Urteil vom Verwaltungsgericht Gelsenkirchen - 1a K 887/18.A
Tenor
Der Bescheid des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge vom 30. Januar 2018 wird mit Ausnahme des in Ziffer 3 festgestellten Abschiebungsverbotes betreffend Nigeria aufgehoben.
Die Beklagte trägt die Kosten des Verfahrens, für das Gerichtskosten nicht erhoben werden.
Das Urteil ist wegen der Kosten vorläufig vollstreckbar. Die Beklagte darf die Vollstreckung durch Sicherheitsleistung in Höhe von 110 % des aufgrund des Urteils zu vollstreckenden Betrages abwenden, wenn nicht die Klägerinnen zuvor Sicherheit in gleicher Höhe leisten.
1
Tatbestand:
2Die nach eigenen Angaben am 16. Oktober 1982 in Lagos geborene Klägerin zu 1. ist wiederum nach eigenen Angaben nigerianische Staatsangehörige vom Volk der Urhobo. Sie stellte am 11. Dezember 2014 einen förmlichen Asylantrag beim Bundesamt in Düsseldorf.
3Die am 31. Mai 2012 in Mailand, Italien, geborene Klägerin zu 2. ist die Tochter der Klägerin zu 1.
4In dem persönlichen Gespräch zur Bestimmung des zuständigen Mitgliedstaates am 11. Dezember 2014 in Düsseldorf gab die Klägerin zu 1. an, sie sei mit einem Herrn E. C. verheiratet. Diesen habe sie im Jahr 2010 in Libyen geheiratet. Ihr Herkunftsland habe sie im Jahr 2009 verlassen und sei am 26. November 2014 in Deutschland eingereist. Sie habe zuvor bereits am 18. Mai 2011 in Italien Asyl beantragt.
5Bei ihrer Einreise wurden die Klägerinnen zunächst unter den Personalien G. E. und S. E. registriert.
6Am 21. Februar 2015 wurde die Klägerin zu 1. in Rosenheim von der Bundespolizei aufgegriffen. In ihrer Befragung gab sie an, sie habe Nordrhein-Westfalen verlassen, weil die Klägerin zu 2. habe operiert und sie hierfür erforderliche Unterlagen aus Italien habe beschaffen müssen. Ihr sei nicht bewusst gewesen, dass sie Nordrhein-Westfalen nicht habe verlassen dürfen. Bei ihrem Aufgriff führte die Klägerin zu 1. eine italienische Identitätskarte bei sich.
7Ausweislich eines Eurodactreffers vom 21. Februar 2015 wurde für die Klägerin ein IT1-Treffer festgestellt.
8Bei ihrer Anhörung am 30. November 2016 machte die Klägerin zu 1. im Wesentlichen folgende Angaben: Sie habe bis zu ihrer Ausreise in Lagos gelebt. Ihr Heimatland habe sie im November 2010 verlassen. Am 28. November 2014 sei sie in Deutschland eingereist. Zuvor habe sie sich ein Jahr in Libyen und drei Jahre in Italien aufgehalten. Dort habe sie eine befristete Aufenthaltserlaubnis gehabt. Sie habe Nigeria verlassen, weil ihr dort nach einer Geburt im Jahr 2005 die Beschneidung gedroht habe. Zunächst habe sie sich in Lagos versteckt und sei dann im Jahr 2010 nach Libyen gegangen.
9Mit Info-Request vom 5. Oktober 2017 ersuchte das Bundesamt die italienischen Behörden um Auskunft, welche Entscheidung in Italien auf das Asylgesuch der Klägerin zu 1. vom 30. Mai 2011 ergangen ist. Hierzu erfolgte trotz Erinnerung keine Reaktion der italienischen Behörden.
10Am 21. Dezember 2017 wurde die Klägerin zu 1. erneut persönlich angehört. In dieser Anhörung gab sie an, nie verheiratet gewesen zu sein. Sie habe lediglich das Kind bekommen. Sie habe nur die nigerianische Staatsangehörigkeit. Der Vater der Klägerin zu 2. habe damals in Italien angegeben, auch sie habe die kamerunische Staatsangehörigkeit. Dieser habe auf Französisch gesprochen und sie habe es nicht verstanden. In Italien habe lediglich der Vater der Klägerin zu 2. Asylgründe geltend gemacht. Sie seien dort gemeinsam angehört worden und hätten einen Aufenthaltsstatus für ein Jahr bekommen. Der Aufenthaltstitel gelte jedoch innerhalb der Stadt Mailand für 10 Jahre, also bis 2022. In Italien habe sie nicht bleiben können. Dort habe sie keine Arbeit und keine Wohnung gehabt. Nach Erhalt ihrer Aufenthaltserlaubnis seien sie aufgefordert worden, die Unterkunft zu verlassen. Sie hätten dann ein Zimmer vom Sozialamt erhalten. Ihr Lebensgefährte habe sie sodann verlassen. Auch das Zimmer habe sie verlassen müssen und sodann mit vielen Menschen in einem Lager leben müssen. Dort seien die Verhältnisse sehr schlecht gewesen. Sie habe dann bei einer Freundin gelebt. Dies sei jedoch nur für eine Woche möglich gewesen, da sie dann Miete habe zahlen sollen. Sie habe anschließend ohne festen Wohnsitz in Notunterkünften gelebt und sei, nachdem sie genug Geld erbettelt habe, nach Deutschland gereist.
11Mit Bescheid des Bundesamtes vom 30. Januar 2018 wurden die Asylanträge der Klägerinnen als unzulässig abgelehnt (Ziffer 1.). Es wurde festgestellt, dass Abschiebungsverbote nicht vorlagen (Ziffer 2.). Die Klägerinnen wurden aufgefordert, die Bundesrepublik Deutschland innerhalb von 30 Tagen nach Bekanntgabe der Entscheidung zu verlassen. Im Falle der Klageerhebung sollte die Ausreisefrist 30 Tage nach dem unanfechtbaren Abschluss des Asylverfahrens enden. Sollten die Klägerinnen die Ausreisefrist nicht einhalten, würden sie nach Italien oder in einen anderen aufnahmebereiten Staat abgeschoben. Eine Abschiebung nach Nigeria dürfe nicht erfolgen. Zur Begründung wurde ausgeführt, die Asylanträge seien unzulässig gemäß § 29 Abs. 2 Nr. 2 AsylG. Nach den Erkenntnissen des Bundesamtes sei den Klägerinnen in Italien internationaler Schutz gewährt worden. Aus den Eurodactreffern ergebe sich, dass die Klägerin zu 1. am 30. November 2011 in Italien einen Asylantrag gestellt habe. Aus der Beschuldigtenvernehmung der Bundespolizei in München gehe hervor, dass sie mit einer Carta d‘Identita (Nr. AT6331990) eingereist sei. Dieser Ausweis sei ausgestellt worden durch das Einwohnermeldeamt der Gemeinde Canegrate am 9. Oktober 2012 und weise eine Gültigkeit bis zum 16. Oktober 2022 auf. Dies sei durch die Klägerin zu 1. auch bestätigt worden. Abschiebungsverbote lägen auch unter Berücksichtigung der individuellen Umstände der Klägerinnen nicht vor. Die Abschiebungsandrohung beruhe auf §§ 35, 29 Abs. 1 Nr. 2 AsylG. Die Ausreisefrist werden nach § 38 Abs. 1 AsylG festgelegt.
12Der Klägerin zu 1. wurde der Bescheid am 2. Februar 2018 zugestellt. Hiergegen hat sie am 14. Februar 2018 die vorliegende Klage erhoben und einen Antrag auf einstweiligen Rechtsschutz gestellt (1a L 316/18.A). Zur Begründung führte sie zum Zeitpunkt der Klageerhebung aus, sie sei schwanger und nicht reisefähig. Aufgrund des geschilderten Verfolgungsschicksals sei ihnen internationaler Schutz zuzuerkennen.
13Die Klägerinnen beantragen schriftsätzlich,
14den Bescheid des Bundesamtes vom 30. Januar 2018 aufzuheben,
15hilfsweise ihnen die Flüchtlingseigenschaft zuzuerkennen und ihnen den subsidiären Schutzstatus zuzuerkennen,weiter hilfsweise das Vorliegen von Abschiebungsverboten gemäß § 60 Abs. 5 und Abs. 7 Satz 1 AufenthG festzustellen.
16Die Beklagte beantragt schriftsätzlich,
17die Klage abzuweisen.
18Zur Begründung bezieht sie sich auf die angefochtene Entscheidung.
19Die Kl8;gerinnen haben den Eilantrag in dem Verfahren 1a L 316/18.A mit Schriftsatz vom 21. Februar 2018 zurückgenommen.
20Mit Schriftsatz vom 18. Februar 2020 haben die Klägerinnen auf die Durchführung einer mündlichen Verhandlung verzichtet. Die Beklagte hat mit zuletzt am 27. Juni 2017 aktualisierter allgemeiner Prozesserklärung gegenüber den Verwaltungsgerichten das Einverständnis für eine Entscheidung ohne mündliche Verhandlung erklärt.
21Wegen des Sachverhalts und des Vorbringens der Beteiligten im Übrigen wird auf den Inhalt des beigezogenen Verwaltungsvorgangs des Bundesamtes sowie der Gerichtsakten 1a K 887/18.A und 1a L 316/18.A ergänzend Bezug genommen.
