Beschluss vom Verwaltungsgericht Düsseldorf - 12 L 627/22.A
Tenor
Der Antrag auf Bewilligung von Prozesskostenhilfe wird abgelehnt.
Die aufschiebende Wirkung der Klage 12 K 2204/22.A wird hinsichtlich der Abschiebungsanordnung in Ziffer 3 des Bescheides des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge vom 24. Februar 2022 angeordnet.
Die Antragsgegnerin trägt die Kosten des Verfahrens, für das Gerichtskosten nicht erhoben werden.
1
Gründe:
2Die Zuständigkeit der Kammer für die Entscheidung im Verfahren des vorläufigen Rechtsschutzes ergibt sich aus § 76 Abs. 4 Satz 2 AsylG, nachdem die Einzelrichterin den Rechtsstreit mit Beschluss vom 11. April 2022 wegen grundsätzlicher Bedeutung auf die Kammer übertragen hat.
3Der am 11. März 2022 sinngemäß gestellte, dem Tenor entsprechende Antrag hat Erfolg.
4Der Antrag ist zulässig. Er ist nach § 80 Abs. 5 VwGO statthaft, da der in der Hauptsache erhobenen Klage nach § 80 Abs. 2 Satz 1 Nr. 3 VwGO i.V.m. § 75 Abs. 1 AsylG keine aufschiebende Wirkung zukommt. Die Antragsteller haben auch die Wochenfrist zur Stellung des Antrages gemäß § 34a Abs. 2 Satz 1 AsylG eingehalten. Denn der in der Hauptsache angefochtene Bescheid des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge (Bundesamt) ist ihnen am 7. März 2022 durch Aushändigung zugestellt worden.
5Der Antrag ist auch begründet.
6Nach § 80 Abs. 5 VwGO kann das Gericht auf Antrag im Rahmen einer eigenen Ermessensentscheidung die aufschiebende Wirkung der Klage anordnen, wenn das Interesse des Antragstellers an der beantragten Aussetzung der Vollziehung das bezüglich der Abschiebungsanordnung durch § 75 AsylG gesetzlich angeordnete öffentliche Interesse an der sofortigen Durchsetzbarkeit des Verwaltungsaktes überwiegt. Die dabei vorzunehmende Interessenabwägung zwischen dem öffentlichen Vollzugsinteresse und dem privaten Aussetzungsinteresse des Antragstellers hat sich maßgeblich – wenn auch nicht ausschließlich – an den Erfolgsaussichten in der Hauptsache zu orientieren, wie diese sich bei der im Eilverfahren allein möglichen und gebotenen summarischen Prüfung im vorliegenden Verfahren abschätzen lassen.
7Vgl. zum Maßstab: VG Düsseldorf, Beschlüsse vom 12. August 2016 – 12 L 2625/16.A –, juris, Rn. 7, und vom 7. Dezember 2015 – 12 L 3592/15.A –, juris, Rn. 5.
8Diese Interessenabwägung fällt vorliegend zu Lasten der Antragsgegnerin aus, denn die Abschiebungsanordnung nach § 34a Abs. 1 AsylG begegnet nach dem vorgenannten Maßstab zum maßgeblichen Zeitpunkt der gerichtlichen Entscheidung (vgl. § 77 Abs. 1 Satz 1 Halbsatz 2 AsylG) durchgreifenden rechtlichen Bedenken.
9Nach dieser Vorschrift ordnet das Bundesamt die Abschiebung des Ausländers in einen sicheren Drittstaat (§ 26a AsylG) oder in einen für die Durchführung des Asylverfahrens zuständigen Staat (§ 29 Abs. 1 Nr. 1 AsylG) an, sobald feststeht, dass sie durchgeführt werden kann. Gemäß § 29 Abs. 1 Nr. 1 Buchstabe a) AsylG ist ein Asylantrag unzulässig, wenn ein anderer Staat nach Maßgabe der Verordnung (EU) Nr. 604/2013 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 26. Juni 2013 zur Festlegung der Kriterien und Verfahren zur Bestimmung des Mitgliedstaats, der für die Prüfung eines von einem Drittstaatsangehörigen oder Staatenlosen in einem Mitgliedstaat gestellten Antrags auf internationalen Schutz zuständig ist, (ABl. L 180 vom 29.6.2013, S. 31; Dublin III-Verordnung) für die Durchführung des Asylverfahrens zuständig ist.
