Rechtsfolge der Pflichtverletzung ist bei einem unter 25 jährigen Leistungsberechtigten, wie hier dem Kläger, die Beschränkung des Arbeitslosengeldes auf die Bedarfe nach § 22 SGB II.

25

1. Der Kläger hat die Pflicht zur Teilnahme an der Maßnahme „L. I. F. E“ bei dem ÜAZ in W. verletzt, die mit dem Eingliederungsverwaltungsakt vom 3.12.2013 festgesetzt wurde. Dieser Eingliederungsverwaltungsakt ist dem Kläger wirksam bekannt gegeben und von ihm mit den gesetzlichen Mitteln innerhalb der Widerspruchsfrist nicht angefochten worden. Er ist seinem Inhalt nach gemäß § 77 SGG für die Beteiligten bindend. Anhaltspunkte dafür, dass der Bescheid aufgrund fehlender hinreichender Bestimmtheit (§ 33 SGB X) nichtig ist, gibt es nicht. Insbesondere ist die Maßnahme bei dem ÜAZ W. hinreichend genau bestimmt worden. Der Eingliederungsverwaltungsakt beschreibt sowohl den Zweck der Maßnahme als auch die Aufteilung der von 7.45 Uhr bis 16.45 Uhr während 30 Stunden in der Woche abzuleistenden Arbeitszeit. Darüber hinaus wird dargelegt, dass die Tätigkeit sich zu gleichen Teilen auf die Mitarbeit in den Bereichen Holz, Farbe, Metall und Kunststoff bezieht. Eine genauere Beschreibung der Tätigkeit war, auch weil es sich um eine Maßnahme handelt, die nach der Beschreibung dazu dienen soll, einen Zugang zum Arbeitsmarkt zu eröffnen und Beschäftigungsmöglichkeiten aufzuzeigen und Interesse hieran zu wecken, nicht geboten.

26

Der Kläger hat die Pflicht aus dem Eingliederungsverwaltungsakt auch verletzt, denn er hat die Maßnahme nicht angetreten.

27

2. Der Kläger hat auch keinen wichtigen Grund für das Verhalten. Der Vortrag des Klägers, das Einkommen aus der selbstständigen Tätigkeit werde bei Teilnahme an der Maßnahme in Wegfall geraten und die Ausübung dieser Tätigkeit mit seinem Bruder gemeinsam sei nicht mehr möglich, stellt keinen wichtigen Grund dar.

28

Der Beklagte hat zur Überwindung der Hilfebedürftigkeit den Aufbau und Betrieb des Geschäftsbetriebes in dem Zeitraum vom 1.5.2010 bis zum Erlass des Eingliederungsverwaltungsaktes beobachtet und durch Eingliederungsvereinbarung oder Eingliederungsverwaltungsakt Aktivierungsmöglichkeiten auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt gegenüber dem unter 25-jährigen Kläger in diesem Zeitraum nicht verfügt, weil er die Tragfähigkeit und Überwindung der Hilfebedürftigkeit durch den Kläger zunächst abwarten wollte. Der Kläger wurde aber bereits in den Gesprächen vom 26.9.2012 und 15.5.2013 darauf hingewiesen, dass bei dauerhaft fortbestehender Hilfebedürftigkeit, wenn also nicht in absehbarer Zeit mit deren Überwindung oder wesentlichen Verminderung gerechnet werden kann, das Gewerbe nicht dauerhaft schützenswert ist.

29

Dieses Vorgehen überzeugt auch rechtlich. Der Kläger kündigte in der Vergangenheit mehrfach an, dass Unternehmen werde sich selbst tragen. Tatsächlich trat eine Überwindung oder signifikante Minderung der Hilfebedürftigkeit durch den Gewerbebetrieb in einem Zeitraum von 3 Jahren nach der Gründung aber nicht ein. Die anrechnungsfähigen Beträge führten nie zur Überwindung der Hilfebedürftigkeit. In einzelnen Zeiträumen verblieb kein anrechnungsfähiger Gewinn. Der Beklagte durfte daher nach mehreren Gesprächen mit dem Kläger, der unter 25 Jahre alt war und daher gemäß § 3 Absatz 2 Satz 1 SGB II im Grundsatz unverzüglich nach der Antragstellung in eine Ausbildung oder in Arbeit zu vermitteln war, mit dem Eingliederungsverwaltungsakt die Teilnahme an einer Maßnahme anordnen, die auf Eingliederung in Arbeit und Heranführung an den Arbeitsmarkt abzielt.

