Beschluss vom Verwaltungsgericht Düsseldorf - 21 L 1606/21.A
Tenor
Die aufschiebende Wirkung der am 19. Juli 2021 gegen den Bescheid vom 2. Juli 2021 erhobenen Klage wird hinsichtlich der Ziffern 2. bis 4. des angefochtenen Bescheides angeordnet.
Im Übrigen wird der Antrag abgelehnt.
Die Kosten des Verfahrens, für das Gerichtskosten nicht erhoben werden, tragen die Beteiligten jeweils zur Hälfte.
1
Gründe:
2I.
3Der Antragsteller ist afghanischer Staatsangehöriger und gehört der Volksgruppe der Usbeken an. Er stellte am 31. März 2021 einen Asylantrag.
4Im Rahmen seiner Anhörung vor dem Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (Bundesamt) trug er im Wesentlichen vor, er habe bis zu seiner Ausreise im Alter von 10 Jahren in der Stadt L. in der Provinz C. gewohnt. Er sei von Kabul in die Türkei gereist und von dort aus nach einigen Jahren Aufenthalt über Bulgarien, Serbien und Rumänien in die Bundesrepublik gelangt. Seine Mutter lebe in der Türkei, sein Vater sei verstorben. In Afghanistan lebe lediglich noch sein Bruder, der bei der Regierung arbeite, in der Stadt I. . Die Schule habe er bis zur 3. Klasse besucht und in der Türkei in einer Bäckerei, einem Schlachthof und einer Schneiderei gearbeitet.Afghanistan habe er verlassen, weil sein Bruder von den Taliban bedroht worden sei. Der Bruder habe diesen Geld geben oder mit Ihnen zusammenarbeiten müssen. Sie seien auch angegriffen worden. Da der Bruder mit den amerikanischen Special Forces zusammengearbeitet habe, habe man ihnen dann ermöglicht, das Land zu verlassen.Auf Vorhalt trug der Antragsteller zudem vor, dass er am 27. Juli 2020 in Bulgarien einen Asylantrag gestellt habe, weil er dazu gezwungen worden sei. Andernfalls hätte man ihn inhaftiert. Er habe zudem unter Zwang am 29. November 2020 in Rumänien einen Asylantrag gestellt, der ablehnend beschieden worden sei. Er sei daraufhin des Landes verwiesen worden. Er habe in beiden Ländern keinen Asylantrag stellen wollen, da es sein Ziel gewesen sei, nach Deutschland zu kommen, da hier ein Verwandter von ihm lebe.
5Die bulgarischen Behörden teilten dem Bundesamt mit Schreiben vom 21. Mai 2021 mit, dass der Antragsteller am 27. Juli 2020 dort einen Asylantrag gestellt habe, der am 4. August 2020 angelehnt worden sei. Hiergegen habe der Antragsteller am 17. August 2020 Klage erhoben, welche am 29. Januar 2021 vom Verwaltungsgericht Sofia abgewiesen worden sei.
6Mit Bescheid vom 2. Juli 2021 lehnte das Bundesamt den Asylantrag als unzulässig ab und stellte fest, dass keine Abschiebungsverbote im Sinne des § 60 Abs. 5 und Abs. 7 Satz 1 Aufenthaltsgesetz (AufenthG) vorliegen. Dem Antragsteller wurde die Abschiebung nach Afghanistan angedroht und das gesetzliche Einreise- und Aufenthaltsverbot wurde auf 36 Monate ab dem Tag der Abschiebung befristet.Zur Begründung führte das Bundesamt im Wesentlichen aus, dass der Antragsteller in Bulgarien erfolglos ein Asylverfahren betrieben habe, welches abgeschlossen sei. Wiederaufnahmegründe habe er nicht vorgetragen. Der Antragsteller sei zudem jung und gesund und könne sich bei einer Rückkehr nach Afghanistan das zur Sicherung seines Lebensunterhalts erforderliche selbst erwirtschaften.Der Bescheid wurde dem Antragsteller am 12. Juli 2021 übergeben.
7Gegen diesen Bescheid hat der Antragsteller am 19. Juli 2021 Klage erhoben und einen Antrag auf Wiederherstellung der aufschiebenden Wirkung der Klage gestellt. Beide Anträge hat er nicht weiter begründet.
8Der Antragsteller beantragt,
9die aufschiebende Wirkung der Klage anzuordnen.
10Die Beklagte beantragt,
11den Antrag abzulehnen.
12Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird auf die Gerichtsakte sowie den beigezogenen Verwaltungsvorgang der Beklagten Bezug genommen.
13II.
14Der Berichterstatter ist gemäß § 77 Abs. 4 Satz 1 Asylgesetz (AsylG) als Einzelrichter für die Entscheidung zuständig.
15Der zulässige Antrag ist lediglich in Teilen begründet; im Übrigen ist er unbegründet.
16Gemäß §§ 71a Abs. 4, 36 Abs. 4 Satz 1 AsylG darf die Aussetzung der Abschiebung im Falle eines Zweitverfahrens nur angeordnet werden, wenn ernstliche Zweifel an der aufschiebenden Wirkung des angegriffenen Verwaltungsaktes bestehen. Solche Zweifel bestehen hier in dem tenorierten Umfang. Im Übrigen ist der angegriffene Bescheid nach der im Verfahren des vorläufigen Rechtsschutzes gebotenen summarischen Prüfung der Sach- und Rechtslage rechtmäßig und verletzt den Kläger nicht in seinen Rechten (§ 113 Abs. 1 Satz 1 Verwaltungsgerichtsordnung (VwGO)).
171.
18Der Antragsteller hat keinen Anspruch auf die Durchführung eines weiteren Asylverfahrens in der Bundesrepublik Deutschland.
19Gemäß § 71a Abs. 1 Halbsatz 1 AsylG ist in den Fällen, in denen der Ausländer nach dem erfolglosen Abschluss eines Asylverfahrens in einem sicheren Drittstaat im Sinne des § 26a AsylG im Bundesgebiet einen Asylantrag stellt, ein weiteres Asylverfahren (Zweitverfahren) nur dann durchzuführen, wenn die Voraussetzungen des § 51 Abs. 1 bis 3 Verwaltungsverfahrensgesetz (VwVfG) vorliegen.