22E n t s c h e i d u n g s g r ü n d e :
23atzLinks">Das Gericht konnte vorliegend im Einverständnis mit den Beteiligten ohne mündliche Verhandlung entscheiden (§ 101 Abs. 2 VwGO).
24Die Klage hat Erfolg. Der schriftsätzlich gestellte Klageantrag wird entsprechend dem Klagebegehren der Klägerinnen gemäß § 88 VwGO sachgerecht einschränkend dahin ausgelegt, dass die Klägerinnen nicht auch die Aufhebung des in Ziffer 3 des Bescheides festgestellten Abschiebungsverbotes betreffend Nigeria begehren.
25Die so ausgelegte Klage ist als Anfechtungsklage gemäß § 42 Abs. 1 Alt. 1 VwGO zulässig.
26s="absatzLinks">Vgl. BVerwG, Urteil vom 1. Juni 2017 - 1 C 9.17 -, juris, Rn. 15.
27an>ss="absatzLinks">Die Klage ist auch fristgerecht erhoben.
28Zwar hat die Klägerin zu 1. die Klage erst am 14. Februar 2018 erhoben, nachdem ihr der Bescheid vom 30. Januar 2018 am 2. Februar 2018 zugestellt worden war. Damit hat sie jedoch die in der Rechtsbehelfsbelehrung angegebene Frist von zwei Wochen, der nach Aktenlage maßgeblichen Rechtsbehelfsbelehrung in der deutschen Fassung, eingehalten. Zwar weist die in die englische Sprache übersetzte Rechtsmittelbelehrung nach Aktenlage eine Frist von einer Woche aus und weicht auch im Übrigen von der deutschen Fassung der Rechtsmittelbelehrung ab, als in der englischen Version ein Hinweis auf die Möglichkeit eines Rechtsmittels nach § 80 Abs. 5 VwGO enthalten ist. Maßgeblich ist jedoch vorliegend die deutsche Fassung der Rechtsmittelbelehrung. Gemäß § 58 VwGO i.V.m. § 23 VwVfG hat die Rechtsbehelfsbelehrung in Deutsch zu erfolgen. Darüber hinaus macht eine fehlende oder unrichtige Übersetzung der Rechtsbehelfsbelehrung in eine Sprache, die der Kläger versteht, diese nicht unrichtig im Sinne des § 58 Abs. 2 VwGO und bewirkt auch sonst nicht dessen Anwendung.
29Vgl. BVerwG, Urteil vom 29. August 2018 - 1 C 6.18 -, juris, Rn. 20.
30Mit Blick darauf ist daher im vorliegenden Fall allein die deutsche Version der Rechtsbehelfsbelehrung maßgeblich, mit der Folge, dass die darin gesetzte Klagefrist zum Zeitpunkt der Klageerhebung nicht abgelaufen war.
31Die Klage ist auch begründet.
32Der streitgegenständliche Bescheid des Bundesamts für Migration und Flüchtlinge vom 30. Januar 2018 ist rechtswidrig und verletzt die Klägerinnen in ihren Rechten, § 113 Abs. 1 Satz 1 VwGO.
33Das Bundesamt hat den Asylantrag der Klägerinnen zu Unrecht als unzulässig abgelehnt (Ziffer 1 des Bescheids). […]
34Denn eine Unzulässigkeitsentscheidung nach § 29 Abs. 1 Nr. 2 AsylG darf nach der neuesten Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs,
35vgl. EuGH, Beschluss vom 13. November 2019 - C-540/17, C-541/17 - juris, Rn. 35, 43 und Urteil vom 19. März 2019 - C 297/17, C-318/17, C-319/17, C-438/17 -, juris, Rn. 101,
36auch dann nicht ergehen, wenn die betroffenen Personen dadurch der ernsthaften Gefahr einer unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung im Sinne von Art. 4 GR-Charta ausgesetzt würden. Danach ist Art. 33 Abs. 2 Buchst. a der Verfahrensrichtlinie dahingehend auszulegen, dass er einem Mitgliedstaat verbietet, von der durch diese Vorschrift eingeräumten Befugnis Gebrauch zu machen, einen Antrag auf internationalen Schutz als unzulässig abzulehnen, weil dem Antragsteller bereits von einem anderen Mitgliedstaat die Flüchtlingseigenschaft zuerkannt worden ist, wenn die Lebensverhältnisse, die ihn in einem anderen Mitgliedstaat als anerkannter Flüchtling erwarten würden, ihn der ernsthaften Gefahr aussetzen würden, eine unmenschliche oder erniedrigende Behandlung im Sinne von Art. 4 GR-Charta zu erfahren.
37Vorliegend droht den Klägerinnen, der Klägerin zu 1. als alleinstehender Mutter der minderjährigen Klägerin zu 2. und der Klägerin zu 2. als vulnerabler Person, bei einer Rückkehr nach Italien unabhängig von ihrem Willen und ihren persönlichen Entscheidungen eine derart ernsthafte Gefahr einer den Grundsätzen des Art. 4 GR-Charta zuwiderlaufenden Behandlung oder Situation extremer materieller Not.
38An das Vorliegen einer solchen Gefahr stellt der Europäische Gerichtshof sehr strenge Anforderungen.
39Vgl. EuGH, Urteil vom 19. März 2019 - C-163/17 (Jawo) -, juris, Rn. 82 f. und 87 bis 98.
40Im Kontext des Gemeinsamen Europäischen Asylsystems gilt danach die Vermutung, dass die Behandlung der Antragsteller und Schutzberechtigten in jedem einzelnen Mitgliedstaat in Einklang mit den Erfordernissen der Grundrechtecharta (GR-Charta), der Genfer Flüchtlingskonvention und der Europäischen Menschenrechtskonvention (EMRK) steht. Allerdings kann nach der vorstehenden Rechtsprechung nicht ausgeschlossen werden, dass dieses System in der Praxis auf größere Funktionsstörungen in einem bestimmten Mitgliedstaat stößt, so dass ein ernsthaftes Risiko besteht, dass Antragsteller oder Schutzberechtigte bei einer 0;berstellung in diesen Mitgliedstaat in einer Weise behandelt werden, die mit ihren Grundrechten unvereinbar ist.
41Vgl. EuGH, Urteil vom 19. März 2019 - C-163/17 (Jawo) -, juris, Rn. 82 f. und 87 bis 98.
42Art. 4 der GR-Charta und in gleicher Weise auch Art. 3 EMRK sind dahin auszulegen, dass sie einer Überstellung entgegenstehen, wenn das zuständige Gericht auf der Grundlage objektiver, zuverlässiger, genauer und gebührend aktualisierter Angaben feststellt, dass der Antragsteller einem ernsthaften Risiko ausgesetzt wäre, eine unmenschliche oder erniedrigende Behandlung im Sinne von Art. 4 GR-Charta zu erfahren, weil er sich im Fall der Überstellung unabhängig von seinem Willen und seinen persönlichen Entscheidungen in einer Situation extremer materieller Not befände.
43Vgl. EuGH, Urteil vom 19. März 2019 - C-163/17 (Jawo) -, juris, Rn. 98; Beschluss vom 13. November 2019 - C-540/17 und C-541/17 (Hamed) -, juris, Rn. 39; vgl. auch BVerfG, Beschluss vom 10. Oktober 2019 - 2 BvR 1380/19 -, juris, Rn. 15.
44Dabei ist es für die Anwendung des Art. 4 GR-Charta gleichgültig, ob es zum Zeitpunkt der Überstellung, während des Asylverfahrens oder nach dessen Abschluss dazu kommt, dass die betreffende Person auf Grund ihrer Überstellung an den zuständigen Mitgliedstaat einem ernsthaften Risiko ausgesetzt wäre, eine unmenschliche oder erniedrigende Behandlung zu erfahren. Die Überstellung eines Antragstellers oder Schutzberechtigten in einen Mitgliedstaat ist in all jenen Situationen ausgeschlossen, in denen ernsthafte und durch Tatsachen bestätigte Gründe für die Annahme vorliegen, dass er bei seiner Überstellung oder infolge seiner Überstellung in eine solche Gefahr geraten wird. Insoweit ist das zuständige Gericht verpflichtet, auf der Grundlage objektiver, zuverlässiger, genauer und gebührend aktualisierter Angaben und im Hinblick auf den durch das Unionsrecht gewährleisteten Schutzstandard der Grundrechte zu würdigen, ob entweder systemische oder allgemeine oder aber bestimmte Personengruppen betreffende Schwachstellen vorliegen. Derartige Schwachstellen fallen nur dann unter Art. 4 GR-Charta, wenn sie eine besonders hohe Schwelle der Erheblichkeit erreichen, die von sämtlichen Umständen des Falles abhängt.
45Diese besonders hohe Schwelle der Erheblichkeit ist erreicht, wenn die Gleichgültigkeit der Behörden eines Mitgliedstaats zur Folge hat, dass eine vollständig von öffentlicher Unterstützung abhängige Person sich unabhängig von ihrem Willen und ihren persönlichen Entscheidungen in einer Situation extremer materieller Not befindet, die es ihr nicht erlaubt, ihre elementarsten Bedürfnisse zu befriedigen, wie insbesondere sich zu ernähren, sich zu waschen und eine Unterkunft zu finden, und die ihre physische oder psychische Gesundheit beeinträchtigt oder sie in einen Zustand der Verelendung versetzt, der mit der Menschenwürde unvereinbar ist.