30

Das Gericht folgt auch nicht der Auffassung des Klägers, bei Teilnahme an der Maßnahme müsse der Gewerbebetrieb aufgegeben werden. Der Hauptumsatz aus dem Geschäftsbetrieb wird auf Flohmärkten am Wochenende und im e-bay Handel erzielt, ist also an bestimmte Geschäftszeiten während der Woche – insbesondere während der Teilnahme an der Maßnahme im ÜAZ – nicht gebunden. Darüber hinaus betreibt der Kläger den Betrieb mit seinem Bruder, der ebenfalls zur Teilnahme an der Maßnahme verpflichtet wurde. Ausgehend von 30 Stunden der Anwesenheit im ÜAZ ist es den Brüdern möglich, das Gewerbe in der verbleibenden Zeit weiter zu betreiben. Eine gewisse Beeinträchtigung des Betriebes ist zum Zwecke der Vermittlung in eine Maßnahme hinzunehmen, die Perspektiven zur Überwindung der trotz des Betriebes bestehenden Hilfebedürftigkeit eröffnen soll.

31

3. Der Kläger wurde über Rechtsfolgen der Pflichtverletzung in dem Eingliederungsverwaltungsakt auch konkret und auf seinen Einzelfall bezogen belehrt. Es wurde dargestellt, dass bei ihm als unter 25-jährigem Hilfebedürftigen eine Pflichtverletzung zur Beschränkung des Arbeitslosengeldes II auf die Leistungen nach § 22 SGB II führen werde.

32

4. Der Minderungsbescheid ist auch nicht deshalb rechtswidrig, weil es an einem Aufhebungsbescheid nach Maßgabe des § 48 SGB X fehlt.

33

Die Kammer hält an ihrer Rechtsauffassung fest, wonach es im Rahmen des Normgefüges der §§ 31, 31a, 31b SGB II neben dem Bescheid, der die Minderung des Auszahlungsanspruches anordnet, keines gesonderten Aufhebungsbescheides nach Maßgabe des § 48 SGB X bedarf (SG Trier, Beschluss vom 14. Dezember 2011 – S 4 AS 449/11 ER –, juris).

34

Dies folgt aus der Auslegung der §§ 31 ff. SGB II, insbesondere des § 31b Absatz 1 Satz 1 SGB II.

35

Maßstab der Auslegung des Gesetzes ist der Wille des Gesetzgebers, wie er in der Norm objektiv zum Ausdruck kommt (allgemeiner Auslegungsmaßstab, vgl. BVerfG, Beschluss vom 18.10.1966 = BVerfGE 20, 283 (293); zuletzt etwa Bayerischer Verfassungsgerichtshof, Entscheidung vom 12.1.2015, Vf. 30-VI-13 nach juris). Danach steht es fest, dass es eines Aufhebungsbescheides nicht bedarf. Dies ergibt sich aus Sinn und Zweck der gesetzlichen Neufassung des Sanktionensystems zum 1.4.2011 sowie der neuen Systematik aus Tatbestand (§ 31 SGB II n. F.) und Rechtsfolgen (§§ 31a, b SGB II) der Pflichtverletzung. Es entspricht der historisch vom Gesetzgeber gewollten Auslegung der Norm vor dem Hintergrund der Anwendungsprobleme der a. F. des § 31 SGB II. Diese Auffassung des Gesetzgebers hat im Wortlaut der Norm auch ihren Niederschlag gefunden. Eine solche Regelung ist auch rechtlich möglich und unbedenklich.