20Vorliegend ist ein Zweitverfahren gegeben. Der Antragsteller hat ursprünglich ein Asylverfahren in einem sicheren Drittstaat betrieben. Für die Frage, was ein sicherer Drittstaat ist, verweist § 26a Abs. 1 Satz 1 AsylG auf Art. 16a Abs. 2 Satz 1 Grundgesetz (GG). Sichere Drittstaaten nach Art. 16a Abs. 2 Satz 1 GG sind unter anderem die Mitgliedsstaaten der Europäischen Gemeinschaften. Der Antragsteller hat ursprünglich einen Asylantrag in Bulgarien und damit in einem Mitgliedsstaat der Europäischen Union gestellt. Dieser Antrag ist am 4. August 2020 von den bulgarischen Behörden abgelehnt worden. Die hiergegen erhobene Klage hat das Verwaltungsgericht Sofia am 29. Januar 2021 abgewiesen. Damit ist das Asylverfahren abgeschlossen.
21Der Antragsteller hat indes keinen Anspruch auf die Durchführung eines weiteren Asylverfahrens in der Bundesrepublik Deutschland, denn ein Wiederaufgreifensgrund im Sinne der §§ 71a Abs. 1 Halbsatz 1 AsylG, 51 Abs. 1 VwVfG liegt nicht vor.
22Ein erfolgreicher Antrag auf Wiederaufgreifen des Verfahrens setzt voraus, dass sich entweder die Sach- oder Rechtslage nachträglich – das heißt nach Abschluss des früheren Asylverfahrens – zugunsten des Betroffenen geändert hat (§ 51 Abs. 1 Nr. 1 VwVfG), neue Beweismittel vorliegen, die eine für den Betroffenen günstigere Entscheidung über sein Asylbegehren herbeigeführt haben würden (§ 51 Abs. 1 Nr. 2 VwVfG) oder Wiederaufnahmegründe entsprechend (§ 580 Zivilprozessordnung (ZPO) gegeben sind (§ 1 Abs. 1 Nr. 3 VwVfG).
23Der Antragsteller kann sich nicht vorliegend nicht auf eine veränderte Sachlage berufen.
24Eine solche ist gegeben, wenn sich entweder die allgemeinen politischen Verhältnisse, die Lebensbedingungen im Heimatstaat oder die das persönliche Schicksal des Asylbewerbers bestimmenden Umstände so verändert haben, dass eine für den Asylbewerber günstigere Entscheidung möglich erscheint,
25Dickten, in: BeckOK Ausländerrecht, 29. Auflage (Stand: 1: April 2021), § 71a AsylG (Rn. 18).
26Dabei genügt die pauschale Behauptung einer Änderung der Sachlage nicht. Vielmehr bedarf es eines schlüssigen Vortrags des Antragstellers, aus dem sich eine nachträgliche Änderung im Verhältnis zum Sachverhalt im früheren Asylverfahren tatsächlich ergibt. Dies erfordert eine substantiierte Darlegung entsprechender Tatsachen,
27BVerwG, Urteil vom 25. Juni 1991 – 9 C 33.90 -, in: juris (Rn. 13).
28Darüber hinaus muss die Änderung der Sach- und Rechtslage für den im früheren Asylverfahren ergangenen Verwaltungsakt entscheidungserhebliche Voraussetzungen betreffen, sodass diese Änderung im Asylfolgeverfahren eine dem Betroffenen günstigere Entscheidung erfordert oder zumindest ermöglicht,
29BVerwG, Urteil vom 10. Oktober 2018 – 1 C 26.17 -, in: juris (Rn. 18).
30Gemessen an diesen Voraussetzungen liegt in dem Vortrag des Antragstellers keine Änderung der Sachlage. Der Antragsteller hat lediglich darüber berichtet, dass einer seiner Brüder in Afghanistan wegen seiner Tätigkeit für die Regierung bedroht und zur Zusammenarbeit bzw. zu Geldzahlungen aufgefordert worden sei. Dies alles habe sich noch vor seiner Ausreise aus Afghanistan im Alter von 10 Jahren zugetragen. Nunmehr bekomme sein Bruder von direkten Bedrohungen nichts mehr mit. Es gebe jedoch Angriffe, die der Regierung allgemein gälten. Der Antragsteller hat damit keinen neuen Sachverhalt geltend gemacht, der zu einer günstigeren Entscheidung über sein Asylbegehren hätte führen können. Bezüglich der Bedrohungen in Afghanistan, aufgrund derer er das Land im Alter von 10 Jahren – also entweder im Jahr 2008 oder im Jahr 2012 verlassen hat - hat der Antragsteller bereits bei seinem Asylverfahren in Bulgarien vortragen können. Insoweit ist der Sachverhalt nicht neu. Bezüglich der jetzigen Situation seines Bruders handelt es sich zumindest nicht um einen Sachverhalt, der zu einer für ihn günstigeren Entscheidung hätte führen können. Vielmehr hat sich nach dem Vortrag des Antragstellers die Bedrohungssituation verbessert. Persönliche Bedrohungen gegen den Bruder gibt es nicht mehr. Soweit er der Gefahr von Angriffen durch die Taliban ausgesetzt gewesen sein sollte, die Regierungsmitarbeitern insgesamt gelten, fehlt es an einer persönlichen Bedrohungssituation, die auf den Antragsteller durchschlagen könnte. Dass der Bruder des Klägers noch persönlich bedroht sein könnte, allerdings derart abgeschirmt ist, dass er von den Bedrohungen nichts mitbekommt, überzeugt im Hinblick auf die vielfältigen Möglichkeiten der Taliban nicht.