10Die Zuständigkeit richtet sich dabei im Fall eines – hier gegebenen –Wiederaufnahmeverfahrens nach Art. 23 ff. Dublin III-Verordnung nicht nach den Kriterien des Kapitels III der Dublin III-Verordnung, sondern ist anhand der Voraussetzungen der Art. 20 Abs. 5 oder Art. 18 Abs. 1 Buchstaben b) bis d) Dublin III-Verordnung zu bestimmen.
11Vgl. EuGH, Urteil vom 2. April 2019 – C-582/17 und C-583/17 –, juris, Rn. 58 ff.
12Gemessen hieran spricht Überwiegendes dafür, dass die Abschiebungsanordnung nach Polen rechtswidrig ist, weil die Voraussetzungen des § 29 Abs. 1 Nr. 1 Buchstabe a) AsylG zum maßgeblichen Zeitpunkt der gerichtlichen Entscheidung nicht mehr vorliegen.
13Polen war vorliegend zwar grundsätzlich gemäß Art. 18 Abs. 1 Buchstabe c) Dublin III-Verordnung für die Prüfung der Asylanträge der Antragsteller zu 1. und zu 2. zuständig. Nach dieser Norm ist der zuständige Mitgliedstaat verpflichtet, einen Drittstaatsangehörigen oder Staatenlosen, der seinen Antrag während der Antragsprüfung zurückgezogen und in einem anderen Mitgliedstaat einen Antrag gestellt hat oder der sich im Hoheitsgebiet eines anderen Mitgliedstaats ohne Aufenthaltstitel aufhält, nach Maßgabe der Art. 23, 24, 25 und 29 Dublin III-Verordnung wieder aufzunehmen.
14Diese Voraussetzungen sind vorliegend erfüllt. Die Antragsteller zu 1. und zu 2. haben am 16. November 2021 in Polen Anträge auf Gewährung internationalen Schutzes gestellt. Dies ergibt sich aus den in den beigezogenen Verwaltungsvorgängen enthaltenen Eurodac-Treffern (PL1211116080311003000/700679609R und PL1211116080311004000/700679610P), vgl. Art. 24 Abs. 4 i.V.m. Art. 9 Abs. 1 der Verordnung (EU) Nr. 603/2013 (ABl. L 180 vom 29. Juni 2013, S. 1 ff.). Die polnische Dublin-Einheit hat auf die fristgerecht gestellten (vgl. Art. 23 Abs. 2 UAbs. 1 Dublin III-Verordnung) Wiederaufnahmegesuche des Bundesamtes vom 1. Februar 2022 am 15. Februar 2022 geantwortet und den Gesuchen unter Bezugnahme auf Art. 18 Abs. 1 Buchstabe c) Dublin III-Verordnung stattgegeben.
15Die grundsätzliche Zuständigkeit Polens für die Prüfung des Asylantrages der Antragstellerin zu 3. ergab sich aus Art. 20 Abs. 3 Satz 1 Dublin III-Verordnung. Hiernach ist für die Zwecke der Verordnung die Situation eines mit dem Antragsteller einreisenden Minderjährigen, der – wie hier – der Definition des Familienangehörigen entspricht (vgl. Art. 2 Buchstabe g) Spiegelstrich 2 Dublin III-Verordnung), untrennbar mit der Situation seines Familienangehörigen verbunden und fällt in die Zuständigkeit des Mitgliedstaates, der für die Prüfung des Antrags auf internationalen Schutz dieses Familienangehörigen zuständig ist, sofern dies dem Wohl des Minderjährigen entspricht. Es sind keine Anhaltspunkte ersichtlich, dass hier Gründe des Kindeswohles einer gemeinsamen Behandlung des Asylantrages der Antragstellerin zu 3. mit denen ihrer Eltern, der Antragsteller zu 1. und zu 2., entgegenstehen.