46Vgl. EuGH, Urteil vom 19. März 2019 - C-163/17 (Jawo) -, juris, Rn. 87 bis 92; Beschluss vom 13. November 2019 - C-540/17 und C-541/17 (Hamed) -, juris, Rn. 39.
47Große Armut oder eine starke Verschlechterung der Lebensverhältnisse der betreffenden Person reichen nicht aus, sofern sie nicht mit extremer materieller Not verbunden sind. Das Fehlen familiärer Solidarität ist keine ausreichende Grundlage für die Feststellung einer Situation extremer materieller Not. Auch Mängel bei der Durchführung von Programmen zur Integration von Schutzberechtigten reichen für einen Verstoß gegen Art. 4 GR-Charta nicht aus. Der bloße Umstand, dass im ersuchenden Mitgliedstaat die Sozialhilfeleistungen und/oder die Lebensverhältnisse günstiger sind als im normalerweise zuständigen Mitgliedstaat, kann nicht die Schlussfolgerung stützen, dass die betreffende Person im Fall ihrer Überstellung tatsächlich der Gefahr ausgesetzt wäre, eine gegen Art. 4 der Grundrechtecharta verstoßende Behandlung zu erfahren.
48Vgl. EuGH, Urteil vom 19. März 2019 - C-163/17 (Jawo) -, juris, Rn. 93 f. und 96 f.; Beschluss vom 13. November 2019 - C-540/17 und C-541/17 (Hamed) -, juris, Rn. 39.
49Art. 4 GR-Charta verpflichtet die Konventionsstaaten auch nicht, allen ihrer Hoheitsgewalt unterstehenden Personen das Recht auf eine Unterkunft und eine finanzielle Unterstützung zu gewährleisten, damit sie einen gewissen Lebensstandard haben.
s="absatzRechts">50Vgl. zu Art. 3 EMRK: EGMR, Urteil vom 21. Januar 2011 - 30696/09 -, EuGRZ 2011, 243, 245, Rn. 249.
51Erst recht lässt sich aus Art. 4 GR-Charta kein Anspruch auf Bevorzugung gegenüber der einheimischen Bevölkerung herleiten.
52Vgl. zu Art. 3 EMRK: EGMR, Urteil vom 13. Dezember 2016 - 41738/10 -, NVwZ 2017, 1187, Rn. 189.
53Schutzberechtigte müssen sich grundsätzlich auf den für Staatsangehörige des schutzgewährenden Landes vorhandenen Lebensstandard verweisen lassen (siehe etwa Art. 26 Abs. 2 und 3, Art. 29 Abs. 1, Art. 30 Abs. 1 Qualifikationsrichtlinie 2011/95/EU).
54Durch Missstände im sozialen Bereich wird die Eingriffsschwelle von Art. 4 GR-Charta nur unter strengen Voraussetzungen überschritten. Neben den rechtlichen Vorgaben ist dabei aber auch auf den (Arbeits-) Willen und reale Arbeitsmöglichkeiten abzustellen sowie die persönlichen Entscheidungen des Betroffenen zu berücksichtigen.
55Vgl. VGH Baden-Württemberg, Urteil vom 29. Juli 2019 - A 4 S 749/19 -, juris, Rn. 40, unter Verweis auf EuGH, Urteil vom 19. März 2019 - C-163/17 - (Jawo), juris, Rn. 92; OVG Schleswig-Holstein (OVG SH), Urteil vom 24. Mai 2018 - 4 LB 27/17 -, juris, Rn. 60, m.w.N.
56Weiter ist auch die spezifische Situation des Betroffenen in den Blick zu nehmen und dabei muss zwischen gesunden und arbeitsfähigen Flüchtlingen sowie besonders vulnerablen Gruppen mit besonderer Verletzbarkeit (z. B. Kleinkinder, minderjährige unbegleitete Flüchtlinge, Hochschwangere, erheblich Erkrankte etc.) unterschieden werden. Bei Letzteren ist der Schutzbedarf naturgemäß anders bzw. höher.
57Vgl. VGH Baden-Württemberg, Urteil vom 29. Juli 2019 - A 4 S 749/19 -, juris, Rn. 41. OVG SH, Urteil vom 25. Juli 2019 - 4 LB 12/17 -, juris, Rn. 63 ff.; OVG NRW, Beschluss vom 16. Dezember 2019 - 11 A 228/15.A -, juris, Rn. 35 ff.
58Die Kammer geht davon aus, dass selbst nach diesen strengen Maßgaben jedenfalls der Klägerin zu 2. im Fall der Überstellung nach Italien die Gefahr einer unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung im Sinne von Art. 4 GR-Charta und Art. 3 EMRK droht. Die Klägerin zu 1. ist die Mutter der am 31. Mai 2012 geborenen Klägerin zu 2. Aufgrund dessen sind die Klägerinnen der Personengruppe der vulnerablen Personen zuzurechnen, für die die vorstehend beschriebenen Maßstäbe mit Blick auf ihren erhöhten Schutzbedarf differenziert anzuwenden sind.
s="absatzRechts">59Für solche besonders vulnerable Personen ist aufgrund aktueller Erkenntnisse zu bef252;rchten, dass sie die in ihrer speziellen Situation dringend erforderliche Unterstützung in Italien nicht erhalten werden und dadurch in eine Situation der Verelendung unabhängig von ihrem eigenen Willen geraten.
60Zwar sind bei einer Gesamtwürdigung der aktuell vorliegenden Berichte und Stellungnahmen keine hinreichenden Gründe für die Annahme feststellbar, dass nichtvulnerablen Schutzsuchenden bei einer Rückkehr nach Italien generell mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit im dortigen Asylverfahren oder in den dortigen Aufnahmebedingungen eine unmenschliche oder erniedrigende Behandlung im Sinne von Art. 4 GR-Charta bzw. Art. 3 EMRK droht.
61Vgl. Verwaltungsgerichtshof Baden-Württemberg, Urteil vom 29. Juli 2019 – A 4 S 749/19 –, juris.
62Das Gericht geht in ständiger Rechtsprechung daher davon aus, dass in Italien nur solche Asylbewerber einer unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung gemäß Art. 3 EMRK ausgesetzt sind, die besonders schutzbedürftig und deshalb auf staatliche Hilfe angewiesen sind.
63Vgl. EGMR, Urteil vom 4. November 2014 - 29217/12 (Tarakhel/Schweiz) -, HUDOC Rn. 98 und juris; BVerfG, Beschluss vom 17. September 2014 – 2 BvR 939/14 -, juris, Rn. 15 f.; BVerwG, Urteil vom 31. März 2013 – 10 C 15.12 -, juris; VG Magdeburg, Urteil vom 2. Mai 2019 – 8 A 126/19 –, juris, Rn. 14 – 15; VG Lüneburg, Beschluss vom 3. April 2019 – 8 B 65/19 -, juris; OVG Niedersachen, Beschluss vom 19. Dezember 2019 – 10 LA 64/19 -, juris.
64Dies gilt insbesondere im Fall der Betroffenheit von Kindern. Dabei ist vor allem zu berücksichtigen, dass der durch Art. 4 GR-Charta bzw. in gleicher Weise durch Art. 3 EMRK vermittelte Schutz bei Kindern - unabhängig davon, ob sie von ihren Eltern begleitet werden - noch wichtiger ist, weil sie besondere Bedürfnisse haben und extrem verwundbar sind. Diese bestehen aufgrund ihres Alters und ihrer Abhängigkeit, aber auch ihres Status als Schutzsuchende.
65Vgl. EGMR, Urteil vom 4. November 2014 – 29217/12 (Tarakhel/Schweiz) –, juris, Rn. 119.
66Kinder sind grundsätzlich verletzlicher und ihre Bewältigungsmechanismen sind noch unentwickelter. Sie neigen zudem mehr dazu, feindselige Situationen als verstörend zu empfinden, Drohungen Glauben zu schenken und von ungewohnten Umständen emotional beeinträchtigt zu werden. Sie reagieren auch stärker auf Handlungen, die gegen nahe Verwandte gerichtet sind. Was für einen Erwachsenen unbequem ist, kann für ein Kind eine ungebührende Härte darstellen.
67Vgl. UNHCR, Richtlinien zum internationalen Schutz: Asylanträge von Kindern, vom 22. Dezember 2009, S. 10 und 25.
68Die Aufnahmebedingungen für minderjährige Schutzsuchende müssen deshalb an ihr Alter angepasst sein, um sicherzustellen, dass keine Situation von Anspannung und Angst mit besonders traumatisierenden Wirkungen für die Psyche der Kinder entsteht. Anderenfalls wird die Schwere erreicht, die erforderlich ist, um unter das Verbot in Art. 3 EMRK bzw. Art. 4 GR-Charta zu fallen. Bei Minderjährigen wiegt ihre besonders verwundbare Lage schwerer als die Tatsache, dass sie Ausländer mit unrechtmäßigem Aufenthalt sind.
69Vgl. EGMR, Urteil vom 4.November 2014 – 29217/12 (Tarakhel/Schweiz) –, juris, Rn. 99, 119.
70Nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts hat das Bundesamt jedenfalls bei der Abschiebung von Familien mit neugeborenen und Kleinstkindern bis zum Alter von drei Jahren nach Italien angesichts der damaligen Auskunftslage sowie der insofern berührten hochrangigen Grundrechte aus Art. 2 Abs. 2 Satz 1 und Art. 6 Abs. 1 des Grundgesetzes (GG) sowie des bei der Durchführung von Überstellungen nach dem Dublin-System vorrangig zu beachtenden Grundsatzes der Einheit der Familie und der Gewährleistung des Kindeswohls in Abstimmung mit den Behörden des Zielstaats sicherzustellen, dass die Familie bei der Übergabe an diesen eine gesicherte Unterkunft erhält, um erhebliche konkrete Gesundheitsgefahren für die in besonderem Maße auf ihre Eltern angewiesenen Kinder auszuschließen.
71an>"absatzLinks">BVerfG, Beschluss vom 17. September 2014 – 2 BvR 939/14 -, juris, Rn. 16.
72Nach der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte muss eine konkrete und individuelle Zusicherung der italienischen Behörden eingeholt werden, dass die Familie in Italien eine gesicherte Unterkunft für alle Familienmitglieder erhalten werde.
73EGMR, Urteil vom 4. November 2014, (Tarakhel/Schweiz) Nr. 29217/12, juris, Rn. 122.
74Das Vorliegen einer solchen individuellen Garantieerklärung der italienischen Behörden ist für die erwachsene Klägerin zu 1. sowie die erst sieben Jahre alte Klägerin zu 2. derzeit nicht vorgetragen und ergibt sich auch nicht aus dem übersandten Verwaltungsvorgang des Bundesamtes.
75Eine individuelle Zusicherung ist hinsichtlich der Klägerin zu 2. auch nicht deswegen entbehrlich, weil diese bereits über drei Jahre alt ist und damit nicht mehr zu der maßgeblichen Gruppe der vom Bundesverfassungsgericht in seiner Entscheidung benannten „neugeborenen und Kleinstkinder bis zum Alter von drei Jahren“ zählt. Denn das Bundesverfassungsgericht geht selbst nicht davon aus, dass es sich bei der Benennung von Kleinstkindern bis zum Alter von drei Jahren um eine starre Altersgrenze handelt, deren Überschreiten unmittelbar dazu führt, dass eine individuelle Garantie der italienischen Behörden nicht mehr erforderlich sei. Vielmehr verhält sich das Bundesverfassungsgericht nicht zu der Frage, welche Anforderungen an die Abschiebung von Familien mit minderjährigen Kindern im Alter von über drei Jahren nach Italien zu stellen sind.
76Vgl. BVerfG, Beschluss vom 17. September 2014 – 2 BvR 939/14 -, juris, Rn. 16, nach dem „jedenfalls bei der Abschiebung von Familien mit neugeborenen und Kleinstkindern bis zum Alter von drei Jahren in Abstimmung mit den Behörden des Zielstaats sicherzustellen sei, dass (…)“.
77Auch der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte bindet das Erfordernis einer individuellen Garantie nicht an ein bestimmtes Alter der minderjährigen Kinder. Zwar lag der Entscheidung des Gerichts die Situation einer afghanischen Familie, deren jüngstes Kind im Zeitpunkt der Entscheidung zwei Jahre alt war, zugrunde. Aus den Entscheidungsgründen geht jedoch nicht hervor, dass lediglich Kleinstkinder bis zum Alter von drei Jahren eines besonderen Schutzes bei der Abschiebung nach Italien bedürfen. Vielmehr lässt auch der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte diese Frage ausdrücklich offen und legt den Schluss nahe, dass es insbesondere auf die spezifischen Bedürfnisse des jeweiligen Minderjährigen ankomme und nicht auf das tatsächliche Alter.
78Vgl. EGMR, a.a.O., juris Rn. 119: „This requirement of ‘special protection’ of asylum seekers is particularly important when the persons concerned are children, in view of their specific needs and their extreme vulnerability.” und Rn. 122: It follows that, were the applicants to be returned to Italy without the Swiss authorities having first obtained individual guarantees from the Italian authorities that the applicants would be taken charge of in a manner adapted to the age of the children (…)“.
79In der deutschen Rechtsprechung etwa divergieren die Auffassungen zur besonderen Schutzbedürftigkeit von Flüchtlingsfamilien und -kindern stark und es findet sich keine einheitliche Rechtsprechung.
80Vgl. zum Meinungsstand auch Schwarz, Zur Frage des Abschiebungsschutzes für Flüchtlingsfamilien und –kinder, ZKJ 2017, 303-306.
echts">81Die Kammer hat insoweit bereits entschieden, dass ein vierjähriges Kind dem Kreis der besonders schutzbedürftigen Personen zuzurechnen ist.
82Vgl. VG Gelsenkirchen, Beschluss vom 14. Februar 2018 – 1a L 3502/17.A -, nicht veröffentlicht.
83Das Erfordernis einer besonderen Zusicherung ist nach den vorstehenden Erwägungen darüber hinaus auch bei einem Kind, welches noch nicht 14 Jahre alt ist und sich damit am Ende der späten Kindheitsphase befindet, die vom 11. Lebensjahr bis zum 14. Lebensjahr reicht,
84vgl. https://de.wikipedia.org/wiki/Kindheit (zuletzt aufgerufen am 26. Februar 2020),
85grundsätzlich zu bejahen. Hierfür sprechen folgende Überlegungen:
86Auch in der Phase der späten Kindheit weist dieser Personenkreis noch besondere schutzwürdige Bedürfnisse auf und wird durch eine mangelnde Selbständigkeit gekennzeichnet. Das Bundesverfassungsgericht wie auch der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte haben in den vorstehenden Entscheidungen von Familien mit Kindern bzw. „children“ gesprochen. Demzufolge können zur maßgeblichen Gruppe maximal Familien mit Kindern, d. h. Minderjährigen bis zur Vollendung des 14. Lebensjahres zählen. Entwicklungspsychologisch differenziert man zwischen der frühen (4-6 Jahre), mittleren (7-10 Jahre) und der späten Kindheit (11-14 Jahre) aufgrund der biologischen, psychischen und sozialen Entwicklung. Die Phase der Jugend fängt mit 14 Jahren an. Die Grenzen der jeweiligen Entwicklung im konkreten Einzelfall variieren jedoch. Die Rechtsordnungen der Mitgliedsstaaten sehen für die Phase der Kindheit besondere Vorschriften vor. Der deutsche Gesetzgeber etwa regelt, dass die Schuldfähigkeit erst mit 14 Jahren beginnt (vgl. § 19 Strafgesetzbuch). Auch definiert § 1 Abs. 1 Nr. 1 Jugendschutzgesetz, dass Kinder Personen sind, die noch nicht 14 Jahre alt sind. Erst Personen zwischen 14 und 18 Jahren sind Jugendliche (§ 1 Abs. 1 Nr. 2 JugendschG). An die jeweiligen vorgenannten Begriffsbestimmungen werden dann auch unterschiedliche altersabhängige Schutzbestimmungen geknüpft. Auch das deutsche Jugendarbeitsschutzgesetz verbietet die Beschäftigung von Kindern in § 5 Jugendarbeitsschutzgesetz, wobei es i. V. m. § 2 Abs. 1 JArbSchG hierunter sogar Minderjährige bis 15 Jahre fasst. Bezogen auf das Schulrecht finden sich in den einzelnen Bundesländern verschiedene Ausgestaltungen. Die Grundschulzeit endet nicht in allen Bundesländern nach der vierten Klasse, sondern reicht teilweise auch bis zur sechsten Klasse. Soweit ein Schulwechsel zur weiterführenden Schule nach der vierten Klasse erfolgt, bilden die fünfte und sechste Klasse sog. Orientierungsphasen. Es wird mithin zumindest in mehreren Bereichen der deutschen Bundes- und Landesgesetzgebung deutlich, dass der hiesige Gesetzgeber eine mangelnde Selbständigkeit und demzufolge eine besondere Schutzbedürftigkeit auch über das Neugeborenen- und Kleinstkindalter hinaus annimmt und dementsprechend normativ begegnet. Auch in anderen Ländern wie etwa England und Frankreich wird zwischen der Kindheit und der Phase der Jugend, die dort zeitlich leicht versetzt ist (in England beginnt die Phase der Jugendlichkeit bzw. das Teenageralter bereits mit dreizehn Jahren „thirteen years“), unterschieden.
87Angesichts dessen gebietet es sich im vorliegenden Fall, die erst sieben Jahre alte Klägerin zu 2. in den Schutzbereich der besonders gefährdeten Personen zu fassen.
88Auf der Grundlage der dem Gericht verfügbaren aktuellen Erkenntnisse ist auch vor dem Hintergrund des Grundsatzes des gegenseitigen Vertrauens überwiegend und damit beachtlich wahrscheinlich,
89zu diesem Maßstab vgl. BVerwG, Urteil vom 19. März 2014 - 10 B 6.14 -, juris Rn. 6, und Urteil vom 20. Februar 2013 - 10 C 23.12 -, juris, Rn. 32,
90dass die italienischen Behörden ihrer Verpflichtung zur angemessenen Unterbringung und Versorgung der Klägerinnen zur Abwendung erheblicher konkreter Gesundheitsgefahren insbesondere für die Klägerin zu 2. nicht nachkommen werden. Eine individuelle Garantieerklärung liegt insoweit nicht vor.