31Auch aus dem zwischenzeitlich erfolgten Zusammenbruch der afghanischen Regierung und der faktischen Übernahme der Regierungsgewalt durch die Taliban kann der Antragsteller nichts Positives für sich herleiten. Zwar haben sich die politischen Verhältnisse in Afghanistan im Zeitpunkt der gerichtlichen Entscheidung grundlegend geändert, indes erfolgt die Prüfung, ob ein Antrag auf Wiederaufgreifen des Verfahrens begründet ist, allein auf Grundlage der vom Antragsteller dargelegten Gründe. Die Behörde – und in der Folge auch das Gericht – prüft das Vorliegen weiterer Wiederaufgreifensgründe nicht von Amts wegen. Das Nachschieben von Gründen – was vorliegend nicht erfolgt ist – ist grundsätzlich nur bis zur Entscheidung der Behörde zulässig,
32Ramsauer, in: Kopp/Ramsauer, VwVfG, 20. Auflage 2019, § 51 (Rn. 16a).
33Der Antragsteller hat zu den insoweit maßgeblich geänderten politischen Verhältnissen in Afghanistan im Rahmen seiner Antragstellung nichts vorgetragen und auch nichts vortragen können, da sich die allgemeinen Verhältnisse zum damaligen Zeitpunkt noch nicht gewandelt hatten. Dies führt indes nicht dazu, dass diese Verhältnisse nunmehr im gerichtlichen Verfahren zu berücksichtigen wären, sondern eröffnet dem Antragsteller lediglich die Möglichkeit einen Folgeantrag zu stellen (§ 71a Abs. 5 AsylG), in dem er diese Umstände geltend machen kann.
34Eine Änderung der Rechtslage (§ 51 Abs. 1 Nr. 1 Alt. 2 VwVfG) ist ebenfalls nicht eingetreten. Der Antragsteller hat auch keine neuen Beweismittel nach § 51 Abs. 1 Nr. 2 VwVfG vorgelegt und es liegen auch keine Wiederaufnahmegründe im Sinne des § 580 ZPO vor (§ 51 Abs. 1 Nr. 3 VwVfG).
352.
36Der Antragsteller hat indes einen Anspruch darauf, dass die Beklagte feststellt, dass bezüglich seiner Person ein Abschiebungsverbot im Sinne des § 60 Abs. 5 AufenthG vorliegt.
37Hierbei kann dahinstehen, ob für den Antragsteller ein Abschiebungsverbot im Sinne des § 60 Abs. 5 AufenthG in Verbindung mit Art. 3 der Konvention zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten (EMRK) aufgrund der derzeit in Afgahnistan herrschenden Sicherheitslage besteht, denn ihm droht zumindest im maßgeblichen Zeitpunkt der gerichtlichen Entscheidung eine erniedrigende Behandlung im Sinne des Art. 3 EMRK aufgrund der humanitären Verhältnisse in Afghanistan und insbesondere in der Stadt Kabul.
38Schlechte humanitäre Verhältnisse können nur in ganz besonderen Ausnahmefällen eine erniedrigende Behandlung im Sinne des Art. 3 EMRK darstellen,
39OVG NRW, Urteil vom 18.06.2019 - 13 A 3930/18.A -, in: nrwe (Rn. 99); OVG NRW, Urteil vom 18.06.2019 - 13 A 3741/18.A -, in: nrwe (Rn. 60); Nds. OVG, Urteil vom 29. Januar 2019 ‑ 9 LB 93/18 ‑, in: juris (Rn. 45) m.w.N.
40Grundsätzlich dient die Europäische Menschenrechtskonvention vorrangig dem Schutz bürgerlicher und politischer Rechte. Die sozio-ökonomischen und humanitären Bedingungen im Abschiebungszielstaat haben keinen notwendigen oder ausschlaggebenden Einfluss darauf, ob der Betroffene tatsächlich Gefahr läuft, dort einer Art. 3 EMRK widersprechenden Behandlung ausgesetzt zu sein,
41OVG NRW, Urteil vom 18.06.2019 - 13 A 3930/18.A -, in: nrwe (Rn. 100); OVG NRW, Urteil vom 18.06.2019 - 13 A 3741/18.A -, in: nrwe (Rn. 61); Nds. OVG, Urteil vom 29. Januar 2019 ‑ 9 LB 93/18 ‑, in: juris (Rn. 46), jeweils m.w.N.
42Lediglich wenn die schlechten humanitären Bedingungen nicht nur oder nicht überwiegend auf Armut oder fehlende staatliche Mittel beim Umgang mit Naturereignissen zurückzuführen sind, sondern überwiegend auf direkten und indirekten Aktionen der Konfliktparteien beruhen, ist maßgeblich zu berücksichtigen, ob der von der Abschiebung Bedrohte bei seiner Rückkehr die Fähigkeit besitzt, seine elementaren Bedürfnisse nach Nahrung, Hygiene sowie Unterkunft zu befriedigen und ob eine besondere Verletzlichkeit für Misshandlungen und Aussicht auf eine Verbesserung der Lage in angemessener Zeit besteht,
43OVG NRW, Urteil vom 18.06.2019 - 13 A 3930/18.A -, in: nrwe (Rn. 102 ff.); OVG NRW, Urteil vom 18.06.2019 - 13 A 3741/18.A -, in: nrwe (Rn. 63 ff.); Nds. OVG, Urteil vom 29. Januar 2019 ‑ 9 LB 93/18 ‑, in: juris (Rn. 48), jeweils m.w.N.
44Fehlt es an einer Verantwortlichkeit der Konfliktparteien, ist ein strengerer Maßstab anzulegen. Denn in den Fällen, in denen die schlechten humanitären Bedingungen ganz oder in erster Linie auf Armut oder auf fehlende staatliche Mittel, um mit auf natürlichen Umständen beruhenden Gegebenheiten umzugehen, zurückzuführen sind, liegt eine Verletzung von Art. 3 EMRK nur in krassen Ausnahmefällen vor, nämlich wenn ganz außerordentliche individuelle Gründe hinzutreten und humanitäre Gründe zwingend gegen eine Abschiebung sprechen,
45OVG NRW, Urteil vom 18.06.2019 - 13 A 3930/18.A -, in: nrwe (Rn. 106); OVG NRW, Urteil vom 18.06.2019 - 13 A 3741/18.A -, in: nrwe (Rn. 54 f.); Nds. OVG, Urteil vom 29. Januar 2019 ‑ 9 LB 93/18 ‑, in: juris (Rn. 50).