36

Nach der Rechtsprechung des BSG zu § 31 SGB II in der bis zum 31.3.2011 geltenden Fassung bedurfte es für die Absenkung der bereits bestandskräftig bewilligten Leistungen eines Aufhebungsbescheides, der in der Regel auf die Regelung des § 48 SGB X gestützt wurde (vgl. BSG, Urteil vom 9.11.2010, B 4 AS 27/10 R; BSG, Urteil vom 17.12.2009, B 4 AS 30/09 R). Es war unstreitig, dass bei Vorliegen der Voraussetzungen des § 31 Absatz 1 SGB II a. F. die Bestandskraft des Verwaltungsaktes durch Anwendung des § 48 SGB X durchbrochen werden musste.

37

Nach Sinn und Zweck der gesetzlichen Neuregelung soll sich demgegenüber der Auszahlungsanspruch kraft Gesetzes mindern. Der Gesetzgeber hat sich in der zum 1.4.2011 in Kraft getretenen Neufassung bewusst für eine Neugestaltung des bis dahin ausschließlich in § 31 SGB II enthaltenen Sanktionensystems entschieden. Der Tatbestand der Pflichtverletzung wurde in § 31 SGB II verankert, während §§ 31a, 31 b die Rechtsfolgen bei Pflichtverletzungen, insbesondere die „Minderung“ bestimmt. Der Gesetzgeber beabsichtigte gezielt – und vor dem Hintergrund der historischen Anwendungsprobleme der Norm des § 31 SGB II, eine Vereinfachung herbeizuführen. In der Bundestagsdrucksache 17/3404 heißt es dazu auf Seite 110:

38

„Die bisherige Vorschrift des § 31 SGB II ist eine der zentralen Normen im SGB II, da sie die Schnittstelle zwischen den Leistungen zur Eingliederung in Arbeit und den Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhaltes darstellt. Sie muss praxisgerecht ausgestaltet und für die Leistungsberechtigten und die Grundsicherungsstellen rechtssicher anwendbar sein. Durch verschiedene Rechtsänderungen ist die Regelung sehr komplex und schwer verständlich geworden; die Rechtsanwendung ist dadurch schwieriger geworden.“

39

Nach der Systematik der gesetzlichen Neureglung hat sich der Gesetzgeber zur Umsetzung dieses Ziels bewusst – und in Kenntnis der bisherigen Rechtsanwendung – dafür entschieden, die „Minderung des Auszahlungsanspruchs“ an die Stelle der „Absenkung der Regelleistung“ (§ 31 Absatz 1 SGB II a. F.) zu setzen. In der Bundestagsdrucksache heißt es hierzu auf Seite 112:

40

„In [§ 31b – Anmerkung des Verfassers] werden die bisherigen Regelungen zu Beginn und Dauer der Sanktionen zusammengefasst. Um klarzustellen, dass sich der Auszahlungsanspruch der Betroffenen bei pflichtwidrigem Verhalten kraft Gesetzes mindert, wird der Wortlaut teilweise angepasst.“

41

Diese Auffassung des Gesetzgebers hat daher auch im Wortlaut der Norm ihren Ausdruck gefunden. Zum einen hat der Gesetzgeber aus Gründen der Normklarheit ganz bewusst die Rechtsfolgen der Pflichtverletzung vom Tatbestand getrennt. Zum anderen hat er, wie dargelegt den Wortlaut abweichend von der früheren Fassung geregelt. Es wird eben nicht mehr „die Regelleistung abgesenkt“ (§ 31 Absatz 1 SGB II a. F.), auch gerät die Leistung nicht in „Wegfall“ oder wird „abgesenkt“ (so § 31 Absatz VI Satz 1 a. F.), sondern es „mindert sich das Arbeitslosengeld II“, genauer „der Auszahlungsanspruch“ (§ 31 b Absatz 1 Satz 1 SGB II).