16Die Antragsgegnerin ist aber zur Ausübung ihres Selbsteintrittsrechtes verpflichtet.
17Nach Art. 17 Abs. 1 UAbs. 1 Dublin III-Verordnung kann jeder Mitgliedstaat abweichend von Art. 3 Abs. 1 Dublin III-Verordnung beschließen, einen bei ihm von einem Drittstaatsangehörigen oder Staatenlosen gestellten Antrag auf internationalen Schutz zu prüfen, auch wenn er nach den in dieser Verordnung festgelegten Kriterien nicht für die Prüfung zuständig ist. Der Mitgliedstaat, der gemäß diesem Absatz beschließt, einen Antrag auf internationalen Schutz zu prüfen, wird dadurch zum zuständigen Mitgliedstaat und übernimmt die mit dieser Zuständigkeit einhergehenden Verpflichtungen (Art. 17 Abs. 1 UAbs. 2 Satz 1 Dublin III-Verordnung).
18Ziel dieser Vorschrift ist es, die Prärogativen der Mitgliedstaaten bei der Ausübung des Rechtes auf Gewährung internationalen Schutzes zu wahren. Sie soll es jedem Mitgliedstaat ermöglichen, sich aus politischen, humanitären oder praktischen Erwägungen bereit zu erklären, einen Antrag auf internationalen Schutz zu prüfen, auch wenn er hierfür nach den in der Dublin III-Verordnung definierten Kriterien nicht zuständig ist.
19Vgl. EuGH, Urteile vom 10. Dezember 2013 – C-394/12 –, juris, Rn. 57, vom 5. Juli 2018 – C-213/17 –, juris, Rn. 61, und vom 23. Januar 2019 – C-661/17 –, juris, Rn. 58 ff.
20Die Aufnahme einer außergewöhnlich hohen Zahl internationalen Schutz begehrender Drittstaatsangehöriger durch einen Mitgliedstaat kann dadurch erleichtert werden, dass andere Mitgliedstaaten im Geist der Solidarität, der im Einklang mit Art. 80 AEUV der Dublin III-Verordnung zugrunde liegt, von ihrem Selbsteintrittsrecht Gebrauch machen.
21Vgl. EuGH, Urteil vom 26. Juli 2017 – C-646/16 –, juris, Rn. 100.
22Zwar wird den Mitgliedstaaten in Art. 17 Abs. 1 Dublin III-Verordnung grundsätzlich ein weites Ermessen eingeräumt. Es ist Sache des betreffenden Mitgliedstaates, die Umstände zu bestimmen, unter denen er von der Befugnis, die durch die Ermessensklausel in Art. 17 Abs. 1 der Dublin-III-Verordnung eingeräumt wird, Gebrauch machen möchte, und zu entscheiden, ob er sich bereit erklärt, einen Antrag auf internationalen Schutz, für den er nach den in dieser Verordnung definierten Kriterien nicht zuständig ist, selbst zu prüfen.
23Vgl. EuGH, Urteile vom 10. Dezember 2013 – C-394/12 –, juris, Rn. 57, und vom 23. Januar 2019 – C-661/17 –, juris, Rn. 58 f.
24Dieses Ermessen ist im vorliegenden Fall jedoch auf Null reduziert.
25Vgl. zur Möglichkeit einer Ermessensreduktion OVG NRW, Beschluss vom 8. Dezember 2017 – 11 A 1966/15.A –, juris, Rn. 6 ff.; VGH Baden-Württemberg, Urteil vom 5. Juli 2016 – A 11 S 974/16 –, juris, Rn. 45; Günther, in: BeckOK Ausländerrecht, Kluth/Heusch, 32. Edition, Stand: 1. Oktober 2021, § 29 AsylG, Rn. 61; in diese Richtung auch BVerwG, Urteil vom 8. Januar 2019 – 1 C 16/18 –, juris, Rn. 38, und Beschluss vom 19. Mai 2021 – 1 B 11/21 –, juris, Rn. 17.