46Solche außergewöhnlichen individuellen Umstände können auch solche sein, die der von der Abschiebung Bedrohte mit Personen teilt, die das gleiche Merkmal tragen oder die sich in einer wesentlich vergleichbaren Lage befinden. In einem solchen Fall ist eine Verletzung von Art. 3 EMRK ausnahmsweise etwa dann zu bejahen, wenn die Abschiebung zwar nicht unmittelbar zum Tod des Betroffenen, jedoch zu einer ernsthaften, schnellen und irreversiblen Verschlechterung seines Gesundheitszustandes führen würde, die ein schweres Leiden oder eine erhebliche Verringerung der Lebenserwartung zur Folge hätte,
47OVG NRW, Urteil vom 18.06.2019 - 13 A 3930/18.A -, in: nrwe (Rn. 108); OVG NRW, Urteil vom 18.06.2019 - 13 A 3741/18.A -, in: nrwe (Rn. 69), jeweils m.w.N.
48Bezogen auf Afghanistan ist der strengere Maßstab anzulegen,
49OVG NRW, Urteil vom 18.06.2019 - 13 A 3930/18.A -, in: nrwe (Rn. 110); OVG NRW, Urteil vom 18.06.2019 - 13 A 3741/18.A -, in: nrwe (Rn. 71); Nds. OVG, Urteil vom 29. Januar 2019 ‑ 9 LB 93/18 ‑, in: juris (Rn. 49), jeweils m.w.N.
50da die dortigen humanitären Verhältnisse nicht einem Akteur zugeordnet werden können, sondern das Resultat einer Vielzahl von Faktoren sind, zu denen die allgemeine wirtschaftliche Lage, Umweltbedingungen wie Klima und Naturkatastrophen sowie die Sicherheitslage gehören,
51OVG NRW, Urteil vom 18.06.2019 - 13 A 3930/18.A -, in: nrwe (Rn. 95 f.); OVG NRW, Urteil vom 18.06.2019 - 13 A 3741/18.A -, in: nrwe (Rn. 54 f.); Nds. OVG, Urteil vom 29. Januar 2019 ‑ 9 LB 93/18 ‑, in: juris (Rn. 44), jeweils m.w.N.
52Hierfür ist zwar nicht die in den Fällen des § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG erforderliche Extremgefahr zu fordern, allerdings ist auch hier in Bezug auf die humanitären Verhältnisse ein drastisches Gefahrenniveau erforderlich, da nur dann ein ganz außergewöhnlicher Fall vorliegt, in dem humanitäre Gründe zwingend gegen die Ausweisung sprechen,
53OVG NRW, Urteil vom 18.06.2019 - 13 A 3930/18.A -, in: nrwe (Rn. 113); OVG NRW, Urteil vom 18.06.2019 - 13 A 3741/18.A -, in: nrwe (Rn. 74); Nds. OVG, Urteil vom 29. Januar 2019 ‑ 9 LB 93/18 ‑, in: juris (Rn. 51).
54Hierbei ist der Prognosemaßstab der beachtlichen Wahrscheinlichkeit anzuwenden. Es muss eine hinreichend reale, nicht nur auf bloßen Spekulationen ohne hinreichende Tatsachengrundlage gegründete tatsächliche Gefahr bestehen. Diese tatsächliche Gefahr darf nicht nur hypothetisch, sondern muss hinreichend sicher sein, wobei der Einschätzung ein gewisser Grad an Mutmaßung im Hinblick auf den präventiven Charakter des Art. 3 EMRK immanent ist,
55Nds. OVG, Urteil vom 29. Januar 2019 - 9 LB 93/18 -, in: juris (Rn. 52), jeweils m.w.N.
56Gemessen an diesem Maßstab liegt in Anbetracht der individuellen Situation des Antragstellers in Afghanistan und insbesondere in Kabul eine extreme Gefahrenlage vor, bei der sich die gegen eine Ausweisung sprechenden Gründe als zwingend erweist.
57Bislang ist die Kammer, der der Einzelrichter angehört, bei ihren Entscheidungen darüber, ob eine extreme Gefahrenlage im Sinne des § 60 Abs. 5 AufenthG gegeben ist, von folgendem ausgegangen:
58„Die wirtschaftliche Lage in Afghanistan bleibt prekär. Im Jahr 2018 belegte Afghanistan lediglich Platz 168 von 189 des Human Development Indexes,
59Auswärtiges Amt, Bericht über die asyl- und abschieberelevante Lage in der Islamischen Republik Afghanistan, Stand Juli 2019, S. 27.
60Gemessen an seinem Bruttoinlandsprodukt war Afghanistan im Jahr 1960 das sechstärmste Land der Welt und konnte seinen Rang bis zum Jahr 2016 nur um sechs Plätze verbessern,
61EASO, Afghanistan, Key socio-economic indicators, Focus on Kabul, Mazar-e Sharif and Herat City, April 2019, S. 23.
62Das Wirtschaftswachstum bewegt sich im unteren einstelligen Bereich und betrug im Jahr 2019 etwa 2,9 %,
63EASO, Afghanistan, Key socio-economic indicators, Focus on Kabul, Mazar-e Sharif and Herat City, August 2020, S. 24.
64Dem steht indes ein rapides Bevölkerungswachstum sowie die Verbesserung der Lebenserwartung gegenüber, was es dem afghanischen Staat – neben der Sicherheitslage – nahezu unmöglich macht, alle Grundbedürfnisse der gesamten Bevölkerung angemessen zu befriedigen,
65Auswärtiges Amt, Bericht über die asyl- und abschieberelevante Lage in der Islamischen Republik Afghanistan, Stand Juli 2019, S. 27.