91Die Lebenssituation anerkannt Schutzberechtigter stellt sich nach der gegenwärtigen Erkenntnislage folgendermaßen dar:
92Anerkannt Schutzberechtigte sind in Italien den dort lebenden Einheimischen gleichgestellt. Sie können mit ihrer Aufenthaltsbewilligung ein- und ausreisen und sich in Italien ohne Einschränkungen bewegen. Das italienische System beruht auf der Annahme, dass Inhaber eines internationalen Schutzstatus für ihren Lebensunterhalt selbst sorgen müssen, da sie als solche auch berechtigt sind zu arbeiten.
93Vgl. SFH, Aufnahmebedingungen in Italien, August 2016, Seite 33, 35; SFH, Reception conditions in Italy, Januar 2020, S. 45 f.
94Soweit es danach im Bereich der Versorgung mit einer Unterkunft und mit den Leistungen zum Lebensunterhalt - wie im Folgenden dargestellt wird - zu zum Teil erheblichen Problemen kommen kann, ergibt sich daraus in den Aufnahmebedingungen für anerkannte Schutzberechtigte, soweit sind nicht vulnerabel sind, (noch) keine Verletzung von Art. 4 GR-Charta bzw. Art. 3 EMRK im Sinne der vom Europäischen Gerichtshof angelegten Maßstäbe.
95Bezüglich der Unterbringungssituation ist für anerkannt Schutzberechtigte in Italien folgendes feststellbar: Anerkannte Flüchtlinge haben im Rahmen der bestehenden Kapazitäten und sofern die maximale Aufenthaltsdauer von sechs Monaten, die unter bestimmten Voraussetzungen (bei Gesundheitsproblemen oder im Hinblick auf bestimmte Integrationsziele) um weitere sechs Monate verlängert werden kann, noch nicht ausgeschöpft ist, Zugang zum Zweitaufnahmesystem SIPROIMI (früher: SPRAR), das zur Zeit über 31.284 Plätze verfügt.
96Vgl. https://www.sprar.it/i-numeri-dello-sprar (letzter Aufruf am 26. Februar 2020; SFH, Anfragebeantwortung zu Rückkehrbedingungen für anerkannt Schutzberechtigte in Italien an das VG Berlin vom 16. Dezember 2019; aida country report, Update 2018, von April 2019, S. 146.
97Bei den SIPROIMI handelt es sich um dezentrale, auf lokaler Ebene organisierte (Zweit-)Unterbringungssysteme, die aus einem Netzwerk von Unterkünften und überwiegend aus Wohnungen bestehen, auf einer Zusammenarbeit zwischen dem Innenministerium, den Gemeinden und verschiedenen NGOs basieren und die Teilhabe am kommunalen Leben fördern sollen. Die Unterbringung wird von Unterstützungs- und Integrationsmaßnahmen (Rechtsberatung, Sprachkurse, psychosoziale Unterstützung, Jobtrainings, Praktika, Unterstützung bei der Suche einer Stelle auf dem Arbeitsmarkt) begleitet.
98Vgl. SFH, Aufnahmebedingungen in Italien, August 2016, Seiten 35 f. und 53; BAMF, Länderinformation: Italien, Mai 2017, Seiten 1 und 2.
99Diese Einrichtungen, bei denen es sich um die umbenannten früheren SPRAR-Einrichtungen handelt, stehen infolge des sog. Salvini-Dekrets seit Herbst 2018 nur noch anerkannten Schutzberechtigten sowie unbegleiteten minderjährigen Asylsuchenden offen,
100vgl. borderline europe (b-e), Italien: Salvinis Dekret der Asylrechtsverschärfungen, 25. September 2018; Danish Refugee council (DRC)/SFH, Mutual trust is still not enough - The Situation of Persons with Special Reception Needs Transferred to Italy under the Dublin III Regulation, 12. Dezember 2018, S. 12 f.; BFA, Länderinformationsblatt Italien, Stand: 26. Februar 2019, S. 9; SFH; Aktuelle Situation für Asylsuchende in Italien, 8. Mai 2019, S. 5,
101wodurch die Zahlen von Berechtigten sinken. Auch mit Blick auf die sinkenden Flüchtlingszahlen drängt sich nicht auf, dass die SIPROIMI-Einrichtungen generell überlaufen sind.
102Vgl. hierzu VG Berlin, Beschluss vom 14. Dezember 2018 – VG 3 L 886.18 A –, juris, Rn. 14 f.; VGH Baden-Württemberg, Urteil vom 29. Juli 2019 – A 4 S 749/19 –, juris, Rn. 115; SFH, Reception conditions in Italy, Januar 2020, S. 20.
103Das Recht auf Unterkunft wird zum derzeitigen Zeitpunkt in Italien jedoch erheblich dadurch eingeschränkt, dass Personen, die bereits einmal in einer staatlichen Unterkunft für Asylsuchende oder anerkannte Schutzberechtigte untergebracht waren oder einen ihnen dort zugewiesenen Unterkunftsplatz nicht angenommen haben, regelmäßig keinen Anspruch darauf haben, dort erneut aufgenommen zu werden. Die einschlägige gesetzliche Regelung, Art. 23 Abs. 3 des Decreto Legislativo 18 agosto 2015, n. 142 (Dekret 142/2015), sieht vor, dass der Präfekt der Region, in welcher die Unterbringungseinrichtung liegt, im Einzelfall über den Entzug des Rechts auf Unterbringung entscheidet, wenn die untergebrachte Person die Einrichtung ohne Benachrichtigung der Präfektur verlassen hat oder dort, obwohl sie einer solchen Einrichtung zugewiesen wurde, gar nicht erst einzieht. Diese Regelung findet sowohl auf Erst- als auch auf Zweitaufnahmeeinrichtungen und damit auch auf die SIPROIMI-Einrichtungen Anwendung.
104Vgl. aida, Country Report: Italy, Update 2018, von April 2019, S. 86 f.; SFH, Reception conditions in Italy, Januar 2020, S. 51.
105Ist eine in einer solchen Einrichtung untergebrachte Person für mehr als 72 Stunden unentschuldigt abwesend oder bezieht sie eine ihr zugewiesene Unterkunft gar nicht erst, wird ihr Name durch den Betreiber der Einrichtung der zuständigen Präfektur gemeldet. Daraufhin entzieht der Präfekt der betreffenden Person das Recht auf Unterbringung, indem er ihren Namen, ohne ihr dies mitzuteilen, auf eine bei der Präfektur geführte Liste setzt. Mit dem Entzug der Unterkunft verliert die betreffende Person auch den Zugang zu allen weiteren in der Unterkunft erbrachten staatlichen Leistungen. Die Wiederaufnahme der betreffenden Person in die Unterkunft kann unter Berufung auf höhere Gewalt, unvorhersehbare Umstände oder schwerwiegende persönliche Gründe beantragt und von der Präfektur verfügt werden. Jedoch haben sowohl ein solcher Antrag als auch ein sich ggf. anschließendes Gerichtsverfahren nur äußerst geringe Erfolgsaussichten; zudem dauern sowohl das behördliche als auch im Falle einer abschlägigen Entscheidung des Präfekten das gerichtliche Verfahren in Abhängigkeit von der jeweiligen Region mehrere Monate. In dieser Zeit hat die betreffende Person kein Recht auf (staatliche) Unterbringung.
106Vgl. aida, Country Report: Italy, Update 2018, von April 2019, S. 86 f.; SFH, Aktuelle Situation für Asylsuchende in Italien, 8. Mai 2019, S. 14; b-e, Stellungnahme zu der derzeitigen Situation von Geflüchteten in Italien mit besonderem Blick auf die Unterbringung, 3. Mai 2019, S. 5; SFH, Reception conditions in Italy, Januar 2020, S. 41; SFH, Anfragebeantwortung an das VG Berlin vom 16. Dezember 2019, S. 3.
107Neben den SIPROIMI-Einrichtungen existieren aber auch gemeindliche Sozialwohnungen, die anerkannten Schutzberechtigten unter denselben Bedingungen offenstehen, wie sie für italienische Staatsbürger gelten. Die Stellung eines Antrags auf Zuteilung einer solchen Wohnung setzt in einigen Regionen einen Mindestaufenthalt in Italien voraus.
108Vgl. aida, Country Report: Italy, Update 2018, von April 2019, S. 146, SFH, Reception conditions in Italy, Januar 2020, S. 60 f.
109Darüber hinaus existieren von den Gemeinden, insbesondere in Großstädten wie Rom oder Mailand, angebotene Unterkünfte und Notschlafplätze sowie Hilfen karitativer Einrichtungen.
110SFH, Reception conditions in Italy, Januar 2020, S. 65 ff.
111In diesem Zusammenhang bietet beispielsweise die Gemeinde Rom eine telefonische Notfallhotline an, die im Rahmen ihrer Möglichkeiten Notfallplätze an bedürftige Personen vermittelt. Auf der Homepage werden sieben Zentren für erwachsene Obdachlose und fünf Zentren für Mütter mit Kindern aufgelistet. Diese Zentren sind ausschließlich Schlafunterkünfte, die nur in der Nacht bis zum nächsten Morgen zur Verfügung stehen und für die eine Reservierung nicht möglich ist.