42

Deutlich wird die im Gesetzeswortlaut verwirklichte Absicht des Gesetzgebers auch in der Regelung des § 39 SGB II. Denn dort wird in der Neufassung zum 1.4.2011 klargestellt, dass „Widerspruch oder Anfechtungsklage gegen einen Veraltungsakt, der […] die Pflichtverletzung und Minderung des Auszahlungsanspruchs feststellt“ keine aufschiebende Wirkung haben. Der Gesetzgeber zeigt hier deutlich, dass er Pflichtverletzung und Minderung des Auszahlungsanspruchs wie beabsichtigt klar trennt. Die Norm dokumentiert aber auch, dass der Gesetzgeber sich gehalten gesehen hat, den Ausschluss der aufschiebenden Wirkung für Bescheide, die die Minderung des Auszahlungsanspruchs feststellen, gesondert zu normieren. Wäre es weiterhin so, dass Grundlage einer Sanktion ein Aufhebungsbescheid gemäß § 48 SGB X sein müsste, dann wäre diese gesetzliche Regelung letztlich überflüssig, denn Widerspruch und Anfechtungsklage gegen einen solchen Bescheid haben schon nach § 39 Nr. 1 1. Alternative SGB II keine aufschiebende Wirkung.

43

Vor dem Hintergrund der Intention des Gesetzgebers, der systematischen Neuregelung aufgrund der historischen Auslegungsprobleme und des klaren und eindeutigen Wortlauts der Norm, in der sich die Absicht des Gesetzgebers verwirklicht, wäre eine Auslegung, nach der weiterhin ein Aufhebungsbescheid nach Maßgabe des § 48 SGB X erforderlich ist, nur möglich, wenn der im Gesetz niedergelegte gesetzgeberische Wille auf etwas Unmögliches abzielen würde, es also eine Trennung zwischen Stammrecht und Auszahlungsanspruch i. S. eines Grundlagenbescheides im Sozialrecht nach dem Normgefüge gar nicht geben könnte. Ansonsten ist der gesetzgeberische Wille, eine solche Differenzierung einzuführen, zu respektieren. Dem Sozialrecht ist aber der Grundlagenbescheid nicht fremd (vgl. dazu bereits den oben zitierten Beschluss des Gerichts). Auch im SGB II ist zwischen der materiellen Anspruchsberechtigung (einer Art Stammrecht) und dem Leistungsanspruch im engeren Sinne, also dem Anspruch auf Zahlung der Leistung (Zahlungsanspruch) zu unterscheiden. Während das Stammrecht entsteht, sobald die materiell-rechtlichen Anspruchsvoraussetzungen erfüllt sind, wird erst durch den Bewilligungsbescheid als Verwaltungsakt der Anspruch auf die Leistung im Sinne einer Zahlbarmachung für den Einzelfall konkretisiert (so bereits zutreffend LSG Niedersachsen-Bremen, Beschluss vom 28. November 2014 – L 15 AS 338/14 B ER). Selbst wenn es eine solche Unterscheidung im derzeitigen Sozialrecht nicht gegeben hätte, stünde es dem Gesetzgeber frei, diese einzuführen.