66Die Grundversorgung ist für Rückkehrer in besonderem Maße eine Herausforderung. Insgesamt sind in Afghanistan 6,3 Millionen Menschen auf humanitäre Hilfe angewiesen. Besondere Probleme bezüglich Unterkunft, Nahrung, sauberem Trinkwasser und medizinischer Versorgung bestehen vor allem in den westlichen Provinzen sowie in Kunduz, Ghazni, Laghman und Kunar,
67Auswärtiges Amt, Bericht über die asyl- und abschieberelevante Lage in der Islamischen Republik Afghanistan, Stand Juli 2019, S. 28.
68Die Nahrungsmittelsicherheit hat sich seit dem Jahr 2011 kontinuierlich verschlechtert. Während damals noch 30,1 % der afghanischen Bevölkerung unter moderater bis sehr schwerer Nahrungsmittelunsicherheit gelitten haben, stieg diese Zahl bis zum Jahr 2017 auf 44,6 %. In der Winterpflanzsaison 2017/2018 kam es in Afghanistan zu einer langen Dürrperiode, die mehr als zwei Drittel der afghanischen Bevölkerung betroffen hat und zu Gesundheitsproblemen und Einkommensreduzierungen um die Hälfte geführt hat,
69EASO, Country Guidance: Afghanistan, Guidance note and common analysis, Juni 2019, S. 132.
70Demgegenüber kam es in der ersten Jahreshälfte 2019 zu erheblichen Überschwemmungen im Süden, Westen und Norden des Landes, was ebenfalls mit wirtschaftlichen Problemen und Ernteausfällen einherging,
71Auswärtiges Amt, Bericht über die asyl- und abschieberelevante Lage in der Islamischen Republik Afghanistan, Stand Juli 2019, S. 28.
72Etwa 27 % der im Jahr 2017 nach Afghanistan Zurückgekehrten mussten ihre Nahrungsaufnahme einschränken. Insbesondere waren weibliche Rückkehrer und solche in den Städten betroffen. Rückkehrer, die dorthin gingen, wo sie familiäre Unterstützung erlangen konnten, waren hiervon weniger betroffen,
73EASO, Afghanistan, Key socio-economic indicators, Focus on Kabul, Mazar-e Sharif and Herat City, April 2019, S. 37.
74Kabul ist nicht die Stadt mit der größten Nahrungsmittelunsicherheit, allerdings ist die Stadt darauf angewiesen, einen Großteil ihrer Lebensmittel aus dem Umland einzuführen und Schwankungen dieses Versorgungsflusses können zur Verknappung einzelner Lebensmittel führen. Der afghanische Staat hat nicht die Möglichkeit, große Mengen Getreide einzulagern und hat es bisher auch nicht geschafft, vulnerable Haushalte durch Höchstpreisverordnungen oder ein Lebensmittelmarkensystem zu schützen,
75EASO, Afghanistan, Key socio-economic indicators, Focus on Kabul, Mazar-e Sharif and Herat City, April 2019, S. 37.
76Die Versorgungslage mit Lebensmitteln wird für Kabul als angespannt angesehen. Dies bedeutet, dass auch mit humanitärer Hilfe ein Fünftel der Haushalte zwar ausreichend Nahrungsmittel hatten, im Gegenzug allerdings nicht mehr genug Geld für die Befriedigung anderer Grundbedürfnisse,
77EASO, Country Guidance: Afghanistan, Guidance note and common analysis, Juni 2019, S. 132.
78Insgesamt hängt der Zugang zu Nahrungsmitteln von den finanziellen Möglichkeiten des Betroffenen ab,
79EASO, Country Guidance: Afghanistan, Guidance note and common analysis, Juni 2019, S. 132.
80Der Zugang zu sauberem Wasser und zu Sanitäranlagen hat sich erheblich verbessert, wobei der Zugang hierzu in den Städten besser ist als auf dem Land. Trotz dieser Verbesserungen bleibt der Zugang zu Trinkwasser ein Problem in Afghanistan. Gerade in Kabul haben nur 32 % der Bevölkerung Zugang zu fließendem Wasser und nur 10 % der Einwohner haben Zugang zu fließendem Trinkwasser. Jene, die es sich leisten können, bohren ihre eigenen Brunnen. Viele arme Bewohner sind auf öffentliche Zapfstellen angewiesen, die oftmals weit von ihrer Unterkunft entfernt liegen. Darüber hinaus ist die Hälfte der Brunnen und Zapfstellen durch Abwässer verschmutzt, die in den Fluss Kabul eingeleitet werden. Etwa 50 % der Afghanen hat Zugang zu Sanitäranlagen,
81EASO, Country Guidance: Afghanistan, Guidance note and common analysis, Juni 2019, S. 133.
82Obwohl der Großteil der afghanischen Bevölkerung noch auf dem Land lebt, hat Afghanistan eine der weltweit höchsten jährlichen Stadtbevölkerungswachstumsraten. Schätzungen schwanken zwischen 3,4 und 4,4 % jährlich. Diese hohe Wachstumsrate beruht neben dem natürlichen Bevölkerungswachstum auch auf einer hohen Anzahl von Binnenflüchtlingen und Rückkehrern,
83EASO, Afghanistan, Key socio-economic indicators, Focus on Kabul, Mazar-e Sharif and Herat City, April 2019, S. 53.
84Der Großteil der afghanischen Stadtbevölkerung lebt in Slums, worunter 86 % der städtischen Häuser in Afghanistan zu subsumieren sind,
85EASO, Country Guidance: Afghanistan, Guidance note and common analysis, Juni 2019, S. 132; EASO, Afghanistan, Key socio-economic indicators, Focus on Kabul, Mazar-e Sharif and Herat City, April 2019, S. 53..
86Etwa 70 % der Bevölkerung Kabuls lebt in illegalen Siedlungen, also Bereichen, in denen Gebäude auf Land errichtet wurden, welches den Bauherren nicht gehörte und/ oder bei denen die Gebäude nicht den Bauvorschriften entsprechen. Diese illegalen Siedlungen bieten wichtige und preiswerte Unterkunft für den Großteil der Stadtbevölkerung. Die Bevölkerungsdichte ist dort bis zu doppelt so hoch wie in anderen Teilen der Stadt. Zwar haben diese illegalen Siedlungen dazu geführt, dass eine große Obdachlosenkrise ausblieb, das unkontrollierte Wachstum hat jedoch auch bestehende Probleme, wie das Fehlen der Kanalisation und die unzureichende Müllentsorgung, verschärft,
87EASO, Afghanistan, Key socio-economic indicators, Focus on Kabul, Mazar-e Sharif and Herat City, April 2019, S. 56.