112SFH, Reception conditions in Italy, Januar 2020, S. 66.
113Ebenso existieren auch in Mailand besondere Notunterkünfte. Während der Winterzeit werden die Plätze in Notunterkünften hier erhöht und diese sollen für alle Bed252;rftigen verfügbar sein. Während der restlichen Zeit des Jahres wird die Kapazität reduziert. Das CASC im Hauptbahnhof ist bei der Suche nach Notunterkünften behilflich. Es befindet sich im Hauptbahnhof Mailands und ist jeden Tag geöffnet.
114SFH, Reception conditions in Italy, Januar 2020, S. 67.
115Valide Zahlen zum tatsächlichen Vorhandensein von Notunterkünften sind kaum erhältlich. Nach Auskunft von aida,
116vgl. aida, Country Report: Italy, Update 2018, von April 2019, S. 95,
117ergibt sich, dass im April 2017 jedenfalls über 500 Familien in Italien bereit waren, Flüchtlinge unterzubringen. Darüber hinaus gab es karitative und kommunale Projekte mit etwa 500 weiteren Plätzen.
118Bereits aus den vorgenannten Umständen ergibt sich für die Gruppe der vulnerablen anerkannt Schutzberechtigten ein Verstoß gegen Art. 4 GR-Charta und Art. 3 EMRK bezüglich der Aufnahmebedingungen für rücküberstellte anerkannte Schutzberechtigte.
119Die Klägerin zu 1. hat im Rahmen ihrer Anhörung glaubhaft vorgetragen, in Italien bereits im staatlichen Unterkunftssystem untergebracht gewesen zu sein. Aus diesem war sie sodann jedoch ausgeschlossen worden und musste zuletzt in Notunterkünften unterkommen. Mit Blick auf die vorstehenden Ausführungen ist beachtlich wahrscheinlich, dass die Kl228;gerinnen nach einer Rückkehr nach Italien tatsächlich von jeglicher staatlichen Versorgung ausgeschlossen sein werden, da sie ihr Recht auf Unterbringung in einer staatlichen Einrichtung bereits verloren haben. Damit kann die Situation eintreten, dass sie für eine nicht absehbare (Übergangs-)Zeit, beispielsweise bis sie ihr Anrecht auf Zugang zur SIPROIMI-Einrichtung wiedererlangt haben oder aber sie sich anderweitig eine Unterkunft besorgt haben, auf wohltätige Hilfe der Einrichtungen von Kirche, der Kommunen oder NGOs angewiesen ist, sollten sie kein erspartes Geld für eine Unterkunft mehr bei sich haben. Es kann unterstellt werden, dass diese Einrichtungen „keinerlei Integrationshilfen“ bzw. „Lebensqualität und -kontinuität“ leisten, sondern nur eine Grundversorgung, was im vorliegenden Fall aufgrund der Vulnerabilität der Klägerinnen, aus den vorstehenden Erwägungen im Unterschied zu nicht vulnerablen anerkannt Schutzberechtigten auch für eine Übergangszeit nicht ausreichend ist. Insoweit ist festzustellen, dass auch erhebliche zeitliche Verzögerungen, die zu einer vorübergehenden Unterbringung von Familien mit minderjährigen Kindern in nicht kind- und familiengerechten Unterkünften oder gar zu ihrer vorübergehenden Obdachlosigkeit führen würden, ausgeschlossen sein müssen.
120Vgl. BVerfG, Beschluss vom 10. Oktober 2019 - 2 BvR 1380/19 -, juris, Rn. 23, 25; VG Minden, Urteil vom 20. September 2019 - 10 K 10479/17.A -, juris, Rn. 51, VGH Baden-Württemberg, Urteil vom 29. Juli 2019 - A 4 S 749/19 -, juris, Rn. 40, 118 und OVG Niedersachsen, Beschluss vom 19. Dezember 2019 - 10 LA 64/19 -, juris, Rn. 24.
121Darüber hinaus ist auch nicht mit Art. 4 GR-Charta und Art. 3 EMRK vereinbar, dass die Gewährleistung der elementarsten Bedürfnisse von anerkannt Schutzberechtigten mit minderjährigen Kindern durch den italienischen Staat nach einem Ablauf von nur sechs oder maximal bis zu 18 Monaten endet. Denn Art. 4 GR-Charta verlangt nach der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofes dagegen, dass auch nach Abschluss des Asylverfahrens die als schutzberechtigt anerkannte Person zu keinem Zeitpunkt dem Risiko einer unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung ausgesetzt wird.
122Vgl. EuGH, Urteil vom 19. März 2019 – C-163/17 –, juris, Rn. 88.
123Dies ist in Italien für als schutzberechtigt anerkannte Familien mit minderjährigen Kindern allerdings bereits aufgrund der aktuellen zeitlichen Befristung ihrer Versorgung auf nur sechs Monate bzw. maximal eineinhalb Jahre nicht hinreichend sichergestellt. Es bedarf daher einer individuellen Zusicherung, die den Zeitraum abdeckt, in dem die besondere Schutzbedürftigkeit der Schutzberechtigten besteht bzw. diese zwingend auf staatliche Hilfe angewiesen sind.
124Vgl. OVG Niedersachsen, Beschluss vom 19. Dezember 2019 - 10 LA 64/19 -, juris, Rn. 22 f.; a.A. VG Cottbus, Urteil vom 14.11.2019 - 5 K 949/19.A -, juris Rn. 33).
125Dass insoweit für Familien mit Kindern etwas anderes bzw. diese Befristung nicht gelten würde, ist den der Kammer vorliegenden Erkenntnismitteln nicht zu entnehmen.
126Vgl. aida, Country Report: Italy, Update 2018, von April 2019, S. 146.
127Vielmehr scheint die zeitliche Begrenzung selbst auch für unbegleitete Minderjährige zu gelten, denen internationaler Schutz zuerkannt wurde.
128Vgl. aida, Country Report: Italy, Update 2018, von April 2019, S. 109.
129Unter Berücksichtigung der besonderen Bedürfnisse, insbesondere der Klägerin zu 2. als Minderjährige kann auch bei Beachtung der Vorgaben des EuGH zur hohen Schwelle der Erheblichkeit für die Annahme eines Verstoßes gegen Art. 4 GR-Charta und Art. 3 EMRK angenommen werden, dass die die Klägerinnen zu erwartende Unterkunftssituation für diese aufgrund der ihnen möglicherweise auch nur zeitweise drohenden Obdachlosigkeit zu einer Situation der Verelendung führen wird.
130Es ist zudem unter Berücksichtigung der besonderen Schutzbedürftigkeit der Klägerinnen zu 1. und 2. nicht beachtlich wahrscheinlich, dass die geschilderten Defizite in der Unterbringungssituation für die Situation der Klägerinnen zu 1. und 2. als vulnerable Personen durch kirchliche Organisationen oder wohltätige Nichtregierungsorganisationen - im Unterschied zur Situation der nichtvulnerablen Personen - hinreichend ausgeglichen werden können. Die bereitgestellten Notunterkünfte sind bereits nicht kindgerecht. Der Mutter und ihrem minderjährigen Kind ist es nicht zumutbar, jeden Tag in der Ungewissheit zu leben, ob sie einen Platz in einer Notunterkunft für die Nacht erhalten werden, für welche Wartelisten nicht existieren und die nur in der Nacht aufgesucht werden können. Darüber hinaus genügen die Notunterkünfte auch nicht den vorstehend beschriebenen Anforderungen der Rechtsprechung an die Unterbringungserfordernisse für vulnerable Personen, insbesondere minderjährigen Kindern. Gerade die minderjährige Klägerin zu 2. benötigt zur Abwendung psychischer Schädigungen eine hinreichend stabile und verlässliche Unterkunft, in welcher ihr gewisse Strukturen gegeben werden können, die für die Heranreifung und gesunde Entwicklung erforderlich sind.
131Dies gilt auch unter Berücksichtigung des Umstandes, dass bezüglich der nach den Vorgaben des Europäischen Gerichtshofs zu stellenden Kernfrage des länger andauernden Fehlens von „Bett, Brot, Seife“ auch die Möglichkeit der Arbeitsaufnahme in den Blick genommen werden muss, die in Italien derzeit jedem Flüchtling 60 Tage nach Registrierung erlaubt ist.
132Vgl. VGH Baden-Württemberg, Urteil vom 29. Juli 2019– A 4 S 749/19 –, juris, Rn. 118 ff.
133Die Vorgabe des Europäischen Gerichtshofs, dass gesunde und arbeitsfähige bzw. nichtvulnerable Flüchtlinge sowohl während des Asylverfahrens als auch vor allem nach erfolgter Zuerkennung internationalen Schutzes arbeiten, deckt sich mit den Erwartungen des italienischen Asylsystems. Bei Familien mit Kindern kann sich eine Gefährdung der durch Art. 4 GR-Charta geschützten Rechte aber auch daraus ergeben, dass der bzw. die Betroffene(n) gerade nicht zugleich die eigene Existenz und die seiner bzw. ihrer Familie sichern können würde, da ihm eine Arbeitsaufnahme nicht möglich ist.
134Vgl. BVerwG, Urteil vom 4. Juli 2019 – 1 C 45.18 –, juris, Rn. 25 bis 28.