44

Die in der Rechtsprechung hiergegen teilweise erhobenen Einwendungen überzeugen nicht. Soweit das LSG Niedersachsen-Bremen in dem Beschluss vom 28.11.2014, aaO) ausführt, eine „durchgreifende Änderung der Rechtslage sei seit dem 1.4.2011 nicht fest[zu]stellen“, teilt die Kammer diese Auffassung aus den vorgenannten Gründen nicht. Der dort benannte Problemfall, wonach die bloße Minderung des Auszahlungsanspruchs bei Fortbestand der materiellen Anspruchsberechtigung zu unbilligen Ergebnissen führt, wenn etwa der Unterkunftskostenanteil eines Mitglieds durch die Bedarfsgemeinschaft in der Folge der Sanktion wegfällt – weil dann die vom Bundessozialgericht für diesen Fall gebotene Abweichung vom Kopfteilprinzip – nicht mehr möglich wäre, kann nicht dazu führen, dass der vom Gesetzgeber gewählten gesetzlichen Regelung im Sanktionsfall die Geltung versagt wird. Es ist schon methodisch nicht zulässig, einer Norm deswegen die Geltung zu versagen, weil sie in einem speziellen Einzelfall nicht zu sachgerechten Ergebnissen führt. Im Übrigen beruht die Rechtsprechung des Bundessozialgerichts hierzu ausschließlich auf Auslegungsgrundsätzen. Ändert sich das Gesetz, ist die Auslegung der geänderten Rechtslage anzupassen – nicht umgekehrt. Im benannten Problemfall wäre es, weil das SGB II stets darauf abstellt, ob ein tatsächlich bestehender Bedarf durch die Leistungsansprüche gedeckt ist, ohne weiteres möglich, den übrigen Mitgliedern der Bedarfsgemeinschaft höhere Leistungen zu bewilligen, ohne dass damit eine „Überdeckung“ des Gesamtbedarfs einträte. Selbst wenn man dies nicht zulässt, könnte aber aus dem (irrigen) Fehlen einer gesetzlichen Regelung zu diesem Spezialfall nicht darauf geschlossen werden, dass damit das gesamte Regelungsgefüge der §§ 31, 31a, 31b SGB II von dem Gesetzgeber so nicht gewollt gewesen sein kann (so aber offenbar das LSG Niedersachsen-Bremen, Beschluss vom 28.11.2014, aaO). Dementsprechend hat auch das Bayerische Landessozialgericht, Urteil vom 30.1.2014, L 7 AS 85/13) an der neuen, vom Gesetzgeber gewollten Auslegung der Normen überzeugend festgehalten.

45

Auch, dass die fachlichen Hinweise der Bundesagentur für Arbeit zu § 31 ff. SGB II in der Fassung vom 22.4.2014 (Ziffer 31.28) davon ausgehen, dass eine Aufhebungsverfügung erforderlich ist, ändert nichts an der Geltung des Gesetzes. Es ist auch aus der Sicht des Gerichts nicht verwunderlich, dass die Arbeitsagentur einer uneinheitlichen Rechtsprechung der Fachgerichte dadurch Rechnung trägt, dass im Rahmen der Minderungsentscheidung aus Gründen der Vorsicht zusätzlich eine Aufhebungsentscheidung verfügt wird.

46

Es ist auch nicht zutreffend, dass sich das Problem bei Fortgeltung bereits mit dem alten Gesetzeswortlaut ebenso gestellt hätte (so SG Dortmund, Beschluss vom 26.5.2014, S 35 AS 1758/14 ER) und daher nur eine frühere Diskussion jetzt perpetuiert würde. Die dortigen Ausführungen (vgl. auch SG Dortmund, Beschluss vom 13.6.2014, S 32 AS 1173/14 ER, Nr. 91 ff. nach juris), wonach ein Paradigmenwechsel im Gesetz nicht erkennbar sei, überzeugen nicht. Der Paradigmenwechsel ergibt sich wie dargestellt eindeutig aus Wortlaut, Sinn und Zweck, Systematik und bei historischer Auslegung der Neufassung. Die alte Formulierung des § 31 Absatz 6 Satz 1 1. Halbsatz SGB II: „Absenkung und Wegfall treten mit Wirkung des Kalendermonats ein, der auf das Wirksamwerden des Verwaltungsaktes, der die Absenkung oder den Wegfall der Leistung feststellt, folgt“ oder des § 31 Absatz 1 SGB II a. F. („die Regelleistung abgesenkt“) brachte demgegenüber deutlich zum Ausdruck, dass die „Leistung“ selbst in Wegfall gerät, also der Leistungsanspruch dem Grunde nach nicht mehr besteht.