88Eine andere Unterbringungsalternative sind Teehäuser, die zwischen 30 und 100 Afghani pro Nacht kosten und als vorübergehende Unterkunft von Reisenden, Tagelöhnern, Straßenverkäufern, jungen Leuten, alleinstehenden Männern und anderen Personen ohne dauerhafte Unterkunft in der Gegend genutzt werden,
89EASO, Country Guidance: Afghanistan, Guidance note and common analysis, Juni 2019, S. 133.
90Das afghanische Gesundheitssystem hat sich seit dem Jahr 2001 erheblich verbessert. So ist unter anderem die Anzahl funktionierender Gesundheitseinrichtungen von 496 im Jahr 2002 auf über 2.800 im Jahr 2018 gestiegen. Trotz dieser Verbesserungen steht das afghanische Gesundheitssystem jedoch weiterhin vor Herausforderungen, wie der zerstörten Infrastruktur, fehlendem Fachpersonal, unterfinanzierten Einrichtungen, fehlender Sicherheit und tiefgreifender Armut. Im Jahr 2017 bestanden in 53 % der im Rahmen einer Studie untersuchten Gesundheitseinrichtungen strukturelle und Instandhaltungsprobleme und in 45 % der Einrichtungen wurden schlechte hygienische Bedingungen vorgefunden. Auch fehlte in 20 % der Einrichtungen ein Anschluss an das Stromversorgungsnetz. Darüber hinaus wird das Gesundheitssystem durch die inländischen Fluchtbewegungen und die vielen Rückkehrer zusätzlich belastet. Viele örtliche Einrichtungen sind nicht in der Lage, die zusätzliche Belastung zu stemmen und den zusätzlichen Hilfebedarf zu bewältigen,
91EASO, Afghanistan, Key socio-economic indicators, Focus on Kabul, Mazar-e Sharif and Herat City, April 2019, S. 25.
92Der Großteil der afghanischen Bevölkerung hat Zugang zu grundlegender medizinischer Versorgung, auch wenn es gerade in ländlichen Bereichen noch Versorgungslücken gibt. 93 % der Bevölkerung wohnt in einem Radius von zwei Stunden von einer öffentlichen Praxis, 82,4 % leben weniger als zwei Stunden von einem Bezirks- oder Provinzkrankenhaus entfernt und 94,8 % wohnten in einer Entfernung von weniger als zwei Stunden zu einer Apotheke. Nach den Angaben des afghanischen Gesundheitsministeriums wohnten 60 % der Bevölkerung weniger als eine Gehstunde entfernt von der nächsten Praxis,
93EASO, Afghanistan, Key socio-economic indicators, Focus on Kabul, Mazar-e Sharif and Herat City, April 2019, S. 45.
94Nach der afghanischen Verfassung soll die medizinische Behandlung kostenlos sein. Dies ist jedoch selbst in vielen öffentlichen Gesundheitseinrichtungen nicht der Fall. Auch dort müssen viele Patienten für Medikamente, Arzthonorare, Laboruntersuchungen und Krankenhausaufenthalte bezahlen. Die hierdurch entstehenden hohen Kosten sind der Grund dafür, dass viele Menschen nicht zum Arzt gehen oder nach einem Arztbesuch Schulden machen müssen. Die hohen Kosten gerade auch für Medikamente führen dazu, dass selbst Personen, die Zugang zu Gesundheitseinrichtungen haben, die dort verschriebenen Therapien nicht einhalten können, weil die Medikationskosten zu hoch sind,
95EASO, Afghanistan, Key socio-economic indicators, Focus on Kabul, Mazar-e Sharif and Herat City, April 2019, S. 46 f.
96Die Behandlung in einem afghanischen Krankenhaus ist oftmals nur darstellbar, wenn der Patient durch Verwandte oder Bekannte mit Nahrungsmitteln, Kleidung und Hygieneartikeln versorgt wird,
97Auswärtiges Amt, Bericht über die asyl- und abschieberelevante Lage in der Islamischen Republik Afghanistan, Stand Juli 2019, S. 30.
98Die afghanische Bevölkerung hegt ein großes Misstrauen gegen das staatliche finanzierte Gesundheitssystem. Die Qualität der Kliniken variiert stark und es gibt praktisch keine Qualitätskontrollen,
99Auswärtiges Amt, Bericht über die asyl- und abschieberelevante Lage in der Islamischen Republik Afghanistan, Stand Juli 2019, S. 30.
100Die „guten“ Krankenhäuser in Kabul können die erhöhte Nachfrage nicht bedienen, sodass viele Afghanen auf private Kliniken ausweichen, in denen noch höhere Kosten anfallen, oder ins benachbarte Ausland fahren, um schwerwiegende Erkrankungen behandeln zu lassen,
101EASO, Afghanistan, Key socio-economic indicators, Focus on Kabul, Mazar-e Sharif and Herat City, April 2019, S. 47.
102Gerade in Kabul ist der Zugang zur medizinischen Versorgung leichter als in anderen Städten. Dort gibt es 47 Gesundheitseinrichtungen. Eine spezielle Traumaversorgung wird zudem von der italienischen Nichtregierungsorganisation Emergency bereitgestellt. Die kostenfreie Behandlung psychischer Erkrankungen wird durch zwei öffentliche Gesundheitseinrichtungen gewährleistet, auch wenn für die Medikamente gegebenenfalls gesondert bezahlt werden muss und auch informelle Gebühren erhoben werden können. Daneben gibt es kostenpflichtige Angebote für die psychiatrische Behandlung durch privater Anbieter und Kliniken. Ebenfalls wird psychische Unterstützung durch eine ausländische Nichtregierungsorganisation bereitgestellt,
103EASO, Afghanistan, Key socio-economic indicators, Focus on Kabul, Mazar-e Sharif and Herat City, April 2019, S. 51.