135Mit Blick darauf kann vorliegend nicht erwartet werden, dass die Klägerin zu 1. als alleinerziehende Mutter der erst sieben Jahre alten Klägerin zu 2. in Italien eine Arbeitsstelle finden wird, die es ihr ermöglichen wird, ihren Lebensstandard selbst sicherzustellen. Hierbei ist auch zu berücksichtigen, dass die Klägerin zu 2. derzeit noch zu jung ist, um unbeaufsichtigt zu bleiben und derartiges darüber hinaus auch nur in einer Situation möglich erscheinen würde, in der die Klägerin zu 2. sich in dieser Zeit in einem geschützten Raum aufhalten könnte, was angesichts der zunächst mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit drohenden Obdachlosigkeit nicht der Fall ist.
136Darüber hinaus lässt sich die juristisch ermöglichte Arbeitsaufnahme in der Praxis nicht immer einfach realisieren.
137Vgl. SFH, Reception conditions in Italy, Januar 2020, S. 62 f.
138Die hohe Arbeitslosenquote Italiens, die 2018 offiziell mit 10,8% angegeben wurde, bei jungen Menschen unter 30 Jahren aber bei rund 35% liegt, dürfte vor allem im Süden des Landes noch höher liegen. Neben insbesondere Sprachproblemen schmälert auch sie die Chance auf legale Anstellung. Eine solche dürfte zwar grundsätzlich für nichtvulnerable Personen noch zumutbar zu erlangen sein. Dies gilt jedoch nicht für die Gruppe der Vulnerablen. Insoweit ist nämlich nicht ersichtlich, dass sich Familien mit minderjährigen Kindern - anders als arbeitsfähige alleinstehende Personen bzw. Paare ohne Kinder,
139vgl. hierzu OVG Niedersachsen; Urteil vom 6. April 2018 - 10 LB 109/18 -, juris, und Beschluss vom 21. Dezember 2018 - 10 LB 201/18 -, juris, VGH Baden-Württemberg, Urteil vom 29. Juli 2019 - A 4 S 749/19 -, juris, Rn. 36 f., 41 ff., 117 ff.,
140selbst oder auch mit Hilfe kommunaler und karitativer Einrichtungen sowie Nichtregierungsorganisationen aus dieser Situation von (drohender) Obdachlosigkeit befreien könnten und sich damit nicht unabhängig von ihrem Willen und ihren persönlichen Entscheidungen in einer Situation extremer materieller Not befänden.
141Angesichts der - bereits oben ausgeführten - besonderen Schutzbedürftigkeit von Kindern, steht der vorstehenden Bewertung der Situation vulnerabler anerkannt Schutzberechtigter nicht entgegen, dass der italienische Staat auf die Situation von schutzsuchenden Familien mit minderjährigen Kindern nicht mit Gleichgültigkeit reagiert, sondern diese nach einem neuerlichen Rundbrief vom 8. Januar 2019,
142vgl. BAMF; Anfragebeantwortung an das VG Magdeburg vom 5. Februar 2019 unter Ü;bersendung des Schreibens der italienischen Dublin-Einheit Nr.1/2019.,
weiter im Blick hat. Denn bei der Rücküberstellung von minderjährigen Kindern muss grunds8;tzlich eine ihren besonderen Mindestbedürfnissen gerecht werdende Unterbringung tatsächlich sichergestellt sein und nicht nur künftig in Aussicht stehen.
144Dass anerkannte Flüchtlinge, sofern sie weder in einer staatlichen noch in einer kommunalen oder karitativen Einrichtung einen Unterkunftsplatz finden, genauso gestellt sind wie italienische Staatsangehörige in vergleichbarer Situation, führt im vorliegenden Fall der besonderen Schutzbedürftigkeit vulnerabler Personen aus den dargestellten Gründen ebenfalls nicht dazu, dass die Situation der drohenden Obdachlosigkeit hingenommen werden müsse und sie nicht zu einem Verstoß gegen Art. 4 GR-Charta und Art. 3 EMRK führt.
145Gleiches gilt mit Blick darauf, dass der Verstoß gegen Art. 4 GR-Charta nach der EuGH-Rechtsprechung unabhängig vom Willen des Betroffenen drohen muss. Soweit der Verlust des Unterkunftsplatzes in einer SPRAR- bzw. nunmehr SIPROIMI-Einrichtung etwa auf einem ungenehmigten Verlassen der Einrichtung beruht, vermag dies bei Minderjährigen aufgrund ihrer besonders verwundbaren Lage eine solche Sanktionierung nicht zu rechtfertigen, insbesondere wenn dies zur Folge haben würde, dass sie dann mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit der Gefahr einer unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung ausgesetzt w28;ren.
146Vgl. auch EuGH, Urteil vom 12. November 2019 - C-233/18 -, juris, Rn. 46 f., 56 zu Art. 20 Abs. 4 und 5 der Richtlinie 2013/33/EU.
147Diese Wahrscheinlichkeit ist hier gegeben. Denn die Möglichkeit der Erlangung privaten Wohnraums in Form einer Sozialwohnung knüpft jedenfalls in einigen Regionen, wie dargestellt an einen Mindestaufenthalt in Italien bzw. der jeweiligen Region an.
148Vgl. aida, Country Report: Italy, Update 2018, von April 2019, S. 146.
149Diese behördliche Hürde ist vulnerablen Personen, mangels Vorhandenseins angemessener anderer Unterkünfte – im Unterschied zu nicht vulnerablen Personen nicht zumutbar.
150Wird ferner berücksichtigt, dass sowohl Ärzte ohne Grenzen als auch der UNHCR sowie die Internationale Organisation für Migration und weitere Nichtregierungs- bzw. humanitäre Organisationen im Jahr 2018 von tausenden Schutzsuchenden und Schutzberechtigten ohne Unterbringungsplatz ausgingen,
151Vgl. OVG Niedersachsen, Beschluss vom 19. Dezember 2019 - 10 LA 64/19 -, juris, Rn. 25 unter Verweis auf Republik Österreich, Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl, Länderinformationsblatt der Staatendokumentation, Italien, Stand: 26. Februar 2019, S. 18 und 25,
152ist eine der besonderen Schutzbedürftigkeit von Familien mit Kindern Rechnung tragende hinreichende Versorgung mit Wohnraum nicht gewährleistet, auch wenn derzeit im SIPROIMI-System 31.284 Plätze zur Verfügung stehen.
153Eine individuelle Zusicherung der Gewährleistung der Rechte von Familien mit minderjährigen Kindern aus Art. 4 GR-Charta ist auch nicht aufgrund der Rundschreiben der italienischen Behörden („circular letters“) entbehrlich.
154Vgl. OVG Niedersachsen, Beschluss vom 19. Dezember 2019 - 10 LA 64/19 -, juris, Rn. 26; VG Gelsenkirchen, Beschluss vom 15. Juli 2019 – 1a L 754/19.A -, nicht veröffentlicht; VG Berlin, Gerichtsbescheid vom 3. Juni 2019 - 34 K 1487.17 A -, juris, Rn. 32 ff.; VG Lüneburg, Beschluss vom 3. April 2019 - 8 B 65/19 -, juris, Rn. 52; a.A. Bayerischer VGH, Beschluss vom 9. September 2019 - 10 ZB 19.50024 -, juris, Rn. 6.
155Zwar haben die italienischen Behörden mit mehreren Rundschreiben seit dem Jahr 2015, sog. circular letters, ihren europäischen Dublin-Partnerstaaten versichert, dass sie Familien mit minderjährigen Kindern nicht trennen werden und sie in Einrichtungen unterbringen werden, die an das Alter der Kinder angepasst sind,
156abrufbar unter https://www.asylumlawdatabase.eu/en/content/circular-letter-italian-ministry-interior-all-dublin-units, zuletzt abgerufen am 26. Februar 2020.
157Nach den vorstehenden Ausführungen zur aktuellen Situation anerkannt Schutzberechtigter in Italien gibt es jedoch belastbare Anhaltspunkte für die Annahme, dass die Maßnahmen der italienischen Behörden der von ihnen - formal anerkannten - besonderen Verpflichtung hinsichtlich der Unterbringung von Familien mit kleinen Kindern tatsächlich nicht gerecht werden.
158Zwar haben die italienischen Behörden als Reaktion auf die Entscheidung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte vom 4. November 2014,
159vgl. OVG Nordrhein-Westfalen, Beschluss vom 7. Januar 2019 - 13 A 888/18.A -, juris, Rn. 14,
160am 8. Juni 2015 eine allgemeine Garantieerklärung für die Berücksichtigung der Belange von Familien mit minderjährigen Kindern abgegeben, für die danach 161 Plätze in SPRAR Einrichtungen vorgesehen sind, der mitunter entscheidungserhebliche Bedeutung zukommen kann.
161Vgl. OVG Nordrhein-Westfalen, Beschluss vom 7. Januar 2019 - 13 A 888/18.A -, juris.
162Ein nachfolgendes Schreiben des italienischen Innenministeriums vom 15. Februar 2016 weist 85, ein weiteres vom 12. Oktober 2016 noch 58 für Familien vorgesehene Plätze in SPRAR-Einrichtungen aus.
163Beide abrufbar unter https://www.asylumlawdatabase.eu/en/content/circular-letter-italian-ministry-interior-all-dublin-units, zulezt abgerufen am 26. Februar 2020.