26Das Ermessen verdichtet sich dann zu einer Pflicht zum Selbsteintritt, wenn jede andere Entscheidung unvertretbar wäre. Eine solche Fallkonstellation ist etwa anzunehmen, wenn in einer Situation, in der Grundrechte des Antragstellers im Falle der Überstellung an den an sich zuständigen Mitgliedstaat wegen systemischer Mängel verletzt würden, die Lage des Antragstellers durch eine unangemessen lange Verfahrensdauer noch verschlimmert würde. Darüber hinaus besteht eine Pflicht zum Selbsteintritt, wenn im Fall der Überstellung eine in den persönlichen Umständen des Betroffenen wurzelnde Grundrechtsverletzung gegeben wäre.
27Vgl. Bayerischer VGH, Urteil vom 3. Dezember 2015 – 13a B 15.50124 –, juris, Rn. 22 m.w.N.
28Eine Ermessensreduktion kann sich auch aus dem Beschleunigungsgrundsatz der Dublin III-Verordnung ergeben. Steht zum Entscheidungszeitpunkt hinreichend sicher fest, dass innerhalb der nächsten sechs Monate eine Überstellung aus tatsächlichen Gründen nicht möglich sein wird oder durchgeführt werden kann, so gebietet der dem Dublin-System innewohnende Beschleunigungsgedanke, dass bereits jetzt von einer Unmöglichkeit der Überstellung und damit dem künftigen Zuständigkeitsübergang auszugehen ist (vgl. Art. 29 Abs. 2 Dublin III-Verordnung).
29Vgl. OVG NRW, Beschluss vom 8. Dezember 2017 – 11 A 1966/15.A –, juris, Rn. 8; VGH Baden-Württemberg, Urteil vom 5. Juli 2016 – A 11 S 974/16 –, juris, Rn. 45; OVG Niedersachsen, Beschluss vom 20. Dezember 2016 – 8 LB 184/15 –, juris, Rn. 61; dies andeutend auch BVerwG, Urteil vom 8. Januar 2019 – 1 C 16/18 –, juris, Rn. 38; EuGH, Urteil vom 21. Dezember 2011 – C-411/10 und C-493/10 –, juris, Rn. 98, 108.
30Nach diesen Maßgaben geht die Kammer derzeit davon aus, dass die Antragsgegnerin verpflichtet ist, von ihrem Selbsteintrittsrecht Gebrauch zu machen. Denn eine Überstellung der Antragsteller nach Polen kommt vor dem Hintergrund der aktuellen Auswirkungen des Krieges in der Ukraine auf absehbare Zeit nicht in Betracht; die Zuständigkeit eines anderen Mitgliedstaates ist nicht gegeben.
31Im Einzelnen:
32Die Kapazitäten Polens zur Aufnahme von Flüchtlingen sind zum maßgeblichen Zeitpunkt der gerichtlichen Entscheidung erschöpft. Der polnische Staat verzeichnet aktuell einen in der jüngeren europäischen Geschichte einzigartigen Zustrom von Geflüchteten. Seit Beginn des Krieges in der Ukraine am 24. Februar 2022 haben bereits 2.622.117 Personen die ukrainisch-polnische Grenze überschritten.
33Vgl. UNHCR, Operational Data Portal – Ukraine Refugee Situation, abrufbar unter: https://data2.unhcr.org/en/situations/ukraine (zuletzt abgerufen am 12. April 2022).
34Selbst wenn ein nicht unerheblicher Anteil der aus der Ukraine Geflüchteten in andere EU-Mitgliedstaaten weiterreist oder bei Familie oder Bekannten aufgenommen werden kann, muss eine große Zahl dieser Menschen in Polen staatlicherseits untergebracht werden.