104Der afghanische Arbeitsmarkt ist im Wesentlichen durch die Landwirtschaft dominiert und besteht darüber hinaus aus einem großen Anteil von Selbständigen oder Personen, die im Familienbetrieb arbeiten. Etwa 54% der afghanischen Bevölkerung befinden sich im arbeitsfähigen Alter. Aufgrund der vielen jungen Afghanen, 25 % sind zwischen 15 und 30 Jahren alt, streben Jahr für Jahr immer mehr Personen auf den Arbeitsmarkt, die Beschäftigungsmöglichkeiten können jedoch aufgrund unzureichender wirtschaftlicher Entwicklung und schlechter Sicherheitslage nicht mit dem Bevölkerungswachstum mithalten. Etwa 23,9 % der afghanischen Bevölkerung sind arbeitslos, was heißt, dass sie keine Arbeit haben oder suchen oder weniger als 8 Stunden pro Woche arbeiten. Gerade bei den Personen unter 25 und über 50 Jahren ist die Arbeitslosigkeit besonders hoch. So beträgt die Jugendarbeitslosigkeit 31 %. Die Arbeitslosenquote unterliegt auch saisonalen Schwankungen und liegt im Frühjahr und Sommer bei etwa 20%, während sie im Winter auf bis zu 32,5 % ansteigen kann,
105EASO, Afghanistan, Key socio-economic indicators, Focus on Kabul, Mazar-e Sharif and Herat City, April 2019, S. 27.
106Etwa 80% der Arbeitsstellen sind als unsicher zu qualifizieren und werden als selbständige Tätigkeit, Tagelöhner oder unbezahlte Arbeit ausgeübt. Weder Bildung noch Arbeit sind zudem eine Garantie gegen Armut,
107EASO, Afghanistan, Key socio-economic indicators, Focus on Kabul, Mazar-e Sharif and Herat City, April 2019, S. 28.
108Die Stadt Kabul ist der Dreh- und Angelpunkt für Handel und Arbeit in Afghanistan. Sie besitzt eine wirtschaftlich aktive Bevölkerung, die in Berufen im Bereich des Handels, der Dienstleistungen und der Grundversorgung tätig ist. In der Stadt gibt es eine große Zahl von Festanstellungen, während Selbständigkeit weniger häufig ist, als in den ländlichen Bereichen. Insgesamt sind auch die Löhne in Kabul höher als in anderen Landesteilen, insbesondere für Personen, die für ausländische Organisationen arbeiten,
109EASO, Afghanistan, Key socio-economic indicators, Focus on Kabul, Mazar-e Sharif and Herat City, April 2019, S. 28.
110Für Rückkehrer aus dem Ausland ist das Finden einer Verdienstmöglichkeit eine große Herausforderung. Die Rückkehrer stellen neben den Binnenflüchtlingen eine zusätzliche Arbeitsmarktkonkurrenz für die einheimische Bevölkerung dar. Dies kann zu Konflikten zwischen diesen Gruppen führen. In den Jahren 2016 und 2017 waren ungelernte Hilfstätigkeiten die Haupteinkommensquelle für Rückkehrer und im Jahr 2017 beschrieben mehr als 24 % der Rückkehrer das Finden einer Verdienstmöglichkeit als überwältigende Herausforderung,
111EASO, Afghanistan, Key socio-economic indicators, Focus on Kabul, Mazar-e Sharif and Herat City, April 2019, S. 29 f.
112Eine besondere Rolle beim Finden einer Verdienstmöglichkeit spielt das Bestehen eines sozialen Netzwerks. Dies kann zum einen die Großfamilie sein, jedoch auch Netzwerke aufgrund eines gemeinsamen Hintergrunds, gemeinsamer Arbeit oder gleichen Bildungsstands können eine Rolle spielen. So wird berichtet, dass Siedlungen in Kabul oftmals aus Personen bestehen, die einen gemeinsamen räumlichen oder ethnischen Hintergrund haben und die sich ausschließlich aufeinander verlassen, um Unterkunft und Verdienstmöglichkeiten zu finden,
113EASO, Country Guidance: Afghanistan, Guidance note and common analysis, Juni 2019, S. 134.
114In Kabul können Rückkehrer grundsätzlich nur als Tagelöhner arbeiten und die meisten von ihnen können nicht jeden Tag eine Verdienstmöglichkeit finden, sodass ihr Einkommen unsicher ist. Die meisten offiziellen Rückkehrer erhalten etwas finanzielle Unterstützung vom UNHCR,
115EASO, Afghanistan, Key socio-economic indicators, Focus on Kabul, Mazar-e Sharif and Herat City, April 2019, S. 31.
116Unter anderem Deutschland arbeitet eng mit der Internationalen Organisation für Migration (IOM) in Afghanistan zusammen, insbesondere, um die Reintegration zu erleichtern. IOM bietet Unterstützung bei Reiseformalitäten, Ankunft in Kabul mit bis zu zweiwöchiger Unterbringung und Begleitung der Reintegration einschließlich der Unterstützung bei der Suche nach einer Beschäftigung oder der Gewährung eines Anstoßkredits,
117Auswärtiges Amt, Bericht über die asyl- und abschieberelevante Lage in der Islamischen Republik Afghanistan, Stand Juli 2019, S. 30.“
118Ob diese Verhältnisse zum jetzigen Zeitpunkt noch zugrunde gelegt werden können, unterliegt ernsthaften Zweifeln. Die Taliban haben, nachdem sie nach dem Abzug der ausländischen Truppen in schneller Folge große Gebietsgewinne haben verzeichnen können und ganze Provinzen kampflos durch die Regierungstruppen aufgegeben worden sind, am 14. August 2021 kampflos Kabul eingenommen. Der gewählte afghanische Präsident ist in eines der Nachbarländer geflüchtet. Die internationalen Truppen halten derzeit noch den Flughafen Kabul, um eigene Staatsangehörige und auch Ortskräfte, deren Familien und besonders gefährdete Personen evakuieren zu können.