164Mit Schreiben vom 4. Juli 2018 an die Dublin-Einheiten teilte das italienische Innenministerium 79 Pl228;tze mit, die für Familien zur Verfügung stünden, die nach Italien unter Geltung der Dublin III-Verordnung rücküberstellt würden.
165Vgl. Danish Refugee Council, Mutual trust is still not enough, The situation of persons with special reception needs transferred to Italy under the Dublin III Regulation, vom 12.12.2018, S. 4 Fn. 4.
166In dem undatierten Rundschreiben 1.2019,
167vgl. BAMF, Anfragebeantwortung an das VG Magdeburg vom 5. Februar 2019 unter Übersendung des Schreibens der italienischen Dublin-Einheit Nr.1/2019,
168teilt die italienische Dublin-Einheit mit, dass im Anschluss an das italienische Rundschreiben vom 8. Juni 2015 zur Unterbringung von Familien, die gemäß der Dublin-Verordnung zurückgeführt werden, weitere Informationen in Übereinstimmung mit dem neuen italienischen Gesetz Nr. 132/2018, das 2018 in Kraft getreten sei, übermittelt würden. Weiter heißt es dort: „Im Hinblick auf die Aufnahme von Asylbewerbern (einschließlich Personen, die dem Dublin-Verfahren unterliegen) und Flüchtlingen werden mit der neuen Verordnung die Bestimmungen hinsichtlich des SPRAR-Systems, das in System für den Schutz von Personen mit internationalem Schutzstatus und unbegleiteten ausländischen Minderjährigen (SIPROIMI) umbenannt wurde, dahingehend geändert, dass die Aufnahme in den Einrichtungen ausschließlich folgenden Personen vorbehalten wird: 1. Personen, die internationalen Schutz genießen (subsidiärer Schutz und Flüchtlingsstatus), 2. unbegleiteten ausländischen Minderjährigen, 3. Inhaber “neuer“ Aufenthaltstitel humanitärer Art. Folglich werden alle Dublin-Rückkehrer, die dem Dublin-Verfahren unterliegen, in anderen Zentren untergebracht, die im Gesetzesdekret Nr. 142/2015 genannt sind. Unter Berücksichtigung der Bemühungen der italienischen Regierung, die Migrantenströme deutlich zu verringern, sind diese Zentren für die Unterbringung aller möglichen Begünstigen geeignet, so dass der Schutz der Grundrechte, insbesondere die Einheit der Familie und der Schutz von Minderjährigen, sichergestellt sind.
169Die vorgenannten Rundschreiben aus den Jahren 2015, 2016 und 2018 beziehen sich bereits nach ihrem Wortlaut allein auf Familien mit Kindern, die unter die Regelungen der Dublin III-Verordnung fallen, damit auf solche, die - anders als im vorliegenden Fall - in Italien (noch) nicht als schutzberechtigt anerkannt worden sind. Dies gilt auch für das (wohl) letzte Rundschreiben „Circular letter n. 01.2019“, in dem pauschal erklärt wird, dass der Schutz der Grundrechte der Antragsteller, die dem Dublin-Verfahren unterliegen und daher in anderen als den SIPROIMI-Einrichtungen untergebracht würden, in den Einrichtungen sichergestellt sei, ebenso wie die Einheit der Familie und der Schutz von Minderjährigen dort gewahrt würden. Diese neuerliche und ohnehin sehr allgemein gehaltene Erklärung bezieht sich somit ebenfalls nicht speziell auf in Italien als schutzberechtigt anerkannte Personen mit minderjährigen Kindern, wie die Klägerinnen, und verleiht ihnen nicht den oben bezeichneten erforderlichen Schutz. Denn anerkannte Schutzberechtigte werden in diesem Schreiben nur insoweit allgemein erwähnt, als die Aufnahme in den SIPROIMI-Einrichtungen diesem Personenkreis (neben unbegleiteten Minderjährigen und Inhabern neuer Aufenthaltstitel) vorbehalten sein soll. Vor allem folgt aus diesen Rundbriefen nicht, dass Familien mit minderjährigen Kindern - entgegen den Darstellungen in den der Kammer vorliegenden Erkenntnismitteln - zur Verhinderung einer Verletzung von Art. 4 GR-Charta auch über einen Zeitraum von sechs bzw. 18 Monaten hinaus untergebracht würden und auch dann dort (erneut) unterkommen würden, wenn sie zuvor die Einrichtung bzw. Italien ohne Genehmigung der zuständigen italienischen Behörden verlassen haben.
170Vgl. OVG Niedersachsen, Beschluss vom 19. Dezember 2019 - 10 LA 64/19 -, juris, Rn. 26 f.
171Soweit das Oberverwaltungsgerichts für das Land Nordrhein-Westfalen in seiner Entscheidung vom 7. Januar 2019,
172vgl. OVG Nordrhein-Westfalen, Beschluss vom 7. Januar 2019 - 13 A 888/18.A -, juris,
173ausgeführt hat, dass der Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte die anhand konkreter Fallbeispiele belegten Einwände gegen die allgemeinen Garantieerklärungen als nicht derart gravierend eingestuft hat, dass angenommen werden könne, diese Garantie sei nicht per se verlässlich, steht dies der vorliegenden Einschätzung der Kammer nicht entgegen. Denn das Oberverwaltungsgerichts für das Land Nordrhein-Westfalen führt weiter aus, dass es auch nach den jüngsten Entscheidungen des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte bei der Beurteilung immer auf sämtliche Umstände des Einzelfalls ankomme, namentlich der aktuellen Aufnahmesituation für Asylbewerber, der die Überstellung begleitenden Kommunikation zwischen den beteiligten Behörden und der Belastbarkeit erteilter Zusicherungen.
174OVG NRW, Beschluss vom 7. Januar 2019 – 13 A 888/18.A. –, juris, Rn. 18, unter Bezugnahme auf EGMR, Entscheidung vom 15. Mai 2018 – Beschwerde Nr. 67981/16 – H. und andere, Ziffer 21, abrufbar unter https://hudoc.echr.coe.int/eng#{"itemid":["001-183841"]}, zuletzt abgerufen am 26. Februar 2020.
175Danach ist die allgemeine Garantieerklärung Italiens nach summarischer Beurteilung und Berücksichtigung der aktuellen Entwicklungen in Italien nach den vorstehenden Ausführungen nicht ausreichend. Die Annahme, Italien werde seinen Verpflichtungen zur Unterbringung von Familien mit kleinen Kindern grundsätzlich gerecht werden, ist aufgrund der aktuellen Erkenntnislage und den neueren Entwicklungen der italienischen Gesetzgebung, insbesondere dem Inkrafttreten des sog. Salvini-Dekrets nicht gerechtfertigt.
176Vgl. VG Düsseldorf, Beschluss vom 3. Juni 2019 – 15 L 1100/19.A –, juris.
177Da das Bundesamt den Asylantrag der Klägerinnen nicht nach § 29 Abs. 1 Nr. 2 AsylG als unzulässig ablehnen durfte, fehlt es auch an einer Grundlage für die ferner verfügte Abschiebungsandrohung nach § 35 AsylG in Ziffer 3 des Bescheides, für die Verneinung von Abschiebungsverboten (§ 31 Abs. 3 AufenthG) in Ziffer 2 des Bescheides und für das Einreise- und Aufenthaltsverbot in Ziffer 4 des Bescheides.
178Die Kostenentscheidung folgt aus § 154 Abs. 1 VwGO. Das Verfahren ist gerichtskostenfrei, § 83 b AsylG.
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- §§ 35, 29 Abs. 1 Nr. 2 AsylG 2x (nicht zugeordnet)
- 1a K 887/18 1x (nicht zugeordnet)
- § 60 Abs. 5 und Abs. 7 Satz 1 AufenthG 1x (nicht zugeordnet)
- 1a L 3502/17 1x (nicht zugeordnet)
- 10 LA 64/19 6x (nicht zugeordnet)
- 10 K 10479/17 1x (nicht zugeordnet)
- 4 S 749/19 7x (nicht zugeordnet)
- 1a L 754/19 1x (nicht zugeordnet)
- § 29 Abs. 2 Nr. 2 AsylG 1x (nicht zugeordnet)
- 1a L 316/18 3x (nicht zugeordnet)
- VwGO § 58 2x
- 4 LB 12/17 1x (nicht zugeordnet)
- § 38 Abs. 1 AsylG 1x (nicht zugeordnet)
- 8 A 126/19 1x (nicht zugeordnet)
- 13 A 888/18 3x (nicht zugeordnet)
- 15 L 1100/19 1x (nicht zugeordnet)
- 2 BvR 1380/19 2x (nicht zugeordnet)
- § 35 AsylG 1x (nicht zugeordnet)
- 8 B 65/19 2x (nicht zugeordnet)
- 2 BvR 939/14 3x (nicht zugeordnet)
- JArbSchG § 2 Kind, Jugendlicher 1x
- VwVfG § 23 Amtssprache 1x
- Urteil vom Schleswig Holsteinisches Oberverwaltungsgericht (4. Senat) - 4 LB 27/17 1x
- 5 K 949/19 1x (nicht zugeordnet)
- 10 LB 201/18 1x (nicht zugeordnet)
- VwGO § 88 1x