47

Auch die Auffassung, das Fehlen eines Aufhebungsbescheides führe zu einem „Selbstvollzug des Gesetzes“ (vgl. dazu SG Dortmund, aaO; SG Kassel, Beschluss vom 27.6.2013, S 7 AS 121/13 ER, Nr. 41 nach juris) ist nicht zutreffend. Da ein Minderungsbescheid erforderlich ist, liegt kein Selbstvollzug des Gesetzes vor. Vielmehr muss die Minderung in einem Verwaltungsverfahren durch Bescheid festgestellt und verfügt werden, gegen den die Möglichkeit der Klage eröffnet ist. Ein „Selbstvollzug“ des Gesetzes läge demgegenüber nur vor, wenn die Rechtsfolge einträte, ohne dass es noch einer gesonderten Minderungsverfügung bedürfte.

48

5. Die Minderungsbescheide sind auch nicht deshalb rechtswidrig, weil in ihnen nicht zugleich eine Regelung über die Bewilligung von ergänzenden Sachleistungen oder geldwerten Leistungen nach § 31a Abs. SGB II getroffen wurde. Die als Ermessensleistung ausgestaltete Regelung erfordert eine Einzelfallbetrachtung, die nur möglich ist, wenn der konkrete Sachverhalt bei Anlaufen der Sanktion offenbar wird. Insoweit ist nicht zwangsläufig eine Erbringung ergänzender Leistungen erforderlich, sondern es ist durchaus möglich, dass ein Hilfebedürftiger seinen Bedarf im Sanktionszeitraum auf andere Weise decken kann, etwa durch Unterstützungsleistungen von Verwandten. Mit dem Hinweis auf die Möglichkeit der Erbringung ergänzender Sachleistungen in dem Eingliederungsverwaltungsakt hat der Beklagte seiner gesetzlichen Pflicht insoweit genügt, es gibt keine Anhaltspunkte dafür, dass der Kläger nicht im Stande ist, eine gegebenenfalls bedrohliche Lage zu erfassen und Lebensmittelgutscheine zu beantragen. In einem solchen Fall gebietet es auch die staatliche Schutzpflicht hinsichtlich der Rechtsgüter Leben, körperliche Unversehrtheit und Würde des Menschen nicht, den Grundsicherungsträger zu verpflichten, mit der Sanktionsentscheidung auch ohne einen entsprechenden Antrag des Hilfebedürftigen oder wenigstens einen Hinweis, dass entsprechende Sachleistungen überhaupt begehrt werden, stets zeitgleich darüber zu entscheiden, ob ergänzende Sachleistungen oder geldwerte Leistungen erbracht werden (vgl. LSG Berlin-Brandenburg, Beschluss vom 16. Dezember 2008 - L 10 B 2154/08 AS ER -; LSG Nordrhein-Westfalen, Beschluss vom 9. September 2009 - L 7 B 211/09 AS ER -; LSG Niedersachsen-Bremen, Beschluss vom 21. April 2010 - L 13 AS 100/10 B ER -; LSG Sachsen-Anhalt, Beschluss vom 5. Januar 2011 - L 2 AS 428/10 B ER - alle nach juris). Es entspricht auch gerade der Subjektstellung des Hilfebedürftigen und damit seiner Menschenwürde, wenn ihm keine Sachleistungen aufgedrängt werden. Entscheidend ist, dass er über die Möglichkeit ausreichend informiert ist. Ob er sie dann tatsächlich in Anspruch nehmen will, ist seine freie Entscheidung.

49

6. Beginn und Dauer der Minderung des Auszahlungsanspruchs sind gemäß § 31b Absatz 1 Satz 1 SGB II zutreffend von dem Beklagten bestimmt worden.

50

7. Die Kostenentscheidung folgt aus § 193 SGG. Da der Kläger mit der Klage unterlegen ist, entspricht es der Billigkeit, dass die Beteiligten einander außergerichtliche Kosten nicht zu erstatten haben.

51

8. Die Berufung war gemäß § 144 Abs. 2 Nr. 1 SGG zuzulassen. Die Frage, ob neben der Feststellung des Eintritts der Minderung eine Aufhebung des ursprünglichen Bewilligungsbescheides erforderlich ist, hat grundsätzliche Bedeutung.

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