119Ob der Antragsteller unter diesen Voraussetzungen von Kabul aus, wohin bislang sämtliche Abschiebungen erfolgt sind, seinen Bruder in I. , der sein soziales Netzwerk und damit seine erste Anlaufstelle in Afghanistan darstellt, überhaupt würde erreichen können, ist fraglich. Ob der Verkehr zwischen den Provinzen und Kabul, der nach der Einschließung der Stadt durch die Taliban zum Erliegen gekommen sein dürfte, wieder aufgenommen worden ist, ist unbekannt. Auch ist offen, ob der Antragsteller überhaupt auf die Hilfe seines Bruders, der bei der entmachteten afghanischen Regierung gearbeitet haben soll, zurückgreifen können wird. Zwar haben die Taliban den Mitarbeitern der alten Regierung eine Amnestie zugesagt und sie aufgefordert, an ihren Arbeitsplatz zurückzukehren,
120https://www.tagesschau.de/ausland/afghanistan/afghanistan-taliban-behoerden-103.html.
121Ob diese Amnestie tatsächlich von allen Taliban beachtet wird, ist zum jetzigen Zeitpunkt noch offen. Derzeit fürchten noch viele ehemalige Regierungsmitarbeiter und Militärangehörige Racheakte der Taliban.
122Auch dürfte sich die wirtschaftliche Lage in Afghanistan zusehends verschlechtern, sodass es dem Antragsteller auch aus diesem Grund schwerfallen dürfte seinen Lebensunterhalt zu sichern. In den von den Taliban beherrschten Städten, insbesondere Kabul, herrscht ein gespanntes Abwarten. Die Taliban haben in der Stadt Checkpoints errichtet und die Bevölkerung fürchtet sich vor Racheakten der Taliban. Ein normales wirtschaftliches Leben findet derzeit nicht statt. Insoweit dürfte es dem Antragsteller schwer fallen, auf dem für Rückkehrer bislang allein offen stehenden Tagelöhnermarkt eine Arbeit zu finden. Hinzu kommt, dass Afghanistan, welches auch durch die Covid-19-Pandemie von erheblichen Preissteigerungen gerade für Nahrungsmittel betroffen ist,
123OCHA/WHO, Afghanistan Strategic Situation Report: COVID-19, No. 102 (29. Juli 2021), Seite 2,
124zukünftig auf Geldzuflüsse aus dem Ausland wird verzichten müssen. So hat bereits Deutschland die Entwicklungshilfe für Afghanistan ausgesetzt,
125https://www.tagesschau.de/newsticker/liveblog-afghanistan-103.html#Bundesregierung-setzt-Entwicklungshilfe-fuer-Afghanistan-aus.
126Auch werden die internationalen Organisationen, die bislang die Rückkehrer finanziell und durch Vermittlung von Wohn- und Arbeitsmöglichkeiten unterstützt haben, zumindest vorläufig nicht mehr in dem bisherigen Umfang – wenn überhaupt - unterstützen können.
127Bei dieser Betrachtung wird es dem Antragsteller nicht gelingen, seinen Lebensunterhalt zu sichern.
128Ob darüber hinaus auch die Anforderungen des § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG erfüllt sind, bedarf keiner Prüfung, da es sich bei dem national begründeten Abschiebungsverbot um einen einheitlichen und nicht weiter teilbaren Verfahrensgegenstand mit mehreren Anspruchsgrundlagen handelt,
129BVerwG, Urteil vom 8. September 2011 – 10 C 14/10 -, in: juris (Rn. 17); BayVGH, Urteil vom 21. November 2014 – 13a B 14.30285 -, in: juris (Rn. 14).
1303.
131Da der Antragsteller einen Anspruch auf die Feststellung eines Abschiebungsverbotes im Sinne des § 60 Abs. 5 AufenthG hat, bestehen auch ernsthafte Zweifel an der Rechtmäßigkeit der Abschiebungsandrohung, da diese nach § 34 Abs. 1 Satz 1 Nr. 3 AsylG unter anderem nur dann ergehen darf, wenn die Voraussetzungen des § 60 Abs. 5 AufenthG nicht vorliegen. Liegen die Voraussetzungen für eine Abschiebung nicht vor, ist auch kein Einreise- und Aufenthaltsverbot nach § 11 AufenthG zu erlassen.
1324.
133Die Kostenentscheidung folgt aus § 155 Abs. 1 VwGO, die Gerichtskostenfreiheit aus § 83b AsylG.
134Der Beschluss ist unanfechtbar, § 80 AsylG.
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Referenzen
- § 71a Abs. 5 AsylG 1x (nicht zugeordnet)
- 13 A 3741/18 8x (nicht zugeordnet)
- § 60 Abs. 5 AufenthG 5x (nicht zugeordnet)
- 9 LB 93/18 7x (nicht zugeordnet)
- ZPO § 580 Restitutionsklage 1x
- §§ 71a Abs. 1 Halbsatz 1 AsylG, 51 Abs. 1 VwVfG 1x (nicht zugeordnet)
- § 71a AsylG 1x (nicht zugeordnet)
- 9 LB 93/18 1x (nicht zugeordnet)
- VwVfG § 51 Wiederaufgreifen des Verfahrens 6x
- § 26a Abs. 1 Satz 1 AsylG 1x (nicht zugeordnet)
- § 80 AsylG 1x (nicht zugeordnet)
- § 11 AufenthG 1x (nicht zugeordnet)
- 10 C 14/10 1x (nicht zugeordnet)
- § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG 2x (nicht zugeordnet)
- §§ 71a Abs. 4, 36 Abs. 4 Satz 1 AsylG 2x (nicht zugeordnet)
- § 34 Abs. 1 Satz 1 Nr. 3 AsylG 1x (nicht zugeordnet)
- VwGO § 155 1x
- 13 A 3930/18 8x (nicht zugeordnet)
- § 71a Abs. 1 Halbsatz 1 AsylG 1x (nicht zugeordnet)
- VwVfG § 1 Anwendungsbereich 1x