35Die lokalen Behörden in Polen haben Unterkunftszentren mit einer Kapazität für rund 280.000 Menschen eingerichtet. In den ersten Tagen sind diese noch weitgehend unbesetzt geblieben, da die ankommenden Personen zumeist in privat organisierten Unterkünften untergebracht worden sind oder weiterreisen wollten. Im weiteren Kriegsverlauf ist die Anzahl der auf die staatlichen Unterkünfte angewiesenen Personen aber gestiegen.
36Vgl. UNHCR, Ukraine Situation Flash Update #1, 8. März 2022, S. 4, abrufbar unter: file://srzms06c004/VGD/HOMES/vg4356/zbs/Downloads/Ukraine%20situation%20flash%20update%20No%201%20%2008%2003%202022%20(1).pdf.
37Nach einer aktuellen Umfrage zu der Art der Unterbringung ukrainischer Flüchtlinge haben 32 Prozent der Befragten die vorhergehende Nacht in einem Aufnahmezentrum, einer längerfristigen Unterkunft oder Gemeinschaftsunterkunft verbracht. Zudem fühlen sich einige Haushalte, die sich als Gastgeber für vertriebene Familien zur Verfügung gestellt haben, bereits überfordert und suchen nach Unterstützung, um den Familien zu helfen, in alternative Unterkünfte zu wechseln. Schlüsselinformanten haben darauf hingewiesen, dass der Wohnungsmarkt in Warschau, Krakau und Breslau bereits voll sei.
38Vgl. International Rescue Committee, Rapid Needs Assessment Report – Refugees from Ukraine in Poland, 1. April 2022 (Umfrage vom 11. bis 24. März 2022), S. 7, abrufbar unter: file://srzms06c004/VGD/HOMES/vg4356/zbs/Downloads/IRC%20Assessment%20-%20Ukrainian%20Refugees%20in%20Poland_FINAL.pdf.
39Berücksichtigt man zusätzlich, dass in Polen für Asylbewerber vor dem Krieg in der Ukraine (lediglich) in zehn Unterkunftszentren insgesamt 1.962 Plätze zur Verfügung standen,
40vgl. AIDA, Country Report Poland, 2020 Update, April 2021, S. 55, abrufbar unter: https://asylumineurope.org/wp-content/uploads/2021/04/AIDA-PL_2020update.pdf.
41vermag die Kammer nicht zu erkennen, dass der polnische Staat derzeit zur Unterbringung weiterer Flüchtlinge in der Lage wäre.
42Dementsprechend haben die polnischen Behörden bereits am 25. Februar 2022 erklärt, dass Überstellungen im Rahmen der Dublin III-Verordnung ab sofort zunächst nicht mehr entgegengenommen werden, um den aus dem Einmarsch russischer Truppen in die Ukraine am 24. Februar 2022 resultierenden erheblichen Flüchtlingsbewegungen gerecht zu werden.
43Vor diesem Hintergrund ergibt sich eine Pflicht der Antragsgegnerin zum Selbsteintritt auch aus dem Beschleunigungsgrundsatz der Dublin III-Verordnung. Eine Überstellung der Antragsteller nach Polen ist bereits mangels Aufnahmebereitschaft Polens auf absehbare Zeit tatsächlich unmöglich. Derzeit ist nicht vorhersehbar, wie lange der Krieg noch andauern wird. Angesichts der Zerstörung insbesondere der ukrainischen Infrastruktur durch die Kriegshandlungen ist zudem zu erwarten, dass eine nicht unerhebliche Anzahl der ukrainischen Staatsangehörigen auch nach Kriegsende für eine längere Zeit nicht in die Ukraine zurückkehren kann.
44Vgl. zu Letzterem auch VG Düsseldorf, Beschluss vom 7. April 2022 – 15 L 236/22.A –, S. 5 f. des Beschlussabdruckes, n.v.
45Die Unmöglichkeit der Überstellung nach Polen führt vorliegend unmittelbar zur Zuständigkeit der Antragsgegnerin für die Prüfung des Asylgesuchs der Antragsteller. Eine Fortsetzung der Prüfung der in Kapitel III vorgesehenen Kriterien (vgl. Art. 3 Abs. 2 UAbs. 2 Dublin III-Verordnung) ergibt – jedenfalls vor dem Hintergrund des Ablaufs des entsprechenden Aufnahme- bzw. Wiederaufnahmefristen – keine Zuständigkeit eines anderen Mitgliedstaates.
46Zu diesem Erfordernis VGH Baden-Württemberg, Urteil vom 29. Juli 2019 – A 4 S 749/19 –, juris, Rn. 39; Günther, in: BeckOK Ausländerrecht, Kluth/Heusch, 32. Edition, Stand: 1. Oktober 2021, § 29 AsylG Rn. 34.
47Auf die Pflicht der Antragsgegnerin zum Selbsteintritt können sich die Antragsteller auch berufen; sie haben – jedenfalls in Verbindung mit den ihnen in der Dublin III-Verordnung eingeräumten Rechten – insoweit einen einklagbaren Anspruch.
48Zur (inzidenten) Klagbarkeit auch EuGH, Urteil vom 23. Januar 2019 – C-661/17 –, juris, Rn. 78 f.; a.A. wohl VGH Baden-Württemberg, Urteil vom 29. Juli 2019 – A 4 S 749/19 –, juris, Rn. 39; offengelassen in BVerwG, Urteil vom 8. Januar 2019 – 1 C 16/18 –, juris, Rn. 38, und Beschluss vom 19. Mai 2021 – 1 B 11/21 –, juris, Rn. 17.
49Ein Schutzsuchender kann sich zwar den für die Prüfung seines Schutzbegehrens zuständigen Mitgliedstaat nicht selbst aussuchen; er hat aber einen Anspruch darauf, dass ein von ihm innerhalb der EU gestellter Antrag auf internationalen Schutz innerhalb der EU geprüft wird.
50Vgl. BVerwG, Urteil vom 9. August 2016 – 1 C 6/16 –, juris, Rn. 23.
51Die Nichtausübung des Selbsteintritts durch die Antragsgegnerin würde dementgegen für die Antragsteller die Gefahr einer „refugee in orbit“-Situation begründen, in der sich kein Mitgliedstaat für die sachliche Prüfung ihrer Asylanträge als zuständig ansieht. Dies würde dem zentralen Anliegen des Dublin-Regimes zuwiderlaufen, einen effektiven Zugang zu den Verfahren zur Gewährung internationalen Schutzes zu gewährleisten und das Ziel einer zügigen Bearbeitung der Anträge auf internationalen Schutz nicht zu gefährden (Erwägungsgrund 5 der Dublin III-VO).
52Vgl. hierzu BVerwG, Urteile vom 27. April 2016 – 1 C 24/15 –, juris, Rn. 20, und vom 25. Mai 2021 – 1 C 39/20 –, juris, Rn. 15; OVG NRW, Urteil vom 16. September 2015 – 13 A 800/15.A –, juris, Rn. 107 ff.
53Der Antrag auf Bewilligung von Prozesskostenhilfe war abzulehnen, da die Antragsteller dem Antrag nicht die gemäß § 166 VwGO i.V.m. § 117 Abs. 2 Satz 1 ZPO erforderliche Erklärung über die persönlichen und wirtschaftlichen Verhältnisse beigefügt und diese auch nicht nachgereicht haben. Die Kammer ist nicht verpflichtet, diesbezüglich von Amts wegen in Ermittlungen einzutreten.
54Vgl. zu Letzterem OVG NRW, Beschluss vom 20. August 2017 – 18 E 953/13 –, juris.
55Die Kostenentscheidung folgt aus § 154 Abs. 1 VwGO, § 83b AsylG.
56Dieser Beschluss ist unanfechtbar (§ 80 AsylG).
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